8. Kapitel

Als sich 1570 in seinem achtunddreißigsten Jahr Michel de Montaigne in seinen Turm zurückzieht, glaubt er, seinem Leben einen endgültigen Abschluß gegeben zu haben. Er hat wie später Shakespeare mit einem allzu klaren Blick die Fragilität der Dinge erkannt, den »Übermut der Ämter, den Irrwitz der Politik, die Erniedrigung des Hofdienstes, die Langeweile des Magistratsdienstes«, und vor allem seine eigene Ungeeignetheit, in der Welt zu wirken. Er hat sich bemüht zu helfen, und man hat ihn nicht gewollt, er hat sich bemüht nicht sehr dringlich allerdings und immer mit dem Stolz eines Menschen, der sich selbst achtet –, die Mächtigen zu beraten, die Fanatiker zu beschwichtigen, aber man hat sich nicht bemüht um ihn. Von Jahr zu Jahr wird die Zeit unruhiger, das Land ist im Aufruhr, die Bartholomäusnacht erweckt neues Blutvergießen. Bis an sein Haus, bis an seine Tür wälzt sich der Bürgerkrieg. So hat er den Entschluß gefaßt, sich nicht mehr einmengen, nicht mehr erschüttern zu lassen. Er will die Welt nicht mehr sehen, er will nur wie in einer camera obscura in seiner Studierstube sich spiegeln lassen. Er hat abgedankt, er hat resigniert. Mögen die andern sich um Stellungen, um Einfluß, um Ruhm bemühen, er bemüht sich nur mehr um sich selbst. Er hat sich verschanzt in seinem Turm, er hat den Wall seiner tausend Bücher zwischen sich und den Lärm gestellt. Manchmal macht er noch einen Ausflug aus seinem Turm; er reist als Ritter des St.-Michael-Ordens zum Leichenbegängnis Karls IX., er übernimmt ab und zu, wenn man ihn darum ersucht, eine politische Vermittlung, aber ist entschlossen, mit der Seele nicht mehr teilzunehmen, die Aktualität zu überwinden, die Schlachten des Herzogs von Guise und Coligny so zu sehen wie jene von Platää. Er schafft sich eine künstliche Ferne der Optik, er ist entschlossen, nicht mehr mitzuleiden, unbeteiligt zu sein, seine Welt ist das Ich. Er will ein paar Erinnerungen aufzeichnen, ein paar Gedanken zusammenstellen, mehr träumen als leben und geduldig den Tod erwarten und sich vorbereiten auf ihn.

Er sagt sich dasselbe wie wir alle so oft in ähnlichen Zeiten des Irrwitzes: kümmere dich nicht um die Welt. Du kannst sie nicht ändern, sie nicht verbessern. Kümmere dich um dich, rette in dir, was zu retten ist. Baue auf, während die andern zerstören, versuche vernünftig zu sein für dich inmitten des Wahnsinns. Schließ dich ab. Bau dir eine eigene Welt.

Aber nun ist es 1580 geworden. Er ist zehn Jahre gesessen in seinem Turm, abgeschieden von der Welt, und hat geglaubt, daß es ein Ende sei. Aber nun erkennt er seinen Irrtum oder vielmehr seine Irrtümer, und Montaigne ist immer der Mann, sich einzugestehen, wenn er einen Irrtum begangen. Der erste Irrtum war, daß er glaubte, mit achtunddreißig Jahren alt zu sein, daß er sich zu früh auf den Tod vorbereitete und eigentlich lebendig in den Sarg gelegt. Nun ist er achtundvierzig und sieht erstaunt, die Sinne sind nicht trüber geworden, sondern eher heller, das Denken klarer, die Seele gleichgültiger, neugieriger, ungeduldiger. Man weiß nicht so früh zu verzichten, das Buch des Lebens zuzuschlagen, als wäre man schon beim letzten Blatt. Es war schön, Bücher zu lesen, eine Stunde mit Plato in Griechenland zu sein, eine Stunde von Senecas Weisheit zu hören, es war Rast und Beruhigung, mit diesen Gefährten aus anderen Jahrhunderten zu leben, mit den Besten der Welt. Aber man lebt in seinem eigenen Jahrhundert, auch wenn man nicht will, und die Luft der Zeit dringt auch in die verschlossenen Räume, besonders wenn sie erregte Luft ist, schwül und fiebrig und gewitterhaft. Wir erleben das alle, auch in Abgeschlossenheit kann die Seele nicht in Ruhe bleiben, wenn das Land in Aufruhr ist. Durch Turm und Fenster spüren wir die Schwingung der Zeit, man kann sich eine Pause gönnen, aber man kann sich ihr nicht ganz entziehen.

Und dann ein anderer Irrtum, den Montaigne allmählich erkannte: er hat die Freiheit gesucht, indem er sich aus der großen Welt, aus Politik und Amt und Geschäft zurückzog in seine kleine Welt von Haus und Familie, und ist bald gewahr geworden, daß er nur ein Gebundensein gegen ein anderes vertauscht. Es hat nichts geholfen, sich einzuwurzeln in eigenen Grund, da ist Efeu und Unkraut, das um den Stamm rankt, die kleinen Mäuse von Sorgen, die an den Wurzeln nagen. Es hat nichts geholfen der Turm, den er sich gebaut und den niemand betreten darf. Wenn er aus den Fenstern blickt, sieht er, daß Reif auf den Feldern liegt, und er denkt an den verdorbenen Wein. Wenn er die Bücher aufschlägt, hört er unten zankende Stimmen, und er weiß, wenn er aus seinem Zimmer tritt, wird er die Klagen hören über die Nachbarn, die Sorgen der Verwaltung. Es ist nicht die Einsamkeit des Anachoreten, denn er hat Besitz und Besitz ist nur für den, der an ihm Freude hat. Montaigne hängt nicht daran. »Geld aufhäufen ist ein schwieriges Geschäft, von dem ich nichts verstehe.« Aber der Besitz hängt an ihm, er gibt ihn nicht frei. Montaigne übersieht klar seine Situation. Er weiß, daß aus einer höheren Perspektive all diese Vexationen kleine Sorgen sind. Persönlich würde er es gern wegwerfen: »Es wäre für mich leicht, das alles aufzugeben.« Aber solange man sich damit beschäftigt, wird man es nicht los.

An und für sich ist Montaigne kein Diogenes. Er liebt sein Haus, er liebt seinen Reichtum, seinen Adel und gesteht, daß er eine kleine Geldkassette mit Gold zur inneren Sicherung immer mit sich führt. Er genießt seine Stellung als großer Herr. »Es ist, ich gestehe es, ein Vergnügen, etwas zu beherrschen, und wenn es auch nur eine Scheune ist, und unter dem eigenen Dach Gehorsam zu haben. Aber es ist ein langweiliges Vergnügen und durch eine Reihe von Vexationen verdorben.« Man hat Plato gelesen und muß sich herumzanken mit Dienstleuten, prozessieren mit den Nachbarn, jede kleine Reparatur wird zur Sorge. Weisheit würde nun gebieten, sich um alle diese Kleinigkeiten nicht zu kümmern. Aber – jeder von uns hat es erfahren – solange man Besitz hat, klebt man am Besitz oder er hängt an einem mit tausend kleinen Haken, und nur eines hilft: Distanz, die alle Dinge verändert. Nur äußere Distanz gibt die innere. »Kaum ich fort bin von meinem Hause, streife ich alle diese Gedanken von mir ab. Und wenn in meinem Haus ein Turm zusammenfällt, kümmere ich mich weniger darum als jetzt, wenn eine Schindel vom Dache fällt.« Wer auf einen kleinen Ort sich beschränkt, gerät in kleine Proportionen. Alles ist relativ. Immer sagt es Montaigne von neuem:

Was wir Sorgen nennen, das hat nicht sein eignes Gewicht. Wir sind es, die vergrößern oder verkleinern. Das Nahe bemüht uns mehr als das Ferne, und in je kleinere Verhältnisse wir uns begeben, um so mehr bedrückt uns das Kleinliche. Entfliehen kann man nicht. Aber man kann Urlaub nehmen.

Alle diese Gründe, die in seinem achtundvierzigsten Jahr nach der Zeit der Reclusion wieder in ihm eine »humeur vagabonde« erwecken, aus allen Gewohnheiten, aus allen Regelmäßigkeiten und Sicherheiten wieder in die Welt zurückzukehren, spricht Montaigne mit seinem herrlichen menschlichen Freimut aus und sagt wie immer gerade das deutlich, was jeder von uns gefühlt. Einen anderen Grund und einen nicht minder wichtigen für seine Flucht aus der Einsamkeit muß man eher zwischen den Zeilen lesen. Montaigne hat immer und überall die Freiheit und das Wandelbare gesucht, aber auch die Familie ist eine Einschränkung und die Ehe eine Monotonie, und man hat überdies das Gefühl, als ob er nicht restlos glücklich in seinem häuslichen Leben gewesen wäre. Die Ehe, so meint er, habe die Nützlichkeit für sich, die rechtlichen Bindungen, die Ehre, die Dauer – alles »langweilige und gleichförmige Vergnügungen«. Und Montaigne ist der Mann des Wandels, er hat weder die langweiligen noch die gleichförmigen Vergnügungen geliebt.

Daß seine Ehe keine Liebesheirat gewesen, sondern eine Verstandesehe, ja daß er solche Liebesheiraten eher verurteilt und eine »Verstandesehe« für die einzig richtige erklärt, hat er in unzähligen Varianten wiederholt, und daß er sich nur einer »habitude« gefügt hätte. Jahrhundertelang hat man es ihm gründlich übelgenommen, daß er in seiner unerschütterlichen Aufrichtigkeit den Frauen eher als den Männern das Recht zugesprochen, sich zur Abwechslung einen Geliebten zu halten, ja manche Biographen haben darum an der Vaterschaft seiner letzten Kinder gezweifelt.

All das mögen theoretische Anschauungen sein. Aber es klingt nach mehrjähriger Ehe doch sonderbar, wenn er sagt: »In unserem Jahrhundert pflegen die Frauen ihre Gefühle und guten Gesinnungen gegen ihren Gatten meist so lange zu verzögern, bis er tot ist. Unser Leben ist beladen mit Gezänk, und unser Tod wird von Liebe und Fürsorge umgeben.« Er fügt sogar die mörderischen Worte hinzu, es gebe wenige Ehefrauen, die nicht im Witwenstand »gesünder werden, und Gesundheit ist eine Eigenschaft, die nicht lügen kann«. Sokrates könnte nach seinen Erfahrungen mit Xanthippe nicht unerfreulicher über die Ehe sprechen. »Daher sollst du ihren vertränten Augen keine Beachtung schenken«, und man glaubt ihn zu seiner eignen Frau sprechen zu hören, wenn er Abschied nimmt: »Eine Frau sollte ihre Blicke nicht so gierig auf die Stirn ihres Mannes heften, daß sie es nicht ertragen kann, ihn den Rücken kehren zu sehen, wenn er das nötig hat.« Wenn er einmal von einer guten Ehe spricht, so fügt er gleich die Einschränkung bei: »falls es solche gibt.«

Man sieht, die zehn Jahre Einsamkeit waren gut, aber sie sind nun genug und zuviel. Er spürt, daß er erstarrt, daß er klein und eng wird, und wenn jemand, so hat sich Montaigne sein Leben lang gegen das Erstarren gewehrt. Mit dem Instinkt, der einem schöpferischen Menschen immer sagt, wann es Zeit für ihn ist, sein Leben zu ändern, erkennt er den richtigen Augenblick. »Die beste Zeit, dein Haus zu verlassen, ist, wenn du es in Ordnung gebracht hast, so daß es auch ohne dich sehr gut bestehen kann.«

Er hat sein Haus in Ordnung gebracht, Feld und Gut ist in bester Verfassung, die Kasse so wohl gefüllt, daß er die Kosten für eine lange Reise sich wohl leisten kann, die er nur darum fürchtet, weil man, wie er meint, die Vergnügungen einer langen Abwesenheit nicht mit Sorgen bei der Rückkehr bezahlen soll. Auch das andere, das geistige Werk ist in Ordnung gebracht. Er hat das Manuskript seiner »Essais« zum Drucker gebracht und die beiden Bände, diese Kristallisation seines Lebens, sind ausgedruckt, ein Zyklus ist zu Ende, sie liegen hinter ihm, um Goethes Lieblingswort zu gebrauchen, wie eine abgestoßene Schlangenhaut. Jetzt ist es Zeit, wieder neu zu beginnen. Er hat ausgeatmet, nun gilt es wieder einzuatmen. Er hat sich eingewurzelt, nun gilt es, wieder sich zu entwurzeln. Ein neuer Abschnitt beginnt. Am 22. Juni 1580 macht sich nach zehnjähriger freiwilliger Abgeschlossenheit – Montaigne hat nie etwas anders als mit freiem Willen getan – der Achtundvierzigjährige auf eine Reise, die ihn fast zwei Jahre von Frau und Turm und Heimat und Arbeit, von allem, nur nicht von sich selbst entfernt.

Es ist eine Reise ins Blaue, eine Reise um des Reisens oder besser gesagt um der Lust des Reisens willen. Bisher waren seine Reisen bis zu einem gewissen Grade immer Pflichtreisen gewesen, im Auftrag des Parlaments, aus höfischen, aus geschäftlichen Rücksichten. Es waren eher Exkursionen – diesmal ist es eine richtige Reise, die kein anderes Ziel hat als sein ewiges: sich selbst zu finden. Er hat keinen Vorsatz, er weiß nicht, was er sehen wird, im Gegenteil: er will es gar nicht im voraus wissen, und wenn Leute ihn nach seinem Ziele fragen, so antwortet er heiter: Ich weiß nicht, wonach ich ausschaue in der Fremde, aber ich weiß jedenfalls sehr gut, wovor ich flüchte.

Er war lange genug im Gleichen, nun will er das Andere, und je mehr anders es ist, um so besser! Die alles bei sich zu Hause herrlich finden, mögen glücklicher sein in dieser eitlen Beschränkung; er beneidet sie nicht. Nur der Wechsel lockt ihn, nur von ihm verspricht er sich Gewinn. Nichts reizt ihn gerade an dieser Reise so sehr, als daß alles anders sein wird, die Sprache und der Himmel und die Gewohnheiten und die Menschen, der Luftdruck und die Küchen, die Straßen und das Bett. Denn sehen heißt für ihn lernen, vergleichen, besser verstehen: »Ich kenne keine bessere Schule im Leben als sich anderen Lebensgewohnheiten auszusetzen«, die einem die unendliche Vielfalt der menschlichen Natur aufzeigen.

Ein neues Kapitel beginnt für ihn. Aus Lebenskunst wird Reisekunst als Kunst des Lebens.

Um sich frei zu machen, reist Montaigne, und während der ganzen Reise gibt er ein Beispiel der Freiheit. Er reist, wenn man so sagen darf, seiner Nase nach. Er vermeidet auf der Reise alles, was an eine Verpflichtung erinnert, selbst eine Verpflichtung gegen sich selbst. Er macht keinen Plan. Die Straße soll ihn führen, wohin sie ihn führt, die Stimmung treiben, wohin sie ihn treibt. Er will sich, wenn man so sagen darf, reisen lassen statt zu reisen. Herr Michel de Montaigne will in Bordeaux nicht wissen, wo der Herr Michel de Montaigne in Paris oder in Augsburg in der nächsten Woche wird sein wollen. Das soll der andere Montaigne, der Montaigne in Augsburg oder in Paris in Freiheit bestimmen. Er will gegen sich selbst frei bleiben.

Er will nur sich bewegen. Wenn er glaubt, etwas versäumt zu haben, so geht er den Weg zurück. Ungebundenheit wird ihm allmählich zu einer Leidenschaft. Sogar schon auf dem Wege zu wissen, wohin der Weg führt, gibt ihm manchmal eine leise Bedrückung. »Ich fand solchen Genuß am Reisen, daß schon die bloße Annäherung an einen Ort, wo ich geplant hatte zu bleiben, mir verhaßt war, und ich dachte verschiedene Möglichkeiten aus, wie ich ganz allein, nach eignem Willen und eigner Bequemlichkeit, reisen könnte.«

Er sucht keine Sehenswürdigkeiten, weil ihm alles sehenswürdig scheint, was anders ist. Im Gegenteil, wenn ein Platz sehr berühmt ist, so möchte er ihm am liebsten ausweichen, weil ihn schon zuviele andere gesehen und beschrieben haben. Rom, das Ziel aller Welt, ist ihm im Vorgefühl fast unangenehm, weil es das Ziel aller Welt ist, und sein Sekretär notiert in das Tagebuch: »Ich glaube, daß er in Wirklichkeit, wenn er ganz für sich gewesen wäre, lieber bis nach Krakau oder auf dem Landweg nach Griechenland gereist wäre, als die Tour durch Italien zu machen.« Immer ist es Montaignes Grundsatz: je mehr anders, desto besser, und selbst wenn er nicht das findet, was er erwartet hat oder andere ihn erwarten ließen, ist er nicht unzufrieden. »Wenn ich nicht finde, was man mich an irgendeinem Orte erwarten ließ – denn die meisten Berichte, wie ich finde, sind falsch –, klage ich nicht darüber, meine Mühe verloren zu haben, denn ich habe wenigstens gelernt, daß dies oder jenes nicht wahr gewesen ist.« Als den richtigen Reisenden kann ihn nichts enttäuschen. Wie Goethe sagt er sich: Verdruß ist auch ein Teil des Lebens. »Gewohnheiten fremder Länder machen mir durch ihre Verschiedenheit nur Vergnügen. Ich finde, jede Sitte ist richtig in ihrer eigenen Art. Ob mir serviert wird auf Zinn, hölzernen oder irdenen Tellern, ob mein Fleisch gekocht oder gebraten ist, heiß oder kalt, ob man mir Butter oder Öl, Nüsse oder Oliven gibt, ist mir ganz einerlei.« Und der alte Relativist schämt sich für seine Landsleute, die in dem Wahn befangen sind, sie müßten sich mit jeder Gewohnheit, die ihnen widerspricht, auseinandersetzen, und sobald sie aus ihrem Dorf heraus sind, aus ihrem eigenen Element sind. Montaigne will in der Fremde das Fremde sehen – »Ich suche keine Gascogner in Sizilien, ich sehe zu Hause genug von ihnen« –, und so will er den Landsleuten ausweichen, die er zur Genüge kennt. Er will sein Urteil haben und kein Vorurteil. Wie so viele Dinge lernt man bei Montaigne auch, wie man reisen soll.

Mit einer letzten Sorge – man spürt es aus der Antwort, die er gibt – sucht man anscheinend zu Hause den ungestümen Reisenden noch zurückzuhalten. »Was ist mit dir, wenn du krank wirst in der Fremde«, fragte man ihn. In der Tat, Montaigne ist seit drei Jahren dem Leiden, das alle Gelehrten jener Zeit befällt, anscheinend infolge sitzender Lebensweise und unkluger Kost, verfallen. Wie Erasmus, wie Calvin quälen ihn die Gallensteine und es scheint eine harte Zumutung, zu Pferd monatelang auf fremden Straßen herumzutraben. Aber Montaigne, der auszieht nicht nur, um seine Freiheit, sondern möglichst auch seine Gesundheit auf dieser Reise wiederzufinden, schüttelt gleichgültig die Achseln: »Wenn es zur Rechten übel aussieht, wende ich mich zur Linken, wenn ich mich nicht wohl genug fühle, zu Pferde zu steigen, dann halte ich eben an. Habe ich etwas vergessen, dann kehre ich zurück – es ist immer noch mein Weg.«

Und ebenso hat er eine Antwort auf die Sorge, daß er in der Fremde sterben könnte: wenn er sich davor fürchten sollte, so könnte er sich eigentlich kaum aus seinem Pfarrbezirk Montaigne herauswagen, geschweige denn über die Grenzen Frankreichs. Der Tod ist überall, und er würde ihm im Grunde lieber zu Pferde begegnen als im Bett.

Als dem rechten Kosmopoliten ist es ihm gleichgültig.

Am 22. Juni 1580 reist Michel de Montaigne aus dem Tor seines Schlosses in die Freiheit. Ihn begleiten sein Schwager, einige Freunde und ein zwanzigjähriger Bruder. Die Wahl ist nicht ganz glücklich: Gefährten, die er selber späterhin nicht ganz für die richtigen erklärt und die ihrerseits wieder unter der sonderbaren, eigenwilligen, persönlichen Art Montaignes, »de visiter les pays inconnus«, nicht wenig leiden. Es ist nicht die Ausfahrt eines Grandseigneurs, aber immerhin ein stattlicher Train. Das Wichtigste ist, daß er kein Vorurteil, keine Hochmütigkeit, keine festgefaßten Anschauungen mitnimmt.

Der Weg geht zunächst nach Paris, der Stadt, die Montaigne von jeher liebt und die ihn immer wieder von neuem entzückt.

Einige Exemplare seines Buches sind ihm schon vorausgereist, aber zwei Bände bringt er persönlich mit, um sie dem König zu überreichen. Heinrich III. hat eigentlich nicht viel Sinn dafür; er steht wie gewöhnlich im Kriege. Aber da alle Welt am Hof das Buch liest und davon entzückt ist, liest er es auch und lädt Montaigne ein der Belagerung von La Fère beizuwohnen. Montaigne, den alles interessiert, sieht nach Jahren wieder den wirklichen Krieg und zugleich auch sein Grauen, denn einer seiner Freunde, Philibert de Gramont, wird dort von einer Kugel getötet. Er begleitet seine Leiche nach Soissons und beginnt am 5. September 1580 das merkwürdige Tagebuch. In sonderbarer Analogie zu Goethe hatte so wie dort der dürre Kaufmann hier der Soldat des Königs François I., der Vater Montaignes, ein Tagebuch begonnen und aus Italien mitgebracht, und so wie der Sohn des Rats Goethe setzt der Sohn Pierre Eyquems als Michel de Montaigne die Tradition fort. Sein Sekretär zeichnet alle Geschehnisse auf, bis Rom, wo ihm Montaigne Urlaub gibt. Dort setzt er es selbst fort und gemäß seinem Willen, sich an das Land möglichst anzupassen, in einem ziemlich barbarischen Italienisch bis zu dem Tage, da er die französische Grenze wieder überschreitet: »Hier spricht man französisch, und so gebe ich nun diese fremde Sprache auf«, so daß wir die Reise von Anfang bis Ende verfolgen können.

Der erste Besuch geht nach den Bädern von Plombières, wo Montaigne in einer zehntägigen Gewaltkur sein Leiden zu heilen sucht, dann über Basel, Schaffhausen, Konstanz, Augsburg, München und Tirol nach Verona, Vicenza, Padua und Venedig, von dort über Ferrara, Bologna, Florenz nach Rom, wo er am 15. November eintrifft. Die Reisebeschreibung ist kein Kunstwerk, um so mehr, als sie nur zum kleinsten Teil von Montaigne und nicht in seiner Sprache geschrieben ist. Sie zeigt nicht den Künstler in Montaigne, aber sie zeigt uns den Menschen mit all seinen Eigenschaften und sogar seinen kleinen Schwächen; ein rührender Zug seine Parvenu-Eitelkeit, daß er, der Enkel von Fischhändlern und jüdischen Kaufleuten, den Wirtinnen als besonders kostbare Abschiedsgabe sein schön gemaltes Wappen schenkt. Es ist immer ein Vergnügen – wer hat es besser gekannt als Montaigne –, einen gescheiten Menschen in seinen Torheiten, einen freien Mann, der alle Äußerlichkeiten verachtet, in seinen Eitelkeiten zu sehen.

Im Anfang geht alles ausgezeichnet. Montaigne ist bester Laune und die Neugier überwindet seine Krankheit. Der Achtundvierzigjährige, der immer über seine »vieillesse« spottet, übertrifft die jungen Leute an Ausdauer. Frühmorgens im Sattel, gerade nur ein Stück Brot zu sich genommen, reitet er, und alles ist ihm recht, die Sänfte, das Brot, der Wagen, der Sattel, zu Fuß. Die schlechten Wirtshäuser belustigen ihn mehr, als sie ihn ärgern. Seine Hauptfreude ist es, Menschen zu sehen, überall andere Menschen und andere Sitten. Überall sucht er Leute auf, und zwar Leute aus allen Klassen. Von jedem sucht er zu erfahren, was sein »gibier« – wir würden sagen, sein »hobby« – ist. Da er den Menschen sucht, kennt er keine Stände, speist in Ferrara mit dem Herzog, plaudert mit dem Papst und ebenso mit protestantischen Pfarrern, Zwinglianern, Calvinisten. Seine Sehenswürdigkeiten sind nicht die man im Baedeker findet. Von den Raffaels und Michelangelos und den Bauten ist wenig gesagt. Aber er wohnt der Hinrichtung eines Verbrechers bei, er läßt sich von einer jüdischen Familie zu einer Beschneidung einladen, besucht Bibliotheken, er betritt die bagni von Lucca und bittet die Bäuerinnen zu einem Ball, er plaudert mit jedem lazzarone. Aber er läuft sich nicht die Füße ab nach jedem anerkannten Kuriosum. Für ihn ist alles Kuriosität, was natürlich ist. Er hat den großen Vorteil gegenüber Goethe, nicht Winckelmann zu kennen, der allen Reisenden seines Jahrhunderts Italien als kunstgeschichtliches Studium aufnötigt. Er sieht die Schweiz und Italien als Lebendigkeiten. Alles ist für ihn auf einer Linie, was Leben ist. Er wohnt der Messe des Papstes bei, er wird von ihm empfangen, er hat lange Gespräche mit den geistigen Würdenträgern, die ihm respektvolle Vorschläge machen für die nächste Auflage seines Buches und den großen Skeptiker nur bitten, das Wort »fortune«, das er allzu häufig verwendet, beiseite zu lassen und durch »Gott« oder »göttliche Schickung« zu ersetzen. Er läßt sich feiern und feierlich zum römischen Bürger ernennen, ja er bemüht sich sogar darum, stolz auf diese Ehre (die Parvenu-Elemente in dem freiesten Menschen). Aber das hindert ihn nicht, offen zuzugestehen, daß beinahe sein Hauptinteresse in Rom wie schon vordem in Venedig den Courtisanen gilt, deren Sitten und Sonderbarkeiten er mehr Raum in seinem Tagebuch gibt als der Sixtina und dem Dom von Florenz. Eine Art neuer Jugend ist in ihn zurückgekehrt und sie sucht ihren natürlichen Weg. Einiges Geld aus der Kasse mit den Goldstücken, die er mit sich führt, scheint er bei ihnen gelassen zu haben, zum Teil für Konversation, die sich diese Damen, wie er schildert, oft höher bezahlen lassen als ihre anderen Dienste.

Die letzte Zeit der Reise ist ihm verdorben durch seine Krankheit. Er macht eine Kur, in den Bädern von Lucca, und zwar eine barbarische. Sein Haß gegen die Doktoren führt ihn dazu, sich selbst Kuren zu erfinden; frei wie von allem, will er auch sein eigner Arzt sein. Es sind sehr ernste Zustände, die ihn heimsuchen, qualvolle Zahn- und Kopfschmerzen treten noch zu den anderen Leiden hinzu. Einen Augenblick denkt er sogar an Selbstmord. Und mitten in diese Kur kommt eine Nachricht, von der zu bezweifeln ist, ob sie ihn erfreut. Die Bürger von Bordeaux haben ihn zu ihrem Maire ernannt. Man wundert sich über diese Ernennung, denn schon vor elf Jahren hatte Montaigne seine Ämter als bloßer Ratsherr niedergelegt. Es ist der junge Ruhm seines Buches, der die Bürger von Bordeaux ohne sein Wissen und Zutun veranlaßt hat, ihm eine solche Stellung aufzunötigen, und es ist vielleicht die Familie, die versucht, ihn mit dieser Lockung zurückzuholen. Jedenfalls kehrt er nach Rom und von Rom zu Frau und Haus zurück und langt am 30. November 1581, nach einer Abwesenheit von siebzehn Monaten und acht Tagen, wie er genau notiert, in seinem Schlosse wieder an, eher jünger, geistig frischer und lebendiger, als er je gewesen. Zwei Jahre später wird sein jüngstes Kind geboren.

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