IV.
Je inniger ihre Seelen sich vereinten, desto tiefer empfand Varnhagen den Verlust jedes Tages, an dem er von Rahel getrennt war, deren sprudelnde Spontanität im Zusammenleben keine Briefe ersetzen konnten.
Endlich kam die Zeit, wo sie – nach Rahels Worten – ihre Liebe »auf dem bürgerlichen Ambos« bereiten konnten, was ja die Bedingung dafür war, daß »die Bürgersleute sie passieren ließen«. Varnhagen fand es geradeso wie Rahel erbärmlich, daß man »für das Verschiedenartigste in dieser Armenanstalt nur diese Form hat«. Beide unterwarfen sich der Form unter dem Vorbehalt, es zu »ignorieren«, daß sie verheiratet waren. Rahel betont vor wie nach der Heirat, daß wenn Varnhagen ihr »namenloses Freiheitsstreben« nicht verstanden, wenn sie mit ihm nicht in allem hätte wahr sein können, wenn er nicht ganz wie sie über die Unvernunft der Ehe gedacht hätte, sie ihn niemals geheiratet haben würde.
Sie wurden in größter Stille am 27. September 1814 getraut, um sich – infolge einer Berufung Varnhagens – bald wieder zu trennen. Ihre fünf ersten Ehejahre wurden teils in Wien, teils in Karlsruhe und anderswo verbracht, ein unruhiges Leben, während dessen Rahel sich immer mehr danach sehnte, nach Berlin zurückzukommen. Erst im Oktober 1819 wurde dies möglich; aber von dieser Zeit an bis zu ihrem Tode war sie nur ganz kurze Zeit von dem Orte entfernt, den sie liebte, weil sie dort soviel gelitten, geliebt und empfunden hatte. Während der vielen Trennungen, die diese ersten Jahre mit sich brachten, sind Varnhagens Ehemannsbriefe noch inniger als vor ihrer Vereinigung. Immer mehr entdeckt er im Zusammenleben Rahels »Einzigkeit«; sie allein ist im vollsten Sinn gut, geistreich, schön und wahr, und durch die »Liebes- und Lebenswellen«, die sie über ihn strömen läßt, ist sie seine »Beglückerin«. Und sie ruft aus, daß es ein »Glück zum Knien« ist, von ihrem Gemahl solche Liebesbriefe zu empfangen; sie machen sie demütig und unruhig, nicht schön genug zu sein – so daß andere vielleicht Varnhagen wegen seiner Wahl tadeln würden – und zugleich froh, daß sie so jung aussieht, etwas, was ihr sonst zuwider wäre, denn »sie sieht es lieber, wenn die Jahre und das Gesicht zusammengehen«, und es ist ihr Staunen wie ihr Glück, daß Varnhagen »durch einen Zauber, den sie nicht kenne«, in sie verliebt ist.[1]
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Daß Rahel nicht im eigentlichsten Sinne des Wortes in Varnhagen verliebt war, daß seine Persönlichkeit sie nicht mit derselben Bezauberung erfüllte wie die ihre ihn, das ist unverkennbar.
Es ist möglich, daß sie an ihr Gefühl für Varnhagen gedacht hatte, als sie sagt: »Nicht unsere erste, wie das Sprichwort heisst, sondern unsere letzte Liebe ist die wahre: die nämlich, welche alle Kräfte dazu nimmt.« Aber dann hat eine augenblickliche Stimmung diese Worte hervorgerufen. Denn ihr Gefühl für Varnhagen nahm nicht alle ihre Kräfte in Anspruch. Ein Beweis unter vielen dafür ist es, daß Varnhagen, nicht Rahel darüber klagte, daß das Berliner Leben ihnen fast nie eine einsame Stunde zusammenließ.
In dem Heim, das sie am längsten – bis zu Rahels Tod – bewohnten,[2] hatten sie ihre Freude an den großen hohen Räumen, wie auch an einem Nachbargarten wo » wie in einem Forsthause Luft und Geruch herrschte«. In der Wohnung war alles einfach; ein paar Porträts und Büsten sowie Blumen waren das einzige, das nicht zum Notwendigen gehörte. Aber alle Anordnungen waren so behaglich und bequem, daß das Ganze einen geschmackvolleren Eindruck machte als große Eleganz. Daß ein Klavier und Bücher zum Notwendigen gehörten, braucht nicht erst betont zu werden.
Rahel war eine jener – noch sehr seltenen – Frauen, die ein ungezwungenes »Sichausleben« mit Ordnung und Regelmäßigkeit in allen Verhältnissen des Alltags verbinden; auch durch diesen Zug unterschied sie sich ebensosehr von der Romantik als sie Goethe darin glich.[3] Durch diese Eigenschaften gelang es ihr trotz ihrer zunehmenden Kränklichkeit, trotzdem ihre Zeit ihr »geraubt, gestohlen, zerrissen« wurde, ihr Haus in vortrefflicher Ordnung zu halten, Varnhagens Arbeitsruhe zu sichern und doch für ihre eigentlichen Interessen Zeit übrig zu behalten. Aber all dies geschah mit einem so großen Aufwand an Energie, daß sie zuweilen nach einer Einsamkeit seufzte, wo sie in Ruhe krank sein konnte. Denn der Wunsch, Varnhagen nicht durch ihre Unpäßlichkeit zu beunruhigen, veranlaßte sie immer, ihm diese, solange es denkbar war, zu verheimlichen. Rahel ging wie andere nervöse Naturen spät zu Bett und stand spät auf. Die Morgenstunden verwendete sie dazu, den Haushalt und andere praktische Angelegenheiten zu erledigen und Besuche zu empfangen. Später machte sie einen Spaziergang, besuchte irgend eine Kunstausstellung oder Generalprobe oder irgendwelche Freunde. Zum ziemlich späten Mittagessen waren oft ein paar Gäste eingeladen oder ein Vormittagsbesuch zurückgehalten und Rahel sah ihren Hausfrauenstolz darin, einen guten und feinen Tisch zu führen. Nach dem Mittagessen empfing sie ungern Besuch, sondern verwendete die Zeit zu Lektüre und Korrespondenz. Am Abend besuchte sie häufig ein Konzert oder ein Theater, und von dort begleitete sie oft eine ganze Schar nachhause, die in Rahels Salon ihre Kritik übte und der ihrigen lauschte; und die Gespräche wurden oft so lebhaft, das man sich nicht vor Mitternacht trennte. War Rahel wieder am Abend zuhause, so kamen die Besuche ein paar Stunden früher, aber bei Gesprächen und Musik verging die Zeit so angenehm, daß auch dann der Aufbruch selten zeitiger stattfand. Es war ihre eigene Erfahrung, die Rahel mit den Worten ausdrückte: »Fein organisierte Menschen müssen Zerstreuung haben«, und es war ihre Freude, diese anderen in edelster Form zu bieten. Sie selbst unterschätzte freilich ihr Genie, wenn sie behauptet, daß ihre berühmte »Geselligkeit nichts ist als Güte«. Aber ihr Hauptbestandteil war doch die Wärme, die von ihr über alle ausstrahlte, berühmte wie unberühmte, kleine wie große.
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Rahel war bis in ihre innerste Seele eine mütterliche Natur. Sie, die selbst wirkliche Mutterzärtlichkeit entbehren mußte, sprach die schönsten Worte darüber, was die Mutterschaft sein könnte.[4]
In ihrer Liebe ist die Mütterlichkeit ein wesentlicher Bestandteil. Sie faßt selbst ihr Wesen in die Worte zusammen: »Ich bin eine Mutter ohne Kinder.«
Und alle Kinder liebten Rahel ebenso innig wie sie sie liebte: ihre eigenen Spielkameraden konnten nicht besser mit ihnen spielen oder tollen als Rahel. Immer hatten sie ihr etwas zu sagen, so wie sie ihnen, und mit Rahel zu sein, war für die Kinder ihres Bruders die höchste Freude. Jean Paul hatte einmal als seine Meinung ausgesprochen, daß sie unverheiratet bleiben sollte.[5].
Sie antwortet darauf, daß er mit diesen Worten die Ehe tadle: in eine unglückliche würde sie sich niemals finden.[6]
Meinte er, daß sie und Varnhagen im innern Sinn schon vermählt waren – und so im äußeren Sinn unvermählt bleiben konnten – dann stimmte sie für ihr eigen Teil sowie für alle ein, die mit Notwendigkeit zusammengehören. Aber hatte Jean Paul mit seiner Aeußerung etwas anderes gemeint, dann irrte er sich ebenso sehr über ihr innerstes Wesen wie ihr böswilligster Tadler, denn er versagte ihr ja damit auch Kinder.
Rahels Ehe blieb kinderlos. Doch sie, die Gott für »jedes bißchen Kinderunschuld« dankte, fand einen Ersatz in der kleinen Tochter ihrer Nichte, Elise, die in Rahels späteren Jahren ihre »Seelenarznei« wurde. Ihre Schilderungen dieses Zusammenlebens, der Aussprüche, des Betragens, der Seelenbewegungen der Kleinen, zeigen, wie leidenschaftlich sie dieses Kind anbetete; und als sie Elise eine Zeitlang bei sich hatte, fühlte sie ihr Herz »zerschlagen«, als sie die Kleine und ihre Geschwister den Eltern wieder zurückgeben mußte. »Ich machte ihnen Fleisch durch Pflege und ließ ihre Seelen wachsen, ihren Geist sich heben und regen.« Den ganzen Tag hatten die Kinder Ansprüche an sie erhoben, und den halber war sie mit ihnen draußen in »Wald, Feld und Garten« gewesen.
Aber nun war es mit der Freude aus, und sie blieb allein mit ihrem Schmerz, daß andere hatten, was sie besitzen sollte, was ihr durch ihre Liebe zukam ... »Es hilft mir nichts, aus der Zeit der verliebten Liebe zu sein, ich leide doch.«
Die neunundfünfzigjährige Rahel klagt so in einem Brief an den jungen Heine!
In einem anderen Briefe an Gentz spricht sie davon, daß sie noch immer ein »Liebherz« hat: »Ich liebe mit neuer, nie erkannter Zärtlichkeit einen reinen Tautropfen des Himmels.« Sie klagt, daß sie auch in dieser Liebe leiden muß, da das Kind ihr nicht im äußeren Sinne angehört, wenn auch im innern, weil es ihr Blut, ihre Nerven hat, weil das Kind »herzweich und herzstark« ist. Zugleich freut sich Rahel, daß Elise sich darin von ihr unterscheidet, daß sie graziös, schön und leichtsinnig ist und darum Gott und den Menschen wohlgefällig. Rahel und Bettina Brentano haben gegenseitig ganz entzückend die Art geschildert, wie sie beide mit Kindern umgehen, wenn Rahel von Bettina sagt, sie betrage sich mit Kindern »wie eine mythologische Bonne«, und wenn Bettina von der Lehrerin ihrer Kinder verlangt, daß sie absolut mit den Kindern ganz so sein soll wie Frau Varnhagen. Und je mehr die Krankheit Rahels Welt auf ihre vier Wände begrenzte, desto mehr war das Stück der ewig jungen Natur, das ein Kind uns bietet, die Freude ihrer Augen und die Ruhe ihres Herzens.
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Schon von Kindheit an hatte Rahels Willensstärke sie trotz physischer Schwäche und schwerer Leiden aufrecht erhalten, die eine andere Natur selbstsüchtig und reizbar, sich selbst und anderen zur Qual gemacht hätten. Sie verwendete anstatt dessen ihre Leiden als Hilfe, um »besser zu sein, Mitleid zu haben, nicht zerstreut zu sein gegen Leidende und Arme«. Und auch wenn sie körperliche Schmerzen leidet, hält sie die Seele durch »Meditation, Einsicht, Schwung, Fröhlichkeit, Güte, Unschuld« aufrecht. Die Jahre lichteten den Kreis ihrer Angehörigen und Freunde, aber es blieben noch genug übrig, damit eine kleine auserwählte Schar sich hie und da um sie versammeln konnte. Einige der Mitglieder dieses Kreises befriedigten in ihrem Heim den Musikdurst, den sie jetzt nicht außer Hause stillen konnte.
Ein paar schwere Erkrankungen hatten schon die Verschlimmerung angekündigt, die zu Neujahr 1833 in ihrem Zustand eintrat. Nach einigen Wochen wechselnden Befindens konnte weder der Lebenswille noch die Liebe den Tod fernhalten. Er trat am 7. März ein, zwei Monate, bevor Rahel zweiundsechzig Jahre geworden wäre.
So endete das neunzehnjährige Zusammenleben, von dem Varnhagen bezeugt hat, daß Rahel in – wie nach – demselben stets »das jüngste und frischeste« in seinem Leben blieb.
Mehrere Jahre nach Rahels Tod sprach Varnhagen aufs neue sein Staunen aus »über die einzige Verknüpfung von Lebenskräften und Tugenden, die sie in ihrem Wesen darstellte. In ihr brannte das Feuer der ursprünglichen Schöpfungskraft noch lichterloh, sie hatte noch alle Wärme, alles Leuchtende eines Menschen, der eben aus Gottes Händen kommt. Ich weiß nichts ihr Aehnliches; Talente und Kräfte mögen andere ebenso haben und mehr; Wesen keiner! Sie wußte es wohl und sagte und schrieb es mir: »Solch eine siehst du nicht wieder.« Sie hatte recht. Eher kann ein Goethe, ein Spinoza, ein Platon sich wieder zeigen als eine Rahel.«
__________________Anmerkungen:
- ↑ »Ich bin so geliebt und geehrt von ihm, daß ich mich vor Gott schäme und immer in mich gehe, wie ich auch ihm das Leben versüßen will, damit ich's nur etwas verdiene. Mein Hauptglück besteht aber darin, daß ich durchaus nicht merke, daß ich verheiratet bin! Ganz in allem, im größten und im kleinsten frei bin, lebe und mich fühle, Varnhagen alles sagen kann. Ganz wahr sein darf: und daß dies gerade ihn so freut und entzückt. Er ist aber auch glücklich durch mich: nur durch mich. Sie sollen sehen und hören, wie er mir das in der Gegenwart und in Briefen ausdrückt. In Büchern glaubt man so etwas nicht und denkt: Es ist nur gedruckt. Ich bin völlig frei von ihm, sonst hätte ich ihn nie heiraten können. Er denkt über Ehe wie ich. Ich erkenne aber kein Verhältnis zu einem Menschen für frei und schön an, welches mich beschränkt, wo ich lügen müßte, oder welches meiner Natur Mögliches und Erforderliches ausschließen wollte.« Und an Varnhagen schrieb sie: »So sehr es möglich war, deiner Natur möglich, eine wie meine zu verstehen, verstandest du sie: durch großartigstes, geistvollstes Anerkennen: mit einer Einsicht, die ich nicht begreife, da sie nicht aus Aehnlichkeiten der Naturen kommt. Unpersönlicher, großartiger, mit mehr Verstand ist es nicht möglich, daß ein Mensch den andern in sich aufnimmt und behandelt, als du mich. Mehr in des ganzen Herzens Wollen hat nie eine Einsicht in einem Menschen gewirkt, als deine über mich! Anerkannter kann das nicht werden als von mir und mehr in Liebe gewandelt dies Anerkennen auch nicht werden.«
- ↑ Maurerstraße 36; in den ersten Jahren wohnten sie in der Französischen Straße 20
- ↑ Goldene Wahrheiten sagt Rahel über diesen Gegenstand: »Nur die besten Menschen sind exakt. Nur die besten wissen, daß das höchste gereinigte Erdendasein bedingt ist und nicht bestehen kann, ohne höchste Ordnung des Einrichtens der gewöhnlichsten Dinge und Umgebungen, und daß nur dadurch die uns ewig unbegreifliche und unwiderbringliche Zeit ökonomisiert wird; nur die besten Menschen unterwerfen sich diesen Bedingungen.«
»Le positif« des Lebens besteht darin, das abzuleben, was gerade vor uns steht ... Die Gegenwart fühlen, mit ihr sich abgeben können, das ist Lebenstalent; je mehr man davon in sich trägt, je positiver ist man und je mehr Positives wird uns vorkommen.« - ↑ »Vorgestern dacht' ich so über Menschenleid und -Liebe und dachte: die höchste Leidenschaft verliert den schwarzen Zauber, die Todesschärfe, wenn man eine Mutter hat, wie sie sein kann ... Nie kann da das Unglück in solcher Wüste hervorbrechen, und jedes Verhältnis schon wird milde, klar, muß sich reiner gestalten, und das Schlechte weicht von Haus aus vor dem ehrwürdig Lieblichen zurück, in die »Nacht des Herzens« – wie Fichte sagt. Denke dir eine junge liebende Mutter wie ich, die liebste Freundin, die tiefste Vertraute ihrer Kinder, ihr Spielkamerad, in Musik, Gesellschaft, Putz, Leben, Gedanken. Herr des Vermögens, welche innere gewisse Stütze dies ist! Solch eine ist Gottes Statthalter auf Erden. O Gott! Es gibt ein Glück in diesem verwirrten Jammer hier; aber keiner versieht sein Amt und die Welt geht unter ...«
- ↑ »Sie (Rahel) ist eine Künstlerin, sie hebt eine ganze neue Sphäre an, sie ist ein Ausnahmswesen, mit dem gewöhnlichen Leben im Krieg oder weit darüber hinaus – und so muß sie denn auch unverheiratet bleiben.« (Jean Paul)
- ↑ »Wer meinen innersten Beifall und meine Neigung verletzt, behält mich nur als eine Gefangene.«