Der Schlüssel

Wohl staun' ich Rom und Hellas billig an
Und ich versenk' mich gern in ihre Geister;
Doch der Olymp ist für mich abgethan,
Am Kreuze schau' ich meinen Herrn und Meister."

Redwitz, "Morus."

 

Sehr natürlich ist der Wunsch, auch Stützpunkte zu entdecken, mittelst derer sich Schiller aus dem Diluvium des Philosophismus, in welchem sein Glaube so jämmerlich Schiffbruch gelitten hatte, wieder an festes Land rettete. Da begegnet uns nun vor Allem die Wahrnehmung, daß ; unser Dichter das Glück hatte, von einer frommen Mutter geboren worden zu sein; der Liebe zu ihr gebührt auch das Verdienst, das Herz des zärtlichen Sohnes mit seiner trostlosen Philosophie in Widerspruch gebracht zu haben. Mit Rührung lesen wir seinen Brief vom 21. März 1796, um welche Zeit die Familie seiner Eltern durch mancherlei Trübsale heimgesucht wurde; in demselben heißt es nämlich: "Hier kann ich nichts, als wünschen und bitten, daß der Himmel noch Alles gut lenken möge. Wie dauert mich unsere gute, liebe Mutter, auf die alles Leiden so zusammenstürzen muß! Aber was für eine Wohlthat von Gott ist es auch wieder, daß die gute liebe Mutter noch Stärke des Körpers genug hat, um unter diesen Umständen nicht zu unterliegen und Ihnen noch so viel Beistand leisten zu können. Wer hätte es vor sechs und sieben Jahren gedacht, daß sie, die so ganz hinfällig und erschöpft war, Ihnen Allen jetzt noch zur Stütze und Pflege dienen würde. In solchen Zügen erkenne ich eine gute Vorsicht, die über uns waltet, und mein Herz ist aufs Innigste davon gerührt."

Nicht lange nach seines Vaters Tode stieg die erste Idee zur "Glocke" in Schillers Geist auf. In diesem Gedichte aber fanden die Worte eine Stelle, die sein Herz und sein Glaube ihm seinem System zum Trotz eingegeben haben:

"Noch köstlicheren Saamen bergen
wir trauernd in der Erde Schooß,
und hoffen, daß er aus den Särgen
erblühen soll zu schönerm Los."

Diese Zeilen, die dem Dichter in und außer Deutschland hunderttausende von Herzen gewonnen haben, können nicht Eingebungen der Accomodation, der Mitleidslüge sein Die sind die Stimme des treuen Herzens eines guten Sohnes. "Die Glocke" ist nicht das Lied der Philosophie, sie ist das Lied des Lebens, das seinen Sitz im Herzen hat; sie wird durch alle Zeiten hallen, wenn gleich A. W. Schlegel die Entdeckung gemacht hat, daß ihr der Klöpfel fehle. Noch tiefer als den des Vater« betrauerte Schiller den Tod seiner braven Mutter; ihr folgend stand sein Blick wieder hinüber in die Ewigkeit. Auch die Freude wirkte auf gleiche Weise wie der Schmerz auf seine Seele; sie gaben ihr eine Richtung nach oben und fachten dem Glaubensfunken immer wieder in ihr an. Ungefähr um dieselbe Zeit sang er, in fremdem Namen, einem Freunde bei der Hochzeit zu:

"Ewig, wie du selber bist,
Freu' dich deiner Beute;
Wenn die Sonne nicht mehr ist,
Liebe noch wie heute!"

Unnöthig ist es auf die Größe des Einflusses hinzuweisen, den die gewählte Lectüre naturgemäß auf jeben Menschen ausübt; hier ober nirgends behauptet sich das semper aliquid haeret. Es genügt also die Erinnerung, daß Schiller lauter katholische Stoffe besungen habe, wozu eine genaue Kenntniß katholischer Materien nöthig war, die er nur auf dem Wege der Lectüre sich erworben haben kann. Kunstwerke, deren Kühnheit ihre Verläugnung aller inneren Wahrheit und deren Stärke ihr Gallimathias ist, hat Schiller nicht anerkannt. Als er seinen "Taucher" dichtete, da entlehnte er von Göthe zwei ichthyologische Bücher, um den Klippenfisch, den Hammer, den Hay und den stachlichten Rochen aufmarschiren lassen zu können; ben Strubel der Charybde konnte er "nur bei einer Mühle studirent;" aber am Rheinfall fand Göthe auf seiner Schweizerreise im Herbst die Schöpfung des Dichtergenius verwirklichet und legitimirt. Auch wir finden z. B. im "Gang nach dem Eisenhammer" die Beschreibung der heiligen Messe legitim; der Dichter muß dem geheimnißvollen Acte öfters beigewohnt, muß in katholischen Büchern ihn studirt haben. Wir wissen, daß er z. B. für seine Kapuzinerpredigt den P. Abraham a sct. Clara geplündert hat. Als er 1800 an der "Jungfrau von Orleans" arbeitete, schrieb er an Göthe: "Mein Stück führt mich in die Zeiten der Troubadours und ich muß, um in den rechten Ton zu kommen, auch mit den Minnesängern mich bekannter machen." Darüber kann wohl kein Zweifel bestehen, daß Schiller, der so glanzvolle Schilderungen katholischer Dinge producirte, eine für Protestanten ungewöhnliche Kenntniß der katholischen Kirche besaß [1], und weil sein eminenter Geist alsbald dereu Schönheit, wenngleich nicht deren Göttlichkeit begriff, darum eben griff er mit Vorliebe darnach. Die Wahl seiner Objecte erheischte ein fortgesetztes Studium katholischer Quellen, und dieses Hinwiederum ließ ihm jene in stets anziehenderem Lichte erscheinen. Im Jahre 1803 wurde er von Gries besucht, als eben der erste Theil von Schlegels Uebersetzung des Calberon erschienen war. Er fand den Dichter von diesem Werke ganz entzückt. "Wie manchen Fehlgriff," sagte Schiller, "hätten Göthe und ich uns ersparen können; wenn wir den Calberon früher gekannt hätten." Solche und andere wenig bekannte Umstände erleichtern wesentlich Schillers Verständniß; wer sie absichtlich in Skart lassen will, der vergißt, die Coefficienten anzusetzen, und wird an vielen Orten mit Seume ausrufen müssen: "mir ist es unbegreiflich wie so etwas aus seimer Seele kommen konnte!"

Schillers Rückkehr zur Wirklichkeit und zu positiven Grundsätzen fallt mit der Zeit zusammen, in welcher der eben aufstrebende Schelling vom Kantianismus sich emancipirte, und vielleicht war eben dieser Mann, der ja später "Scholastiker" geworden ist, nicht ohne Einfluß auf des Dichters Entwickelung. Schon 1797 brachte er im berühmten Gartenhause viele Abende mit Schelling zu, dessen tiefer Geist und offenes Gemüth ihm denselben sehr lieb machten, und diese Achtung konnte selbst Göthe nicht mehr verwischen, der den Philosophen für nicht ganz redlich halten wollte.

Bande anderer Art knüpften Schiller an den Coadjutor und späteren Erzbischof Carl Theodor Anton Maria von Dalberg. Wenn einst die Geschichte dieses merkwürdigen Mannes eine gründliche Bearbeitung gefunden haben wird, dann wird die deutsche Nation erfahren, daß ein katholischer Bischof der uneigennützigste und liberalste aller Wohlthäter ihres Lieblings gewesen, und daß, katholisches Geld den größten ihrer Dichter über der Misere niedriger Sorgen und Bedürfnisse erhielt. Dalberg war es, der unserem Dichter die Verehelichung ermöglichte und ihm dadurch den ruhigen Besitz eines sicheren Lebensglückes begründete. Bekanntlich hatte der bereits ältere Göthe unseren Schiller Anfangs sehr von oben herab betrachtet; Dalberg war einer der Ersten, der das aufstrebende Genie würdigte und es bei Herrscher Göthe hoffähig zu machen strebte. Er folgte des Dichters Entwicklungsgange stets mit großer Theilnahme und ließ es bei keiner Gelegenheit an wohlthuender« Ermunterung fehlen. So z. B. schrieb er ihm 1795: "In Ihrem 'Reiche der Schatten' [2] wohnen die gutes Menschen in den besten Augenblicken ihres Lebens; aber Schillers hoher Genius ist der Erste, der dieses Reich mit ätherischen Farben malte." Fortwährend theilte Schiller seine Gedichte dem Freiherrn zur Beurtheilung mit und ihre Beziehungen wurden immer freundlicher, worüber man bei der Frau von Wolzogen des Näheren nachsehen möge [3]. Dalbergs schwankende Verhältnisse machten es seit 1802 diesem edlen Gönner einmal bedenklich, unseres Dichters Existenz an die seinige zu knüpfen. Aber bis zu seinem Tode und noch darüber hinaus wurde Schiller vom Fürsten Primas fortwährend edelmüthig unterstützt, so daß er sogar großartige Anerbietungen des preußischen Gouvernements ablehnen konnte. Niemand wird die Behauptung wagen, daß Schillers edle Seele sich hiebei von aller Verbindlichkeit gegen den Erzbischof frei erhalten hätte; aber umgekehrt wird man uns entgegen sagen, daß eine solche Annäherung den Dichter keineswegs der katholischen Kirche näher gebracht hätte, da ja Dalberg unter dem Pallium das Schurzfell trug. Leider hat er das getragen; aber unter diesem Schurzfell schlief dennoch ein christlicher Sinn im Herzen des Freiherrn und er ist sogar wieder erwacht. Forster hat ihn von jeher für einen span class="spaced">verkappten Jesuiten gehalten! Auf Schiller hat er ganz sicher nur gut eingewirkt; man lese z. B. bei der Fr. v. Wolzogen den Brief vom 6. November 1796 nach, in welchem Dalberg seinen Freund auf eben so ferne und zarte, als eindringliche Weise aus der Xenienprügelei zurückziehen sucht. Wie schön er ihn ferner schon 1790 von dem Felde der Geschichte, wo er so unheilvoll wirkte, auf die Bühne herüberlockte! [4]

Da neuestens erst wieder ein Stein auf den Unglücklichen Fürsten Primas gefallen ist [5], so wird es uns erlaubt sein, auch an einige Züge aus seinen letzten Lebensjahren zu erinnern. Vom Freiherrn v. Wessenberg, seinem josephinischen Dioscuren, der Gesinnung nach längst geschieden, schickte er ihm bei dessen Rückkunft vom Congresse zu Wien eine Art von Scheidebrief zu. In Regensburg entfernte er aus seinem Hause alle weibliche Dienerschaft und ließ sich einen Tisch bereiten, der aus Rind- fleisch und Gemüse bestand. Während er sich so von den kirchlichen und sittlichen Verirrungen seiner früheren Jahre gänzlich geläutert hatte, schien eine andere Leidenschaft des in Tugenden und Fehlern großen Mannes nämlich die Wohlthätigkeit, mit den Jahren noch zuzunehmen. Der Fürst Primas des heiligen römischen Reiches starb in einem gemietheten Bette, weil er das seine den Armen überlassen hatte. Seinen Reisewagen ließ bei Fürst durch einen Dritten verkaufen, um einer armen, in äußerster Noth lebenden Familie 200 sl. geben zu können. Auf seiner Reise nach Paris sah er bei Brüssel einen armen Mann im Straßengraben liegen, der dem Hungertode nahe war. Ohne zu warten, bis der Kutscher anhalten würde, sprang der Fürst aus dem Wagen, brachte ihn mit einer Lebensessenz wieder zum Bewußtsein und zu Kräften und warf ihm zwei Hände voll Kronenthaler in seine Mütze. Als 1817 die große Glocke des Domes zu Regensburg Dalbergs Tod verkündete, blieb der damalige Polizeibirector auf offener Straße stehen und rief aus: „Wenn Dalberg nicht mehr ist, wer wird dann meine Armen versorgen?" Oefters hatte der enttäuschte Fürst zu seinen Alumnen gesagt: "Meine Herren! halten sie es nicht mit der Welt; bleiben Sie treue Söhne der Kirche." So schloß der Mann fein großes bewegtes Leben ab, der Schillers edelster Gönner gewesen, und dessen Seele sich nahe verwandt mit jener des Dichters fühlte.

Unsere Entdeckungsreise nach Motiven, aus denen sich "Schillers sonderbares Bündniß mit der altkatholischen Mutterkirche" erklären lasse, führt uns, wenn auch nicht ins schöne romantische Land, so doch in die romantische Schule. Einem angebornen Drange folgend steuerte diese Schule mit vollen Segeln in den Zauber des poetischen Mittelalters hinein, und die Verherrlichung dieses Zeitalters gewann mehr und mehr eine katholische Färbung. Viele Konversionen fanden statt. Wir gestehen, daß wir mit Befremden folgende Stelle im "Katholiken" (a. a. O. S. 63) lasen: "Schließlich bemerke ich noch, daß in Schillers Zeit allerdings romantische Konversionen zur katholischen Kirche mehrfach stattgefunden; und es muß z. B. jedem Leser des Briefwechsels zwi schen Gentz und Adam Müller einen eigenthümlichen Eindruck machen, daß Gentz sich bemühen mußte, letzteren, lange nach seinem Uebertritt zum Katholicismus, sogar noch zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zu bewegen! Gewiß wird Daumer selbst sich mit uns darüber freuen, daß diese romantischen Conversionen, die kein System-, sondern lediglich ein Costümwechsel waren und unserer Kirche nur geschadet haben, längst vorüber sind." Wozu nun das; wenn es nicht ein kränkender Wink mit dem Zaunpfahl sein soll? Haben wir denn nicht auch dann gewonnen, wenn wir für Schiller eine romantische Conversion nachgewiesen haben? Allerdings, denn dann hat der unbedingte Fortschritt das Recht verloren, Schillers Bild auf seine Fahne zu heften. Aber die romantische Schule hat schon auch andere Conversionen gesehen! Der Vorläufer der Romantiker, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, legte schon 1794 in seiner "Reise durch Deutschland, die Schweiz, Italien und Sizilien" bei Beurtheilung katholischer Verhältnisse eine Unbefangenheit und Partheilosigkeit an den Tag, wie sie damals bei unseren größten Geistern trotz ihres Weltbürgerthums noch überaus rar war. Am 1. Juni 1800 trat er zu Münster mit seiner Familie zur Kirche zurück und ist eine Zierde derselben geworden. Ihm folgte auf gleicher Bahn zu gleichem Ziele der Hauptstifter der romantischen Schule, Karl Wilhelm Friedrich Schlegel, der 1803 zu Köln convertirte. Beinahe noch größeres Aufsehen machte die Conversion des früher überaus liberalen Romantikers Friedrich Ludwig Zacharias Werner, der in seinem "24. Februar" das einzige ebenbürtige Seitenstück zu Schillers "Braut von Messina" geliefert hat. Schon seine vortrefflichen "Söhne des Thales" (1800) waren "ein Bündniß mit der altkatholischen Mutterkirche," in deren Schooß er zu Rom 1811 auch wirklich zurücktrat, 1817 wurde er Liguorianer. Wir übergehen die romantische Künstlerschule, ebenso die Geschichte der Romantik in Frankreich. Das Angeführte mag genügen, den Geist der romantischen Schule zu characterisiren; und nun sind wir begierig, zu erfahren, welche Stellung Schiller zu derselben eingenommen habe. Gustav Schwab, Schillers feinster Biograph, soll referiren.

"Anfangs hießen die Schlegel gute Requisitionen und treffliche Köpfe. Der jüngere, Friedrich, kam im August 1796 dem Bruder nach, machte einen recht guten Eindruck, verspricht viel. Aber schon in den Xenien werden die Brüder etwas rebellisch behandelt. . .  Als es schien, Schlegels wollten nach Dresden ziehen, grämten sich unsere Dichter (Schiller und Göthe) nicht darob. Endlich sprach Schiller zu Göthe (Juli 1798) über beide: Einen gewissen Ernst und ein tieferes Eindringen in die Sachen kann ich den beiden Schlegeln, und dem jüngeren insbesondere, nicht absprechen.. . . . . Die Schlegel'sche Schule, sonst von Schiller bekämpft und vielleicht gerade deßwegen mit Widerwillen behandelt, weil sie seinen Geschmack doch im Geheimen zu influenziren anfing, zog ihn auf einmal unerwartet in andere Bahnen hinein. Auch er wollte phantastisch, auch er wollte romantisch werden. Das aber mußte ihm mißlingen. Seine Natur war aufs Heldenmäßige und rein Menschliche angelegt: heroisch und human war ihm Wahlspruch, wie Hoffmeister in der ganzen Beurtheilung des Dichters erschöpfend nachweist. Fürs Phantastische und Geisterhafte, für diesen Fremdling ans der andern Welt, fehlte ihm das Organ, ihn ganz zu schauen; das Zauberwort, ihn in die Sichtbarkeit zu bannen."

So meint Schwab; in wie weit er Recht hat, darüber haben wir keine vollbewußte theoretische Ansicht; wissen nur, daß sich Schiller recht gern auf romantischer Laute versuchte. Die katholischen Stellen seiner Tragödien, besonders die Chöre der Braut, das Mädchen aus der Fremde, des Mädchens Klage, an Emma, Sehnsucht, Thekla eine Geisterstimme u. s. f. sind romantische Weisen; der Leser mag entscheiden, ob sie "mißlungen" find. Schiller hatte sich tief mit der Romantik eingelassen; und wir begreifen, "wie so etwas aus seiner Seele kommen konnte." Vielleicht wären noch ganz andere Dinge zu Tage getreten, wenn er wie Zacharias Werner bis 1823 gelebt hätte. Merkwürdig genug ist auch Werner ein Client des Primas Dalberg gewesen: sein "24. Februar," der Erguß des glühendsten Patriotismus, trug ihm von diesem "undeutschen Fürsten" einen Jahresgehalt von 1000 sl. und später den Hofrathstitel ein. Nie hatte Dalberg gänzlich aufgehört, deutsch und katholisch zu sein.

Es fällt uns nicht ein, Schillern zu den Romantikern zu zählen, er war und blieb der Dichter der Reflexion; allein er arbeitete sich unter dem Einfluß der romantischen Schule aus dem Antichristenthum seiner ersten Dichterperiode heraus, gleichwie er sich schon früher durch die Erfahrungen der französischen Revolution und die Gründung einer socialen Existenz von seinen politischen und socialen Paradoxen gereiniget hatte. Im Jahre 1794 begann dieser Läuterungsproceß, im "Tell" ist er am weitesten vorgeschritten, alle dazwischen liegenden Werke sind Produkte der successiven Entwickelung; so steht uns die Schillerfrage.

Resumiren wir! Es kann nach Prüfung des Ganzen darüber kein Zweifel mehr bestehen, daß mit dem Dichter auch der Mann sich bekehrt hat. Das liegt schon in der Natur der aufgeführten Regulatoren der Schiller'schen Denkungsart, welche ihrem Wesen nach ursprünglich auf des Mannes Herz wirken, und dann erst mittelbar durch diese Wirksamkeit die Dichtung influenziren können. Wenn aus den ungläubigen Accorden der ersten Periode Schillers Unglaube hervortönt, ; warum nicht auch aus den gläubigen Stellen des "Tell" sein Glaube? In einzelnen Gedichten, an isolirten Stellen können wohl Stoff, Publikum, Zweck und Mode den Dichter veranlassen, einen äolischen Schlauch zu öffnen, dessen Inhalt nicht zu seiner Richtung paßt, um einen Abstecher nach irgend einem schönen Eyland zu machen; aber wenn der Kiel sich schwenkt und constant die neue Richtung verfolgt; wenn das Fahrzeug immer mehr Raaen aufzieht und die Segel sich mehren; dann hat ; es sich ein anderes Ziel seiner Fahrt gesetzt. Daß dieses neue Ziel Schillers unser Heiland Jesus Christus war, getrauen wir uns wohl zu behaupten. Wie bei den alten Germanen in der ehelichen Treue und in der Hingabe der Gefolgschaften an ihren Herrn eine natürliche Disposition für das Christenthum sich fand, weß halb denn auch die deutschen Stämme nach ihrer Bekehrung sofort als die Träger der ganzen christlichen Welt auftreten, so finden wir in Schillers Idealen dieselbe natürliche Disposition für den Dienst Jesu Christi, in ihnen ein Ziel der Vollkommenheit, zu dem wir uns abmühen, und unwillkürlich fragen wir: sind diesem Manne nie die Schuppen von den Augen gefallen, und hat er nicht erkannt, daß Jesus der Christus ist? Es ist doch der Schritt so leicht und so natürlich von seinem Standpunkte aus! Aus dem Naturbecher hatte Göthe seine Gabe sich angetrunken; aber den Kelch des höheren Lebens über der Natur hat er verschmäht; Schillers Lebensprincip war von Anfang an das Ideal: sollte dieser Riesengeist ewig vergebens nach dem Urquell des Ideals gerungen haben? Die Indicien find dagegen, wie wir gesehen haben, und bewähren den Muth der Wahrheit und den Glauben an das Ideal. Einige dieser Indicien haben wir noch nachzutragen, nämlich Schillers Aeußerungen über das Christenthum in den letzten Tagen seines Lebens.

"Immer inniger wurde die Ehrfurcht," erzählt Frau v. Wolzogen, "mit welcher ihn gegen das Ende seines Lebens auf der einen Seite die unendliche Tiefe der Natur, auf der andern Seite die welthistorische Wirkung der Lehre Christi, und die reine heilige Gestalt ihres Stifters erfüllte. Einmal, als er die Schwägerin im Livius lesen sah, bemerkte er: da der Glanz und die Hoheit des Lebens, die nur in der Freiheit des Menschen erblühen konnten, untergegangen war, so mußte nothwendig Neues entstehen. Das Christenthum hat die Geistigkeit des Daseins erhöht und der Menschheit ein neues Gepräge aufgedrückt, indem es der Seele eine höhere Aussicht eröffnete. Er hatte Worte der Herzens-Demuth, der wahren Religion; von Liebe, von Gott sprach er nur in den reinsten Momenten. Glauben sollen kann man ja keinem Denkenden zumuthen — Glauben finden war ihm immer wohlthätig. Beispiele immediater Gotteshilfe in unverschuldeter Noth erkannte er mit Rührung; die Lehre des Erlösers ehrte er immer als den höchsten Ausspruch in der Menschheit. Ja, der Ruf des Herrn drang an sein Herz!" Lebhaft empfand Schiller die Nothwendigkeit einer Reform des Protestantismus in positiver Weise; nach Analogie der gleichzeitigen Regeneration der katholischen Kirche Frankreichs; er selbst erklärte sich zur Mitwirkung bereit; im Uebrigen empfahl er Schleiermacher. [6]

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Anmerkungen:
  1. An einige ganz minutiöse Züge sei erinnert, wie sie uns eben beifallen. Bei Attinghausens Tod läutet die Sterbeglocke, was bei Protestanten nicht Sitte ist; Prinz Dimitri trägt auf der Brust ein goldenes Kreuzchen, wovon die Lutheraner auch nichts wissen. Maria trägt allein unter den schwarzen Nonnen einen weißen Schleier, hat also die ewigen Gelübde, deren Zeichen der schwarze Weyhel ist, nicht abgelegt, und der Dichter kann sie füglich aus bem Kloster holen, da er ihrer bedarf. Vielleicht könnte sogar der freundliche katholische Leser das griechische Kreuz nicht so orthodox machen, wie Schiller durch Hiob im 'Demetrius:' 'Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Geistes, der ausgeht von dem Vater.'
  2. Jetzt wird das Gedicht 'Ideal und Leben' überschrieben.
  3. Schillers Leben verfaßt durch Caroline v. Wolzogen. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1846. Bes. S. 826 ff.
  4. Wir fassen also den Brief nicht so auf, wie der Referent über 'Schiller als Historiker' im 'Katholiken', Januarheft 1863 S. 80.
  5. Vgl. Clemens Perthes, Politische Zustände und Personen in Deutschland zur Zeit der französischen Herrschaft. Gotha, Perthes 1862, 1, 369 ff.
  6. Das Nähere kann nachgesehen werden bei Gustav Schwab in seinem 'Leben Schillers' S. 761 und 762; in Hengstenbergs Ev. Kirchenztg. a. a. O. und bei Daumer S. 86 ff.
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