24.

Ich habe bis jetzt von Rußland geschwiegen; mit Absicht, denn hier trennen sich nicht zwei Völker, sondern zwei Welten. Die Russen [1] sind überhaupt kein Volk wie das deutsche und englische, sie enthalten die Möglichkeit vieler Völker der Zukunft in sich wie die Germanen der Karolingerzeit. Das Russentum ist das Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über dem Westen länger und länger werden. Die Scheidung zwischen russischem und abendländischem Geist kann nicht scharf genug vollzogen werden. Mag der seelische und also der religiöse, politische, wirtschaftliche Gegensatz zwischen Engländern, Deutschen, Amerikanern, Franzosen noch so tief sein, im Vergleich zum Russentum rücken sie sofort zu einer geschlossenen Welt zusammen. Wir lassen uns durch manche westlich gefärbte Bewohner russischer Städte täuschen. Der echte Russe ist uns innerlich so fremd wie ein Römer der Königszeit oder ein Chinese lange vor Konfuzius, wenn sie plötzlich unter uns erschienen. Er selbst hat das immer gewußt, wenn er zwischen dem »Mütterchen Rußland« und »Europa« eine Grenze zog.

Für uns ist die russische Urseele, hinter Schmutz, Musik, Branntwein, Demut und seltsamer Trauer, etwas Unergründliches. Unsre Urteile, die von späten, städtischen und geistig zur Höhe gereiften Menschen einer ganz anders gearteten Kultur, sind von uns aus geformt. Was wir da »erkennen«, ist nicht diese eben erst aufdämmernde Seele, von der selbst Dostojewski nur in hilflosen Lauten redet, sondern unser geistiges Bild von ihr, das vom Oberflächenbilde russischen Lebens und russischer Geschichte bestimmt und durch unsre aus eigner innerer Erfahrung geschöpften Beziehungsworte wie Wille, Vernunft, Gemüt gefälscht ist. Dennoch ist einigen ein kaum in Worte zu fassender Eindruck von ihr vielleicht möglich, der wenigstens über die unermeßliche Kluft keinen Zweifel läßt, die zwischen ihr und uns liegt.

Dies kindlich dumpfe und ahnungschwere Russentum ist nun von »Europa« aus durch die aufgezwungenen Formen einer bereits männlich vollendeten, fremden und herrischen Kultur gequält, verstört, verwundet, vergiftet worden. Städte von unsrer Art, mit dem Anspruch unsrer geistigen Haltung wurden in das Fleisch dieses Volkstums gebohrt, überreife Denkweisen, Lebensansichten, Staatsideen, Wissenschaften dem unentwickelten Bewußtsein eingeimpft. Um 1700 drängt Peter der Große dem Volk den politischen Barockstil mit Kabinettsdiplomatie, Hausmachtpolitik, Verwaltung und Heer nach westlichem Muster auf; um 1800 kommen die diesen Menschen ganz unverständlichen englischen Ideen in der Fassung französischer Schriftsteller herüber, um die Köpfe der dünnen Oberschicht zu verwirren; noch vor 1900 führen die Büchernarren der russischen Intelligenz den Marxismus, ein äußerst kompliziertes Produkt westeuropäischer Dialektik ein, von dessen Hintergründen sie nicht den geringsten Begriff haben. Peter der Große hat das echt russische Zarentum zu einer Großmacht im westlichen Staatensystem umgeformt und damit seine natürliche Entwicklung verdorben, und die Intelligenz, selbst ein Stück des in diesen fremdartigen Städten verdorbenen echt russischen Geistes, verzerrte das primitive Denken des Landes mit seiner dunklen Sehnsucht nach eignen, in ferner Zukunft liegenden Gestaltungen wie dem Gemeinbesitz von Grund und Boden des »Mütterchen Rußland« zu kindischen und leeren Theorien im Geschmack französischer Berufsrevolutionäre. Petrinismus und Bolschewismus haben gleich sinnlos und verhängnisvoll mißverstandene Schöpfungen des Westens, wie den Hof von Versailles und die Kommune von Paris, dank der unendlichen russischen Demut und Opferfreude in starke Wirklichkeiten umgesetzt. Dennoch haften ihre Einrichtungen an der Oberfläche russischen Seins und die eine wie die andre ist der beständigen Möglichkeit plötzlichen Verschwindens und ebenso plötzlicher Wiederkehr ausgesetzt. Das Russentum selbst hat bis jetzt nur religiöse Erlebnisse gehabt, keine wirklich sozialen und politischen. Man verkennt Dostojewski, einen Heiligen in der vom Westen her erzwungenen widersinnigen und lächerlichen Gestalt eines Romanschriftstellers, wenn man seine sozialen »Probleme« anders auffaßt als seine Romanform. Sein Wirklichstes steht mehr zwischen als in den Zeilen und steigert sich in den Brüdern Karamasow zu einer religiösen Tiefe, neben der nur Dante genannt werden darf. Die revolutionäre Politik aber stammt lediglich von einer kleinen, nicht mehr sicher russisch empfindenden und auch der Abkunft nach kaum russischen Schicht der großen Städte und bewegt sich deshalb in den Formen von doktrinärem Zwang einerseits und instinktiver Abwehr anderseits.

Und daher jener furchtbare, tiefe, urrussische Haß gegen den Westen, das Gift im eignen Leibe, der aus dem innerlichen Leiden Dostojewskis und den lauten Ausbrüchen Tolstois in derselben Stärke spricht wie aus dem wortlosen Empfinden des kleinen Mannes; der oft unbewußte, oft hinter einer aufrichtigen Liebe verborgene unstillbare Haß gegen alle Symbole faustischen Willens, gegen die Städte, Petersburg voran, die sich als Stützpunkte dieses Willens in das Bauerntum dieser endlosen Ebenen genistet haben, gegen Wissenschaften und Künste, das Denken, das Fühlen, den Staat, das Recht, die Verwaltung, gegen Geld, Industrie, Bildung, Gesellschaft, gegen alles. Es ist der Urhaß der Apokalypse gegen die antike Kultur, und etwas von der finsteren Erbitterung der Makkabäerzeit und viel später noch jenes Aufstandes, der zur Zerstörung von Jerusalem führte, liegt sicherlich allem Bolschewismus zugrunde. Seine doktrinären Konstruktionen würden die Wucht nicht erzeugt haben, mit welcher die Bewegung heute noch fortdauert. Er selbst wird von den Instinkten des unterirdischen Rußland gegen den Westen gedrängt, der sich zunächst in dem Petrinismus darstellte, und er wird zuletzt, als Erzeugnis dieses Petrinismus, auch noch vernichtet werden, um die innere Befreiung von »Europa« zu vollenden.

Der westliche Proletarier will die Zivilisation des Westens in seinem Sinne umgestalten, der russische Intelligent will sie, meist gegen sein Wissen, das dünn auf der Oberfläche seiner Instinkte schwimmt, vernichten. Das ist der Sinn des östlichen Nihilismus.

Unsre Zivilisation ist längst eine rein städtische geworden; dort aber gibt es keine »Masse«, sondern nur »Volk«. Der echte Russe ist ohne Unterschied Bauer, auch als Gelehrter, auch als Beamter. Diese nachgemachten Städte mit ihrer nachgemachten Masse und Massenideologie berühren sein Interesse nicht. Trotz alles Marxismus gibt es nur eine Landfrage. Der »Arbeiter« ist ein Mißverständnis. Das unberührte, unzerstörte Land ist wie bei den Germanen der Karolingerzeit die einzige Wirklichkeit. Diese Stufe haben wir vor einem Jahrtausend durchlebt. Wir verstehen einander nicht. Wir Westeuropäer können gar nicht mehr in Verbundenheit mit dem Urboden leben. Wenn wir aufs Land gehen, so tragen wir die Stadt mit uns samt allen ihren seelischen Bedingungen und zwar im Blute, nicht wie der russische Intelligent nur im Kopfe. Der Russe aber trägt innerlich sein Dorf in diese russischen Städte. Man muß immer wieder die russische Seele vom russischen System unterscheiden, das Bewußtsein der Führer von den Instinkten der Geführten, um den unüberbrückbaren Abstand zwischen östlichem und westlichem »Sozialismus« nicht zu verkennen. Was ist der Panslawismus anders als eine westlich-politische Maske für das Gefühl einer großen religiösen Mission? Der russische Arbeiter ist trotz aller Industrieschlagworte von Mehrwert und Expropriation kein Großstadtarbeiter, kein Massenmensch wie der in Manchester, Essen und Pittsburg, sondern ein entlaufener Pflüger und Mäher mit einem Haß gegen die fremde ferne Macht, die ihn für seinen Beruf, von dem die Seele sich doch nicht lösen kann, verdorben hat. Es ist ganz gleichgültig, mit was für Anschauungen der Bolschewismus arbeitet. Wenn in seinen Programmen von allem das Gegenteil stünde, würde seine unbewußte Mission für das erwachende Rußland doch dieselbe sein: der Nihilismus.

Aber die geistige Hefe unsrer Städte begeistert sich dafür. Er ist eine Mode müßiger und zerrütteter Gehirne geworden, eine Waffe verrottender Weltstadtseelen, ein Ausdruck faulen Blutes. Der Salonspartakismus gehört mit Theosophie und Okkultismus zusammen: er bedeutet uns das, was der Isiskult nicht für die orientalischen Sklaven Roms, sondern für entartende Römer selbst war. Daß er in Berlin eingezogen ist, hängt mit der ungeheuren Lüge dieser Revolution zusammen, in der nichts Echtes mehr war. Daß öde Narren hier Bauernräte gründeten, um die Formeln der Sowjets nachzuäffen, daß man nicht merkte, wie dort die Landfrage, hier die Stadtfrage das Problem war, bedeutet wenig. In Deutschland hat der Spartakismus dem Sozialismus gegenüber keine Zukunft. Aber der Bolschewismus wird sich Paris erobern und dort in Verschmelzung mit dem anarchischen Syndikalismus die müde, sensationsbedürftige französische Seele befriedigen. Er wird die Form sein, in welcher das taedium vitae dieser lebenssatten Riesenstadt sich ausdrückt. Er hat als gefährliches Gift für raffinierte Geister im Westen eine größere Zukunft als im Osten.

In Rußland wird ihn die einzig mögliche Form für ein Volkstum unter diesen Bedingungen, ein neuer Zarismus irgendwelcher Gestalt ablösen, und daß dieser den preußisch-sozialistischen Formen näher stehen wird als den parlamentarisch-kapitalistischen, läßt sich vermuten. Die Zukunft des unterirdischen Rußland aber liegt nicht in der Lösung politischer oder sozialer Verlegenheiten, sondern in der sich vorbereitenden Geburt einer neuen Religion, der dritten aus den reichen Möglichkeiten des Christentums, so wie die germanisch-abendländische Kultur um das Jahr 1000 mit der unbewußten Schöpfung der zweiten begann. Dostojewski ist einer der voraufgehenden Verkünder dieses noch namenlosen, aber heute schon mit einer stillen, unendlich zarten Gewalt eindringenden Glaubens.

Wir Menschen des Westens sind religiös fertig. In unsren Stadtseelen hat die frühe Religiosität sich längst zu »Problemen« intellektualisiert. Die Kirche ist mit dem Tridentinum vollendet. Aus dem Puritanismus ist der Kapitalismus, aus dem Pietismus der Sozialismus geworden. Die angloamerikanischen Sekten repräsentieren nur das Bedürfnis nervöser Geschäftsmenschen nach einer Beschäftigung des Gemüts mit theologischen Fragen. Nichts kann jämmerlicher sein als die Versuche eines gewissen Protestantismus, seinen Leichnam mit bolschewistischem Kot wieder lebendig zu reiben. Anderswo ist dasselbe mit Okkultismus und Theosophie versucht worden. Und nichts ist trügerischer als die Hoffnung, die russische Religion der Zukunft werde die westliche befruchten. Darüber sollte heute schon kein Zweifel bestehen: der russische Nihilismus richtet sich mit seinem Haß gegen Staat, Wissen, Kunst auch gegen Rom und Wittenberg, deren Geist sich in allen Formen westlicher Kultur ausgesprochen hat und in ihnen getroffen werden soll. Das Russentum wird diese Entwicklung beiseite schieben und über Byzanz wieder unmittelbar an Jerusalem anknüpfen.

Damit aber ist noch einmal gesagt, wie bedeutungslos der Bolschewismus, diese blutige Karikatur westlicher Probleme, die ihrerseits einst aus westlicher Religiosität hervorgegangen sind, für die große Weltfrage ist, die der Westen heute zur Entscheidung stellt und die nur für das Oberflächenrußland mit gestellt ist: die Wahl zwischen preußischer oder englischer Idee, Sozialismus oder Kapitalismus, Staat oder Parlament.


Ich fasse zusammen. Was in diesen kurzen Ausführungen zur Sprache gekommen ist, sollte demjenigen Teil unsres Volkes, der durch Tatkraft, Selbstzucht und geistige Überlegenheit zur Führung der nächsten Generation berufen ist, ein Bild der Zeit geben, in der wir stehen, und der Richtung, in welche unsre Bestimmung uns weist.

Wir wissen jetzt, was auf dem Spiele steht: nicht das deutsche Schicksal allein, sondern das Schicksal dar gesamten Zivilisation. Es ist die entscheidende Frage nicht nur für Deutschland, sondern für die Welt, und sie muß in Deutschland für die Welt gelöst werden: soll in Zukunft der Handel den Staat oder der Staat den Handel regieren?

Ihr gegenüber sind Preußentum und Sozialismus dasselbe. Bis jetzt haben wir das nicht eingesehen. Wir sehen es auch heute noch nicht. Die Lehre von Marx und die Klassenselbstsucht haben es verschuldet, daß beide, die sozialistische Arbeiterschaft und das konservative Element, sich wechselseitig und damit den Sozialismus mißverstanden haben.

Heute aber ist die Gleichheit des Ziels nicht länger zu verkennen. Preußentum und Sozialismus stehen gemeinsam gegen das innere England, gegen die Weltanschauung, welche unser ganzes Leben als Volk durchdringt, lähmt und entseelt. Die Gefahr ist ungeheuer. Wehe denen, die in dieser Stunde aus Eigennutz und Unverstand fehlen! Sie werden andre und sich selbst verderben. Die Vereinigung bedeutet die Erfüllung des Hohenzollerngedankens und zugleich die Erlösung der Arbeiterschaft. Es gibt eine Rettung nur für beide oder keinen.

Die Arbeiterschaft muß sich von den Illusionen des Marxismus befreien. Marx ist tot. Der Sozialismus als Daseinsform steht an seinem Anfang, der Sozialismus als Sonderbewegung des deutschen Proletariats aber ist zu Ende. Es gibt für den Arbeiter nur den preußischen Sozialismus oder nichts.

Die Konservativen müssen sich von der Selbstsucht befreien, um deren willen schon der Große Kurfürst dem Hauptmann v. Kalckstein den Kopf vor die Füße legte. Demokratie, mag man sie schätzen wie man will, ist die Form dieses Jahrhunderts, die sich durchsetzen wird. Es gibt für den Staat nur Demokratisierung oder nichts. Es gibt für die Konservativen nur bewußten Sozialismus oder Vernichtung. Aber wir brauchen die Befreiung von den Formen der englisch-französischen Demokratie. Wir haben eine eigne.

Der Sinn des Sozialismus ist, daß nicht der Gegensatz von reich und arm, sondern der Rang, den Leistung und Fähigkeit geben, das Leben beherrscht. Das ist unsre Freiheit, Freiheit von der wirtschaftlichen Willkür des einzelnen.

Was ich erhoffe, ist, daß niemand in der Tiefe bleibt, der durch seine Fähigkeiten zum Befehlen geboren ist, daß niemand befiehlt, der durch seine Begabung nicht dazu berufen war. Sozialismus bedeutet Können, nicht Wollen. Nicht der Rang der Absichten, sondern der Rang der Leistungen ist entscheidend. Ich wende mich an die Jugend. Ich rufe alle die auf, die Mark in den Knochen und Blut in den Adern haben. Erzieht euch selbst! Werdet Männer! Wir brauchen keine Ideologen mehr, kein Gerede von Bildung und Weltbürgertum und geistiger Mission der Deutschen. Wir brauchen Härte, wir brauchen eine tapfre Skepsis, wir brauchen eine Klasse von sozialistischen Herrennaturen. Noch einmal: der Sozialismus bedeutet Macht, Macht und immer wieder Macht. Pläne und Gedanken sind nichts ohne Macht. Der Weg zur Macht ist vorgezeichnet: der wertvolle Teil der deutschen Arbeiterschaft in Verbindung mit den besten Trägern des altpreußischen Staatsgefühls, beide entschlossen zur Gründung eines streng sozialistischen Staates, zu einer Demokratisierung im preußischen Sinne, beide zusammengeschmiedet durch eine Einheit des Pflichtgefühls, durch das Bewußtsein, einer großen Aufgabe, durch den Willen, zu gehorchen, um zu herrschen, zu sterben, um zu siegen, durch die Kraft, ungeheure Opfer zu bringen, um das durchzusetzen, wozu wir geboren sind, was wir sind, was ohne uns nicht da sein würde.

Wir sind Sozialisten. Wir wollen es nicht umsonst gewesen sein.

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Anmerkungen:
  1. Näheres wird der Untergang des Abendlandes, Band II, enthalten.
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