Eine biographische Skizze

III.

Während Rahel so anderen half, war sie selbst noch immer eine Leidende. Nach der großen vulkanischen Eruption schrieb sie: »Herkulanums hat man ewig abzutragen.«

Sie war noch unter Ruinen begraben, als sie vor ihrem Grabe eine junge Stimme ein lockendes Lied von neuem Leben singen hörte.

In der bewegten Zeit des Verhältnisses zwischen Rahel und Urquijo sah Varnhagen Rahel zum erstenmal in einer Berliner Familie, wo er Hauslehrer war. Mit Interesse, doch nur aus der Ferne betrachtete er die berühmte Rahel; sie dürfte den achtzehnjährigen Jüngling wohl kaum beachtet haben, es sei denn, als ein Mitglied des Kreises literarisch interessierter und beschäftigter junger Männer, dem ihr Bruder Leopold angehörte.

Varnhagen von Ense war am 21. Februar 1785 in Düsseldorf geboren. Sein Vater war Arzt, und als dieser starb, beschloß der fünfzehnjährige Knabe auch diese Laufbahn einzuschlagen. Seine Mittellosigkeit machte die Studien jedoch langwierig, und er änderte seine Pläne mehr als einmal, ehe sie zur Ausführung kamen.

Sein zweiter Lehrerposten war in Hamburg. Und da verliebte er sich in die Mutter seiner Schüler, Fanny Herz, eine Witwe, die mehrere Jahre älter war als er. Da sie seine Neigung erwiderte, kam es zu einer geheimen Verlobung. Diese dauerte während seiner Studienjahre fort, so daß er noch immer in dem erwähnten Verhältnis zu Fanny Herz stand, als er 1807 zum zweitenmal in Rahels Nähe kam, auch damals in ihrem Freundeskreise in Berlin. Sie machte sogleich einen starken Eindruck auf ihn, und seine Ahnung von ihrem einzigen Wert wurde zur Gewißheit, als er die unbedingte Bewunderung, ja Ehrfurcht sah, mit der sein verehrter Lehrer Schleiermacher Rahel behandelte. Später sah Varnhagen sie bei Fichtes Vorlesungen, aber erst an einem Frühlingstage 1808 wagte er es sich auf einem Spaziergange Rahel zu nähern und ein Gespräch anzuknüpfen, bei dem es ihm gelang, sie so zu interessieren, daß sie ihn aufforderte, sie zu besuchen.

Rahel, die damals gerade siebenunddreißig Jahre war, betrachtete anfangs den dreiundzwanzigjährigen Varnhagen als einen jungen Mann, dem sie, wie Marwitz, in seinem Lebenskampfe helfen konnte. Bald erlebte sie jedoch zum zweitenmale die Erfahrung, die sie durch Bokelmann durchgemacht hatte: daß ein seelenvoller Jüngling seiner Schwärmerei den Namen Liebe gab – da es für die höchsten Gefühle keinen anderen Namen gibt als diesen einzigen. Und wie damals hielt sie auch Varnhagens erotisch gefärbte Schwärmerei für etwas Vorübergehendes und konnte selbst anfangs keine andere Liebe fühlen als die wunschlose, die nur Freude über den Jüngling selbst war und Dankbarkeit für seine Sympathie.

Aber der Ausgang wurde ein anderer, und Varnhagen erhielt eine Bedeutung in ihrem Leben, die die Bokelmanns ebensosehr übertraf, wie Urquijos Bedeutung die Finckensteins übertroffen hatte.

* * *

Varnhagen gehörte zu den damals so wie heute seltenen Männern, für die das seelische Moment in der Liebe das sinnliche übertrifft oder doch zum mindesten aufwiegt; für die das psychologische Interesse die stärkste intellektuelle Leidenschaft ist, und bei denen die geistige Empfänglichkeit größer ist als die Schaffensmacht. Goethe nennt Varnhagen eine »sondernde, suchende, trennende und urteilende Natur«, und diese Art von männlichen Naturen findet man am häufigsten bei der obenerwähnten kleinen Gruppe von Männern, die die weibliche Persönlichkeit lieben. Ausnahmen lassen sich freilich finden, in erster Linie Goethe. Aber im allgemeinen werden Männer, die von ihrer eigenen Kraft ganz erfüllt sind, nicht mit ganzer Seele von weiblichem Seelenleben, weiblicher Eigenart hingerissen. Der schaffenskräftige, in seine eigene Welt versunkene Mann bereitet darum der geliebten Frau selten das Glück, sich in ihrer allerpersönlichsten Eigenart verstanden und gewürdigt zu fühlen: sie ist für ihn noch immer das Geschlechtswesen. Der gar nicht oder wenig produktive Mann zeigt sich einer Frauenseele gegenüber viel häufiger eifrig lauschend, fein erwidernd, rasch vibrierend. Solche Männer haben immer viele Freundinnen und – wenn ihr äußeres Wesen nicht unmännlich ist – flößen sie auch tiefe und erotische Gefühle ein. Das weibliche Seelenleben hat für sie denselben Reiz wie die weibliche Körperlichkeit für die Mehrzahl der Männer. Denn sie sind mit dem neuen Sinn ausgerüstet: dem Sinn für die Frauenseele.

Oft fühlen sich gerade diese Männer in der Jugend nicht zu den jungen Mädchen hingezogen; denn ihrem eigenen verfeinerten Gefühlsleben, ihrer intellektuellen Reife, ihrer Leidenschaft für die Kultur – vor allem die Selbstkultur – ihrem psychologischen Forscherinteresse gegenüber nehmen sich die jungen Mädchen allzu unentwickelt oder unbestimmt oder unbedeutend aus. Und dies ist um so mehr der Fall, als die seelenvollsten jungen Mädchen häufig in den Jahren vor zwanzig – ja oft auch später – die Eigenart, die sich in ihnen entwickelt, scheu verbergen, so wie gewisse Blütenknospen ihre Farbe, bis die Blume voll entfaltet ist.

Bei Frauen in reiferem Alter hingegen finden diese jungen Männer leichter die ausgeformte Eigenart, das differenzierte und durch die Erfahrung vertiefte Seelenleben, die verfeinerten Empfindungen, die vielseitige Kultur, die für sie an einem weiblichen Wesen am anziehendsten ist.

Und weil in unserer Zeit die Frauen – durch das reichere, freiere Leben, das sie führen können – sowohl ihre äußere wie ihre innere Jugendlichkeit immer besser bewahren, werden Liebesverhältnisse und Heiraten zwischen Männern der eben erwähnten Art – aber auch von anderer Art – und älteren Frauen immer häufiger.

Kein Zeichen der Zeit ist bedeutungsvoller für die Evolution der männlichen Liebe als dieses. Denn die Liebe des Mannes hat dann in den meisten Fällen jenen Verlauf genommen, den die seelenvolle Liebe des Weibes immer nimmt: sie hat zuerst die Seele entflammt und die Flamme der Seele hat die Sinne entzündet.

Freilich geschieht es nicht selten, daß ein solcher Mann in reiferen Jahren von Liebe zu einem jungen Weibe ergriffen wird. Aus dem Gesichtspunkt der Gattung ist dies oft sogar wünschenswert – wenn die erste Frau sich darauf gefaßt gemacht hat, den zweiten Frühling, den ihr Leben empfangen hat, durch einen schließlichen Verzicht, bezahlen zu müssen.

In jedem Fall sind solche Verbindungen zwischen jüngeren Männern und älteren Frauen oft in hohem Grade entwickelnd für beide. Nietzsche empfahl sie sogar an. »Unnatürlich«, wie die Gedankenlosigkeit sie nennt, werden sie erst, wenn die Frau den Mann zurückhält, sei es mit der groben Macht, die das Gesetz gibt, oder mit der feineren, über die der Schmerz verfügt. Solange die Zwangsehe besteht und solange die Menschen nicht jene Entwickelungsstufe erreicht haben, daß sie ein geliebtes Wesen ebensowenig mit der Leiche seiner Liebe zurückhalten wollen, als sie die Leiche, den toten Körper des Geliebten bei sich behalten wollten, ist eine Verbindung zwischen Männern und Frauen, bei denen der Altersunterschied in der einen oder anderen Richtung groß ist, freilich oft unnatürlich, nicht in ihrem Beginn, aber in ihrer Fortdauer.

Doch immer häufiger sieht man heutzutage ein lebenslängliches Glück zwischen einer älteren Frau und einem jüngeren Mann oder umgekehrt, weil diese Menschen ein wirkliches Verantwortlichkeitsgefühl für den Erfolg ihres Lebensversuches haben, und ein wirkliches Verständnis für die Mittel, durch die sich eine Liebe lebendig bewahren läßt.

In dieser wie in so vielen anderen Beziehungen war Rahel ihrer Zeit weit voraus und begriff vom ersten Augenblick an, daß vollkommene gegenseitige Freiheit und Ehrlichkeit die einzigen bindenden Bande sein dürfen.

* * *

Die tiefste Macht der eben geschilderten Männer über die Frauen besteht vielleicht in ihrer grenzenlosen Sehnsucht nach den Frauen. Diese Don Juan-Naturen auf dem Gebiete des Seelenlebens werden – wie Rahel später von Varnhagen sagte – nicht von irgend einem einzelnen Weib ganz gefesselt. Aber das ganze Frauengeschlecht fesselt sie desto unwiderstehlicher. Ueberall finden sie Frauen, denen sie ihre Erlebnisse beichten, ihre Leiden klagen können, die sie trösten, wenn sie in ihrem empfindlichsten Punkt verletzt werden, sie stützen, wenn sie in ihrem Selbstvertrauen wanken. Die Frau wird der Spiegel, in dem ihre Selbstbetrachtung ihnen ihr eigenes Bild vergrößert zeigt; das Oel, das ihre Arbeitslampe nicht entbehren kann.

Dies bestätigt sich auch in Varnhagens Verhältnis zu Rahel. Er begegnete ihr zu einem Zeitpunkt, als er zu der weiten und schönen Empfänglichkeit seiner eigenen Natur auch noch die der Jugend hatte; als er durch eine schon vielseitige Kultur und frühe intellektuelle Reife seinem Alter weit voraus war, während seine Persönlichkeit noch ein Chaos von einander widerstreitenden Anlagen, Wünschen und Gefühlen ist. Sowohl in bezug auf seine Lebensbahn wie auf Lebensanschauung und Liebe suchte er nach dem für ihn Wesentlichen. Und nun fühlte er sich durch Rahel »gleichsam mit einem Ruck auf ein erhöhtes Lebensfeld versetzt«. Er stand vor einer Natur, die der Gegensatz seiner eigenen war, einer Natur in ihrer Eigenart, ebenso stark ausgeprägt wie fest abgeschlossen. Dazu war diese Natur die einer Frau, und einer Frau, deren vollkommene Offenheit ihm gestattete, in die Tiefe ihrer Seele zu blicken, und deren unbegrenzte Freigebigkeit nur mit ihrem unerschöpflichen Reichtum zu vergleichen war.[1]

Varnhagen hatte in seinem Aeußeren nichts Unwiderstehliches. Er war groß und blond, mit reichem welligem Haar um eine hohe schöne Stirn, graublauen, beobachtenden und doch sanften Augen; einer feinen Nase mit leicht vibrierenden Flügeln, einem noch feineren und sensitiveren Mund. Das Ganze war angenehm, ohne ungewöhnlich zu sein. Die Weichheit, die das Gesicht in späteren Jahren zeigte, trat vermutlich in der Jugend noch deutlicher hervor. So wie er war, übte er keine bezaubernde Macht über Rahel aus. Sie hat selbst gesagt, daß ihr verwundetes und gekränktes Herz nicht die Kraft hatte, allein zu lieben; daß es seine Liebe war, die sie gewann, daß sie sich schämte, solange sie allein liebte, aber als sie fand, daß er wirklich liebte, daß er den innersten Zusammenhang ihres Wesens gefunden, da hielt sie ihr Herz auch nicht mehr zurück. Aber, fährt sie fort, jetzt war es nicht nur Dankbarkeit für seine Gabe oder Rührung über seine Liebe. Diese wäre ihr widerwärtig gewesen, wenn sie nicht auch seinen »Liebreiz« entdeckt hätte; wenn nicht ihre höchste Herzensflamme mit der seinen zusammengeschlagen hätte. Rahels letzte Liebe ist eine Bestätigung des Wortes, das ein dänischer Dichter ausgesprochen hat: »Es ist mit unseren Herzen wie mit der Violine, die, einmal zerschlagen, einen besseren Ton, aber einen schwächern Klang gibt.« Rahel war allerdings zweimal der Liebe begegnet. Aber das erstemal war diese so wenig stark gewesen, daß die Eifersucht und die Vorurteile kleiner Frauenseelen sie besiegen konnten; das zweitemal so wenig feurig, daß die Eifersucht und die Vorurteile des Geliebten selbst sie zu löschen vermochten. Rahel hatte freilich viele Freunde gehabt Aber diese hatten sie in ihrem eigenen Interesse gesucht, weil sie Trost und Kraft oder Lebensanreiz brauchten. Sie war mit einem Worte geliebt worden, ohne verstanden zu sein, verstanden, ohne geliebt zu werden; gesucht und genossen wie eine große seltene Erscheinung. Aber niemals hatte ein Mensch ihr jenes einsamkeitserlösende Gefühl entgegengebracht, das liebendes Verständnis des Einzigsten und Eigensten unserer Seele ist. In ihrem tiefsten Schmerz hatte sie erfahren, daß die Menschen einander so wenig verstehen können, daß sie nicht einmal den Jammer vernehmen, der aus eines jeden Brust ertönt. Oder wenn sie ihn wirklich vernehmen, können sie ihm nicht einmal bei dem geliebtesten Wesen, das sie ganz verstehen, abhelfen.[2]

Von allen Beweisen für Rahels Einsamkeitsgefühl ist doch keiner bezeichnender als der, daß sie »als eine Schülerin Shakespeares« sich früh und oft mit dem Gedanken an den Tod beschäftigte. Aber nie hatte ihr eigener Tod sie bewegt; nie hatte sie gedacht, daß ihr Tod »irgend einem Menschen leid tun würde; von dir«, sagt sie zu Varnhagen, »wußte ich es; und es war zum erstenmal in meinem Leben, daß ich das dachte, und daß ich wußte, daß ich's noch nie gedacht hatte. So einsam habe ich gelebt.«

Varnhagen, der geborene Menschenforscher, beobachtete sie nicht nur mit durstigem Interesse, sondern nahm sie mit der unbedingtesten Andacht in sich auf. Er empfand mit einer für seine Jahre wunderbaren Selbsterkenntnis seinen eigenen Grundmangel: »Mein Gemüt ist ganz arm auf die Welt gekommen ... es sprudeln keine Quellen in mir ... ich bin leer.« Aber mit derselben Klarheit erkennt er seine Haupteigenschaft: Empfänglichkeit, verständnisvolle und innige Aneignung des Empfangenen, die Kraft zu bewundern und die Kraft zu warten.[3]

Diese letztere Eigenschaft ist die bei den Menschen im allgemeinen und bei der Jugend im besonderen seltenste von allen. Sie beruht auf der Macht, sich in einen geliebten Menschen so zu vertiefen, daß man mit unbedingtem Vertrauen abwarten kann, daß das, worin er uns ungerecht, unbegreiflich erscheint, sich entwirre und aus ihm selbst heraus erkläre. Und Rahel bereitete Varnhagen – ebenso wie er ihr – mehr als eine Schwierigkeit, namentlich durch ihre unbedingte Ehrlichkeit. Es ist für diese bezeichnend, daß mehrere der oben angeführten Aeußerungen über ihr Gefühl für Urquijo Varnhagen gegenüber – zwischen 1808 und 1812 – gemacht wurden und ebenso bezeichnend, daß sie in der bewegtesten Zeit ihrer Liebe ihre scharfsinnige Kritik gegen Varnhagen selbst richtete.

Und Varnhagens Gefühl bestand diese beiden Proben.

Rahel, die schon soviel gelitten hatte, daß sie nicht mehr an die Möglichkeit eines persönlichen Glücks glaubte, erwachte nun Tag für Tag mit steigender Verwunderung und Rührung über das, was sie erlebte.

Im Sommer 1808 wohnte sie in dem damals ländlichen Charlottenburg, und dahin kam Varnhagen jeden Nachmittag, um – auf Wanderungen in dem kühlen, duftenden Garten oder durch die Alleen, oder dem Ufer der Spree entlang, oder auch auf dem schattigen Platz vor dem Hause sitzend – Gedanken und Erlebnisse auszutauschen. Der Mond ging auf, die Sterne leuchteten, aber die Gespräche dauerten fort, mit oder ohne Worte. Und Rahel fühlte, daß die Luft rings um sie sich verwandelte durch das Verständnis, von dem jeder seelenvolle Mensch träumt, das er in der Freundschaft, in der Liebe sucht und beinahe niemals findet. Aber hat er es gefunden, dann bedarf es nicht mehr der Verkleidungen und Masken, der wärmenden Hüllen oder Verteidigungswaffen. Dann ist man in den Paradiesesgarten versetzt, wo die Luft immer milde, die Nacktheit immer natürlich, die Waffen immer überflüssig sind. Man bewegt sich dort wie ein glückliches Kind in der Wärme liebender Augen.

Je reicher, je zusammengesetzter ein Mensch ist, desto schwerer findet er dieses alliebende Verständnis. Aber findet er es, dann verwandelt es das Dasein so wie eine Wanderung sich verwandelt, wenn man von der heißen, staubigen Landstraße in den weichbemoosten, sonnebeschienenen, duftreichen Wald einbiegt; so wie die Luft sich verwandelt, wenn ein lange bleigrauer Himmel sich zerteilt und eine Sonnenflut auf die Erde hinabstürzt; so wie die Landschaft sich verwandelt, wenn man durch eine Biegung des Weges die Alpennatur hinter sich läßt und Italien – in der Jahreszeit der Rosen oder Trauben – vor sich sieht

Wer dies – wenn auch nur für einen Tag – erlebt hat, ahnt, was Rahel fühlte, als sie zum erstenmal Schritte sich »dem stillen, unerreichten See in der Tiefe des Gemütes« nähern hörte; als sie sich nicht mehr einsam fühlte, als sie allmählich von dem Sonnenrausch der allumfassenden, alles durchdringenden Sympathie ergriffen war, als sie einer Sehnsucht begegnete, die ihr Wesen in allen seinen Schattierungen, Unberechenbarkeiten und Veränderlichkeiten begehrte. Rahel spricht von ihrem Zusammensein, »unserem lustigen, lieben, kindischen, heiteren Umgang, unserm Laufen, Essen, Luftgenuß, Jagen nach Vergnügen; unserm anspruchs-, plan- und zwecklosen Sein ..« Und als das Beste hob sie hervor, daß es ihnen nie einfiel »etwas vorstellen zu wollen«.[4]

Varnhagen schildert seinen Eindruck des Sommers mit den feinen Worten:

»Ich komme mir vor, als wäre ich diesen Sommer in Athen gewesen.«

In Rahels Gesprächen hatte er die höchste Spekulation gefunden, »wie sie im Leben sich gestalten muß, das tiefste Mark der Philosophie« und er fühlte, daß er aus dem Verkehr mit ihr mit freigewordenen Kräften hervorging, mit »einem neu erhellten Wesen«; all das tiefste, beste in ihm selbst hat sie ihm offenbart. »Dein Einfluß strömt in mir ununterbrochen fort, tausendarmig.«

Aber gerade, als Rahel die Urne mit der Asche der Vergangenheit geleert und sie wieder dem Altar näherte, wo neues Feuer zu holen war; gerade als sie ihr Herz in das maigrüne Gras hinausgetragen – so wie man ein winterkrankes Kind hinausträgt – da begannen auch in diesem Verhältnis die »leidenschaftlichen Spannungen«, die sie gefürchtet hatte. Sie, die sich so fertig mit dem Leben gewähnt, daß sie nur »etwas Sonne, Luft und Grün« davon erhoffte und die gerade darum dem Tag »heiter und unbefangen« entgegensehen konnte, sie fühlt jetzt, daß es nicht mehr so ist, als ob der Tag ihr angehört: »Dies Göttergefühl, mein einzig Glück, ich habe es nicht mehr.«

Und der Grund war, daß Varnhagen durch seine erwachende Liebe, seinen Wunsch, die ihre zu gewinnen, seine Unruhe, ihrer unwürdig zu sein, sein fortlebendes Gefühl für seine Verlobte und seine Verbindung mit ihr so aus dem Gleichgewicht gekommen war, daß sie ihn als ein sie angreifendes Wesen empfand und der Verkehr zwischen ihnen »sonderbar schneidend und schmerzend wurde«.[5]

Und nun brach die Gewißheit über Rahel herein, daß sie ihr zur Ruhe gewiegtes Herz nur hatte erwachen lassen, damit es von neuem getötet werden sollte; daß sie kaum noch fühlte, daß Varnhagen ihr unentbehrlich geworden, als sie auch schon vor der Möglichkeit stand, ihn zu verlieren, und zwar durch zwei Gefahren: die ihrer eigenen Vergangenheit und die der seinen. Denn Rahel verhehlte ihm nicht, daß die Leidenschaft, die Urquijo ihr eingeflößt, Varnhagen ebensowenig wie irgend jemand anderer erwecken konnte; und sie macht ihm klar, daß alle Forderungen nach dieser Richtung nur die Schönheit des Neuen trüben würden, das zwischen ihnen aufkeimte. Sie läßt ihn alle ihre Briefe an Urquijo lesen, obgleich sie fühlt, daß dies sie vielleicht trennen wird. Aber als sie ihm die Briefe gibt, warnt sie ihn, sie zu leicht fahren zu lassen, denn mit ihr würde er eine Welt verlieren; nirgends könne er jemand finden, mit dem das Zusammenleben leichter und mannigfaltiger, die innerste Treue inniger, die Sicherheit und Harmonie größer sein würde: denn freilich war sie nichts in irgend einer bestimmten Richtung; aber ebenso gewiß als man seine Existenz fühlt, wußte sie, daß ihr Gutes einzig war!

Und nicht nur dies. Sie fühlte auch, daß ihre Empfindung für Varnhagen wuchs, daß der Schmerz, ihn zu verlieren, größer sein würde als alle vorhergehenden. Aber dies hindert nicht, daß Rahel – als er beginnt, von seinem noch fortdauernden Gefühl für Fanny zu sprechen, von den innigen Briefen, die er noch immer an sie schrieb, von ihrem Warten auf ihn, von seinem Leiden durch ihr Leid – in voller Uebereinstimmung mit ihren Ansichten handelt, weil diese Ansichten eins mit ihrer Natur waren.

In ihrem bittern Schmerz darüber, daß sie wieder rein und ehrlich gekommen war und sich gezwungen sah, »arm und gekränkt« zu gehen, durchkreuzte sie freilich der Gedanke, daß sie dieses Mal nicht weichen, daß sie den Kampf mit dieser ihr inferioren Frau aufnehmen wollte. Aber bald gibt sie diesen Gedanken auf, und Varnhagen – mit seinem Jammer über das »Wirrsal«, in dem er keinen Ausweg fand, in dem er weder Rahel noch Fanny wählen konnte – erschien ihr bald bedauernswerter als verächtlich. Er hatte vielleicht Recht darin, daß er ein »hypermoderner« Mensch war, daß er wirklich zwei zugleich lieben konnte, daß er viele Liebesverhältnisse sowie viele Freunde brauchte? Er gehörte vielleicht zu den »zerstückelten Neuerern, den kranken Europäern«, und er mußte seiner Natur folgen, so wie sie der ihren. Sie sah ein, daß sie mit ihrer äußerst explosiven Natur wohl heftig, ungleich, ungerecht sein konnte, aber, ruft sie aus, wen »Gott herumtreibt, kann der sich halten und lieblich sein?«

Trotz des Schiffbruchs, der sie an das Ufer geworfen, das die Alten Hades nannten, hatte sie doch den Mut, sich noch einmal auf dasselbe Meer hinauszuwagen, und sie fühlte, daß sie gerade durch diesen Mut, durch die Kraft ihres armen, einsamen, mißhandelten Herzens, von neuem zu lieben, etwas sehr wunderbares war, und daß ihre eigene Macht, viel zu geben, sie auch berechtigte, viel zu verlangen.

Nicht Treue. Freilich nennt sie »Liebe und Treue eins«, aber sie erklärt sogleich, dies bedeute nicht, daß eine sogenannte Liebe nicht aufhören könne. Dadurch erweist sie sich eben als eine Illusion.[6] Sie weiß, daß sie selbst zu jenen gehört, die nichts anderes können als lieben, für die die Liebe »Meisterprobe, Krone, Leben und Beglaubigung« ist. Varnhagen könnte die Treue nicht aus ihrem Herzen reißen, ohne das Herz selbst zu zerreißen, ohne all sein Blut in Tränen zu verwandeln, und ohne sich selbst umzuwandeln, so daß sie ihren Glauben an ihn verlöre!

Varnhagen hat ihr das Glück gebracht, und ob es ewig dauerte oder nicht, das änderte an seiner Wirklichkeit nichts. War sein Glück noch bei ihr, dann würde sie närrisch vor Seligkeit werden, aber ohne sein Glück konnte seine Gegenwart nie ihr Glück sein. Und sie ruft schließlich aus: »O, verstehe mich! Könnte ich deinen Kopf halten, dich küssen, so würdest du mich verstehen.«

Was sie verlangt, ist nur, daß er wähle. Es war ja möglich, daß – trotz Rahels Ueberzeugung, »wo ein Herzschlag ist, da ist Ernst«, trotz ihrer Gewißheit, daß »das innere Herz klüger ist als alles« – sie sich irrte und Varnhagens Braut sein »eigentlicher Lebenspuls« war. Und darum fühlte Rahel nur eine Pflicht: Varnhagen vollkommene Freiheit zu geben und zu verlangen, daß er nach Hamburg fahre, um sich durch ein neues Zusammenleben mit Fanny Herz über sich selbst klar zu werden. Nur einen für sie charakteristischen Rat gab sie ihm:

»Hab kein Gewissen!«

Weder sein Mitgefühl mit Rahels Leid, noch mit dem Fannys sollte irgend einen Einfluß ausüben, sondern nur die Rücksichten auf das, was er als sein wirkliches Glück erkannte, sollten maßgebend sein.[7]

Ohne daß Eifersucht in ihr rast, kann sie der Möglichkeit, ihn zu verlieren, ins Auge blicken. Aber nur, wenn er dadurch ein größeres Glück findet. Für ein erloschenes Gefühl, für falsche Pflichtbegriffe will sie sich nicht opfern lassen. Ging er, so war sie nicht einsamer, als bevor er kam. Und was sie durch ihn an Glück besessen, verblieb ewig ihr eigen.[8]

Sie spielt keinen Heldenmut, sie spricht ihre Trauer offen aus, die sie hindert, das Grün, das Licht, die Schatten zu genießen, an denen sie sich zusammen gefreut, so wie sie ihm auch jedes Wort, jeden Schein und Schimmer mitteilen wollte, der sie erfreut. Sie sagt ihm, daß er bereits mit seinem Eintritt in ihr Leben »ein Sonnenblick über den ganzen Gesichtskreis ihres zu lebenden Lebens« geworden sei; es hat ihr ein Gefühl der Gesundheit, des Stolzes, der Befriedigung gegeben: sie hat gefühlt, daß die Verzauberung ihres Schicksals gebrochen ist, und sie hat den Mut, ihn jetzt zu verlieren und weiterzuleben. Ist es für ihn recht, zu gehen, dann soll er es auch tun, dann wird sie ihn mit derselben Notwendigkeit verlieren, mit der die Blüte vom Baum fällt, und der Baum kann doch auf jeden Fall den Winter überdauern.[9]

Es gibt keine Zeit in Rahels Leben, die ihr Wesen klarer beleuchtet als diese. Eine gewöhnliche, selbstsüchtige Frau würde unter den gegebenen Verhältnissen alles getan haben, um Varnhagen in Berlin zurückzuhalten und hätte bald mit Kälte, bald mit Glut seine Eifersucht und seine Leidenschaft angefacht. Eine gewöhnliche selbstlose Frau hätte unter den gegebenen Verhältnissen sich selbst für seine sogenannte »Pflicht« gegen seine Braut geopfert.

Rahel tut nichts dergleichen. Sie schickt ihn nach Hamburg, aber behält – durch ihre Briefe, ihr offen gezeigtes Gefühl – die Stellung, die sie gewonnen; seine Braut hatte durch ihre Gegenwart dieselbe Möglichkeit, und nicht das Opfer einer von ihnen nur seine freie Wahl sollte über sein Schicksal entscheiden. Selbst wollte sie die Krise abwarten, so wie man die Krise des Fieberkranken abwartet. Aber ehe er in der einen oder anderen Richtung entschieden hatte, wollte sie ihn nicht wiedersehen.

In Hamburg fand Varnhagen, daß sein Gefühl für Fanny von Tag zu Tag immer mehr erkaltete, daß die Mißstimmung zwischen ihnen zunahm, daß, auch wenn Rahel nicht gewesen wäre, sich doch das Verhältnis nicht wiederherstellen ließ. Als er zu Rahel zurückkehrte, hatte er es in entscheidender Weise gelöst.

Aber nun begannen die neuen Schwierigkeiten, die dadurch verursacht wurden, daß Varnhagen weder Vermögen, noch ein Amt, noch eine gesellschaftliche Stellung hatte, und daß er Rahels Schicksal nicht früher mit dem seinigen vereinigen wollte, oder konnte, ehe er etwas mehr war als ein Student, dessen Studien nicht einmal abgeschlossen waren. Rahel war mit ihm darin einig, und so blieben sie während ihrer Verlobungszeit mit kurzen Unterbrechungen getrennt, während Varnhagen als Student, Militär, Diplomat seine Bildung vollendete und sich eine Lebensstellung begründete, so daß er ihr etwas mehr bieten konnte als nur seine hingebende Seele. In diesen Jahren der Ungewißheit und der Trennung betätigte Rahel immer vollkommener ihren großen Grundsatz für das Zusammenleben: »Wahr sein und mild werden.«

Den Grundsatz, den sie auch etwas ausführlicher mit diesen Worten formuliert hat: »Sehen, lieben, verstehen, nichts wollen, unschuldig sich fügen; das große Sein verehren, nicht hämmern, erfinden und bessern wollen und lustig sein und immer güter!«

Dies war während Varnhagens sechsjähriger Odyssee nicht immer leicht; denn seine Unentschlossenheit, Planlosigkeit und Unberechenbarkeit verursachten Rahel nicht nur Leid, z. B. durch verfehlte Zusammenkünfte, sondern auch praktische Schwierigkeiten und persönliche Unannehmlichkeiten. Sie hatte ihrerseits die leichte Empfindlichkeit der zweimal tödlich Verwundeten. Sie will sich lieber zurückziehen als beständig von neuem leiden, und sie fürchtet so sehr, ihn zu binden oder zu hemmen, daß ein weniger feiner Seelenkenner als Varnhagen sie für kalt gehalten hätte. Es ist sehr bezeichnend, daß sie niemals den Altersunterschied als ein Hindernis empfand, denn einerseits sah sie immer jünger aus als er, andererseits fühlte sie mit einem ihrer Freunde: zwischen Liebenden »les âmes sont toujours du même âge«. Was sie fürchtete, war, daß sie zuviel gelitten hatte, daß sie nicht mehr Spannkraft, Mut, Vertrauen zum Glück besaß; und was sie wußte, war, daß sie nicht mehr die Anspruchslose, nur Gebende sein wollte.[10]

Es kommt wohl vor, daß Rahel sich mit einem Tadel übereilt, aber sie gesteht ihr Unrecht bereitwillig zu, und Varnhagen macht es ihr leicht, durch die rührende Liebenswürdigkeit, mit der er ihre Strenge aufnimmt, auch wenn er sie nicht verdient hat. Er fühlte, daß sie im großen ganzen recht hatte, wenn sie seine Aufmerksamkeit auf das lenkte, was sie seine »Lebenspausen« nennt: die Roheiten und Unzartheiten, oder Uebereilungen, durch die er sich Feinde machte, sowie sein ewiges »sich aussprechen« mit jedem, der ihm in den Weg kam, sein weichliches Sympathiebedürfnis und sein unselbständiges »Nachmachen«.

Seine Wurzellosigkeit und Ruhelosigkeit war zum großen Teile durch die Zeitverhältnisse verursacht. Aber sie riefen oft in Rahel den Zweifel hervor, ob denn die Erde für sie nur da sei, um darauf »zu weinen, entzückt zu sein, zu lieben«, aber niemals Wurzel zu schlagen. Und da Varnhagen, auch er ein Goethejünger, das Wort Kultur im tiefsten Sinn auffaßte – als die Bildung, die den ganzen Menschen durchdringt und umgestaltet – war er hoch sinnig genug, um Rahels schonungslose Ehrlichkeit zu lieben, auch wenn sie auf die unfruchtbaren Stellen in seiner Natur hinwies, die er urbar machen sollte. Nichts schildert Rahels Gefühl in diesen ersten Jahren besser als folgende schöne Worte: »Gott, wie freue ich mich deiner Entfaltung! Lieber Kelch, was enthieltest du! An meiner Brust erwärmt, an meiner Liebe! Ich bin so selig und so stolz und so unruhig. Mein Geist und mein Herz hat ein Kind! Dies Kind ist mein Geliebter! ...«

Und wirklich war sie für ihn Mutter und Schwester, Freundin und Geliebte; sie strahlte Geist und Güte aus; ihre Hingebung war ebenso klarsehend und klug, wie zärtlich und werktätig.

Ihr Gefühl zeigt sich echt und gesund bis in all die kleinen Züge, durch die sie beweist, wie immer gegenwärtig er für sie war. Sogar wenn sie etwas aß, das ihm geschmeckt hätte oder die Luft oder eine Wanderung genoß. Und sie jubelt, wenn ähnliche Dinge in seinen Briefen vorkommen. So z. B. als er einmal nur eine harte Holzbank als Nachtlager hatte und dachte: »Wenn Rahel das wüßte.« Diese einzigen Worte hatten wie ein »Wetterleuchten« ihre Seele mit hellem Glück erleuchtet. Denn sie zeigten eine innige, vertrauensvolle, hingebende Liebe und das Bewußtsein, geliebt zu sein. Wäre sie dort gewesen, sie hätte ihn auf der harten Holzbank geküßt, und wie hätte sie es ihm bequem gemacht, denn er hätte an ihrer Schulter ruhen können.

In vieler Weise zeigt Rahel, daß sie ihn nicht »ohne Unruhe« liebt, und bei einem von ihm ausgesprochenen Zweifel rief sie aus: »Hast du nie das Entzücken meiner Augen gesehen, wenn ich deine sah? Den erstickenden Strom von Glückseligkeit, der dann über mich kam?«

Freilich war sie noch immer »unerreichbar« in ihrer Seele und weiß, »diese Mitgift fremder Welten trägt jeder mit sich umher.« Sie fühlte, daß in die Zweifel des Geistes, in die Tiefen der Gewissensprüfung und der Erinnerung nicht einmal die Liebe eindringen kann. Aber im übrigen fühlte sie die Liebe ihr ganzes Wesen durchdringen, und sie kann Varnhagen mit Wahrheit sagen: »Mein Gemüt hast du erreicht, mein ganzes Herz.« Ja, sie scheint sich selbst schattenhaft und gering ohne seine Liebe; an den Tagen, an denen sie ihm nicht geschrieben, hat sie gar nicht gelebt, und seinen Mund, seine Augen zu küssen, sich in sein Herz zu schmiegen ist ihre innige Sehnsucht.

Varnhagen zeigt seinerseits auf tausend Arten die Wahrheit seiner Worte: »Ich habe dich so grenzenlos lieb und auf die innigste Weise, wie nicht Geliebte und nicht Freunde lieb gehabt werden, wie dein Jünger und Verkündiger.«

Er zweifelt, daß sie so sehr unter der Trennung leiden kann wie er, denn sie hat ja – Rahel, nach der er sich immer sehnt. Er hungert nach jeder Zeile von ihr und bittet sie, ihn auch sehen zu lassen, was sie an andere schreibt, denn er geizt nach jedem kleinsten Wort von ihr.

Und doch, wenn ihre Briefe kommen, läßt er sie zuerst ein kleines Weilchen uneröffnet vor sich liegen. Denn der Brief bringt einen Sonnenstrahl ihrer Gegenwart, und ihn auch in der äußern Gestalt zu sehen und zu berühren, schenkte ihm ein wenig von jener Seligkeit, die er empfand, wenn er in ihre Augen bücken, ihre Lippen küssen konnte, mögen sie nun die Tiefe, die Vornehmheit oder die Munterkeit ihres Naturells offenbaren, über das er Jean Pauls Urteil bestätigte, daß die Klugheit und der Witz, wie groß sie auch sein mochten, doch bei Rahel weniger bedeutend waren als die Innigkeit und die Güte. Bei dir, sagt Varnhagen, ist auch das Gewöhnliche ungewöhnlich durch die Echtheit, die aus jeder deiner Lebensäußerungen strahlt. Und er fand einen seiner glücklichsten Ausdrücke für Rahels Persönlichkeit – ihre Festigkeit, Einheitlichkeit, ihre in sich vollabgerundete Abgeschlossenheit – als er sagte, daß sie eigentlich plastisch ausgedrückt werden sollte. Und ebenso drückt Varnhagen sein eigenes Gefühl für Rahels Wesen am allervollkommensten mit den Worten aus, daß sie für ihn das ist, was die Bibel für die Christen. Der Gedanke an sie begleitet ihn überall hin, er ist das Licht seines Lebens und umfaßt den ganzen Kreis seines Wissens, seine Freuden und seine Leiden. Sie, die ewig sehende und schaffende, besät die Gefilde seiner Seele mit ihren lebendigen Worten, von denen jedes in ihm aufkeimt und zu einer vollen Aehre wird, aus der er seine Nahrung schöpft. Er freut sich, daß wenn ihre Briefe sich kreuzen, es oft vorkommt, daß sie denselben Gedanken enthalten, den ein jeder unabhängig vom anderen niedergeschrieben hat; denn er findet darin einen Beweis, in wie hohem Grade sie zusammengehören, wie sie sich über dieselben Dinge freuen und Scherz und Ernst in gleicher Weise verstehen.

Und, schreibt er, wie der Strahl eines Springbrunnens, steigt beständig der Wunsch in ihm empor, alles mit ihr zu sehen, sie über alles sprechen zu hören, ihr Leben sich in alles versenken und wieder blühend aus allem emporsteigen zu sehen!

Du bist, sagt er, so reich, daß zwanzig wie ich nötig wären, um nur ein so sehendes Augenpaar zu bilden wie das deine; und in meinem ganzen Kopfe ist nicht soviel Leben wie in deinem kleinen Finger! Auf allen Wegen dringen seine Gedanken, Träume, Pläne zu ihr, deren bloßes Dasein für ihn wie ein Siegesfest war.

»Daß mein Leben dich gewinnen konnte, gewonnen hat, das macht es mir zu einem der auserwähltesten, die je auf Erden geführt worden,« sagt Varnhagen.

Aber man kann die Aeußerung umkehren und sagen, daß nur eine seltene Natur Rahel gewinnen konnte, und es gibt kein sichereres Zeugnis dafür, daß das Wesentliche in Varnhagens Natur wertvoll war, als daß er mehr als irgend ein anderer Rahel mit dem vollkommenen Verständnis der Liebe verstand. Was ihm im öffentlichen Leben an Schwächen anhaftete, gehört nicht hierher. In einem war er groß: in seinem großen Gefühl. Eines solchen fähig gewesen zu sein, ist der Adelsbrief eines Menschen, ist sein ewiges Leben. Jeder, der mit sehenden Augen den Briefwechsel zwischen Rahel und Varnhagen liest, fühlt auch, daß es noch immer derselbe Eros, dieselbe Sonne ist, die Rahels Dasein beleuchtet, nur eine andere Jahreszeit, nicht mehr Frühling, wie in dem Gefühl für Finckenstein, nicht mehr Hochsommer wie bei dem Gefühl für Urquijo, sondern September, die Jahreszeit, wo noch keine Kälte und keine Armut eingetreten ist, die Jahreszeit, wo die Hitze verschwunden, aber die Wärme geblieben ist, wo der Wind kühl und sanft ist wie Seide, die geklärte Luft tiefblauer und die Sonne goldiger denn je, wo die Gärten von farbenprächtigen Blumen leuchten und reifende Früchte in das tauige Gras fallen, wo die Fülle und der Friede sich verbinden wie in keiner anderen Jahreszeit.

Und Rahel drückte diese Fülle und diesen Frieden durch die Liebe mit dem schlichtesten und größten aller Liebesworte aus: »Vom Leben würde ich, schmerserleichtert, in deiner Gegenwart scheiden.«

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Anmerkungen:
  1. Varnhagen gibt seinen ersten Eindruck Rahels so wieder: »Eine leichte, graziöse Gestalt, klein, aber kräftig von Wuchs, Fuß und Hand auffallend klein; das Antlitz von reichem schwarzen Haar, umflossen, verkündigte geistiges Uebergewicht, die schnellen und doch festen dunklen Blicke ließen zweifeln, ob sie mehr geben oder aufnehmen, ein leidender Ausdruck lieh den blassen Gesichtszügen eine sanfte Anmut. Sie bewegte sich in dunkler Kleidung fast schattenartig, aber frei und sicher, und ihre Begrüßung war so bequem als gütig. Was mich aber am überraschendsten traf, war die klangvolle, weiche, aus der innersten Seele herauf tönende Stimme, und das wunderbarste Sprechen, das mir noch vorgekommen war. In leichten, anspruchslosen Aeußerungen der eigentümlichsten Geistesart und Laune verband sich Naivität und Witz, Schärfe und Lieblichkeit, und allem war zugleich eine tiefe Wahrheit wie von Eisen eingegossen, so daß auch der Stärkste gleich fühlte, an dem von ihr Ausgesprochenen nicht so leicht etwas umbiegen oder abbrechen zu können. Eine wohltätige Wärme menschlicher Güte und Teilnahme ließ hinwieder auch den Geringsten gern an dieser Gegenwart sich erfreuen.«
    Varnhagen schildert diese erste Zeit des Zusammenseins so: »Unendlich reizend und fruchtbar war diese Erstlingszeit eines begeisterten Umganges, in welchem auch ich die besten Güter zum Tausche brachte, die ich besaß ... Unser Vertrauen wuchs mit jedem Tag ... Weit entfernt, Billigung für alles zu finden, vernahm ich manchen Tadel, und anderes Mißfallen könnt ich unausgesprochen erraten; nur fühlte ich wohl, daß die Teilnahme für mich dabei nicht litt, sondern eher wuchs, und bei diesem Gewinn konnte mir alles übrige nichts anhaben ... Mir war vergönnt, in das reichste Leben zu blicken ... Dieses Leben erschien unzerstörbar jung und kräftig, nicht nur von Seiten des mächtigen Geistes, der in freier Höhe über den Tageswogen schwebte, sondern auch das Herz, die Sinne, die Adern, das ganze leibliche Dasein war wie in Frische und Klarheit getaucht, und die reinste erquickende Gegenwart stand herrschend mitten zwischen erfüllter Vergangenheit und hoffnungsreicher Zukunft ...«
  2. »Einsam sind wir. Diese Klause, worin jede Menschenseele haftet, und wo Liebe dann und wann Leben und Leben vermählt – dies ist der Grund, wovor der Mensch erstarrt.«
  3. »Ich bin ein dünner Faden neben dir, schönragender Baum, ich weiß es. Und möchte verzweifeln über meine Unkraft, die so durch Liebe neben dein quellendes stromgewaltiges Leben gestellt ist; ich fühle meine Armut in jedem Sinn gegen deinen Reichtum ... Aber in dieser völligen Leerheit bin ich immer offen; ein Sonnenstrahl, eine Bewegung, eine Gestalt des Schönen oder auch nur der Kraft werden mir nicht entgehen; ich erwarte nur, daß etwas vorgehe, ein Bettler am Wege ... Du gehst alle Sphären durch, während ich nur in wenigen wandle ... Aber wenn du zu meiner kommst, findest du mich doch stets – und gehst du in ein Haus, wohin ich dir nicht folgen kann, warte ich ruhig an der Tür ...«
  4. Ehe sie noch Varnhagen gefunden hatte, schrieb sie: »Ich kenne vorzügliche Menschen. Sie sind mir auch gut und lieben mich zu sehen wie einen Fels, wie Wolkengebilde und sturmbewegte Wellen und dergleichen. Keiner herbergt den Menschen in mir, wo sie doch alle untertreten.«
    »Du bist der einzige in der ganzen Welt, der mich je lieb hatte, der mich behandelte, wie ich andere. Ja, ich bekenne es dir gerne, mit dem ganzen Drang der Erkenntlichkeit: von dir lernte ich geliebt sein, und du hast Neues in mir geschaffen. Nicht Eitelkeit ... ist es, die ewig mein Wesen mit Befriedigung durchdringt, du wirst es wissen, du! – bei dessen rechter Vorstellung die Tränen mir in die Augen dringen – es ist das endliche, gesunde, kräftige, wahre, wirkliche Empfangen der Seele. Sie nimmt und gibt, und so wird mir ein wahres Leben geboren! Freue dich, wenn du wirklich etwas von mir hältst, und mein Leben und Sein für ein außerordentliches nimmst: Du hast es zu einem menschlichen gestempelt
    Ich liebe an dir, daß du mein Wesen erkennst und daß das Erkennen sich in dir ausdrückt und wirkt und äußert, wie es geschieht. Ich liebe dich überaus zärtlich wieder, du hast es hundertmal gesehen.«
    Und später: »Nur einer in der ganzen Welt erkennt mich an, daß ich eine Person sein soll; will nicht nur einzelnes von mir gebrauchen, verschlucken; liebt mich, wie die Natur mich geschaffen hat und das Schicksal behindert; sieht dieses Schicksal ein: will mir den Rest vom Leben noch lassen, gönnen, erheitern, dem Himmel entgegentragen: will für das Glück, mein Freund zu sein, mir alles sein, leisten und lassen. Dies ist der Mensch, den man meinen Bräutigam nennt.«
  5. »Sie behandeln mich wie eine Mine: mit Hacken, Stangen und Werkzeugen wollen Sie das aus mir holen, was ich enthalte, und Schlacken abschlagen, stoßen, brennen, reißen und es so zu Ihrem Gebrauch läutern! Wenn es aber anders wäre? Und Sie zerquetschten die Pflanze? Ich fühle mich beengt und beängstigt, weil ich leisten soll, beschämt und verdrießlich, weil ich nicht leisten kann ...«
  6. »Unsere Sinne behalten sich alsdann was Besseres vor, und unser Herz war nicht getroffen und rührte auch nicht unser übriges Gemüt ... Das ist keine Treue, die man sich rettet – aber das ist Treue, die mit unserm Blut tief und gesichert im Herzen sitzt ...«
  7. »Du sollst frei sein! Und du bist frei. Kein Wort gegen mich, keine Aeußerung, keine mir gemachte Hoffnung bindet dich ... Dein Sehnen, deine Liebe zu mir kann mich nur beglücken, ein Band, das dich hält, nie, nie! Ein Vogel auf deinem Zweige bist du bei mir.«
    »Du mußt sie sehen, die Frau, mußt mit ihr leben. Sind Wunden da, so müssen sie rein ausheilen: entweder durch glückliches Zusammenleben oder reine Trennung. Ich mag dich eher nicht wiedersehen. Stärker, baumfester, reiner, entschlossener, in mich selbst eindringender werd' ich mit jeder Nacht; nichts Schwächliches, Verwundetes, Zweideutiges, Krankes, Erbärmliches in Seelen kann ich dulden.«
    »Wenn du mich liebst, wird es sich finden: ich kann nicht mehr ringen, mit und um nichts: und ein errungen Glück ekelt mich von je.«
    »Du hältst mich für hart? Ich bin es, Unselige! Und ewig gegen mich! Ich wollte dir nicht zwei leidende Weiber zeigen und zeigte dir ein eisernes. Noch jetzt, wenn du mich verlassen mußt, werde ich nicht jammern. Kommst du, ist mir wohl. Schwanken liebe ich nicht: das ist die Grenze meiner Natur.«
  8. »Du sollst Liebe und Glück und Helle genießen ... Dies ist bei mir kein hyperbolisches, empfindsames Aufopferungsfeuer. Ich halte nichts vom Teilen und Opfern. Aber liebtest du: ich hülfe dich krönen!«
    »Ich liebe dich überaus zärtlich wieder, du hast es hundertmal gesehen; ich könnte mein Leben mit dir zubringen; es ist mein sehnlichster, ernster, jetzt einziger Wunsch; ich weihte dir es in Freude und der größten Befriedigung; ich erkenne deinen ganzen Wert, und nicht ein Pünktchen deiner Liebenswürdigkeit und deines Seins – Skale hinauf und Skale hinunter – entgeht mir. Ich bin dir treu, aus Lust, Liebe und der gelassensten Wahl. Ich habe keine Forderung über dich. Ich bin dein Freund, wie es ein Mann sein könnte. Du bist durch mich in nichts gebunden, ich möchte dir mit meinem Blute dienen. Und ist es nicht natürlich, daß ich endlich – und es geschieht deutlich nur durch dich – erkannt sein will ... Denke aber nicht, daß ich dich ganz ohne Unruhe liebe. Dein Besitz ist mir nötig in jedem Sinn. Aber wo Befriedigung war, da bleibt sie. Und in jedem Verlust, in jedem Darben, würde sie mir ewig Nahrung bleiben. Ich habe es besessen, das Lebensglück.«
  9. »Soll ich mich denn vorher morden, weil ich sterblich bin?« ... Es ist dumm, sich zu fürchten; ist jetzt nicht auch Zukunft? Diese will man immer so schön, so sicher haben!«
  10. »Ich habe gebüßt genug auf der Erde, mit dem ganzen Erdenleben für die Lüge, daß ich nicht forderte, was ich verlangte und gab.«
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