Der Tell.

Denn mich trieb ein mächtig Hoffen
Und ein dunkles Glaubenswort.
Wandle, rief's, der Weg ist offen,
Immer nach dem Aufgang fort.

"Die Ideale."

Nur der kann, sagt Perthes, vornehm gegen Schiller sich ereifern, der nicht weiß, wie dem zu Muthe ist, der sich ausstreckt nach dem Umgang mit dem lebendigen Gott und nichts findet in seiner Zeit als den kalten, in astronomischer Erhabenheit thronenden Götzen des Verstandes. Schiller hat sich ausgestreckt und hat gerungen; aber in dem heißen Wettgange der "Braut von Messina" hat er nichts errungen, als die "Beatrix," die er selbst in der Scene stehen ließ, ohne zu wissen, was mit ihr anzufangen wäre. Mein ein "dunkles Glaubenswort" hatte er gehört und wieder wandelte er dem Aufgange zu. Sein nächster Wurf war "der Tell" und dieser hat einen außerordentlichen Vorsprung ins positive Christenthum hinein vor der "Braut von Messina" voraus.

Schiller ist der Dichter der Freiheit; die Freiheit war ihm Natur, und darum klingt sie aus allen Strängen, mit denen Gott ihm das Herz besaitet hatte. Der "Tell" ist das Drama der Freiheit. Schillers Freiheitsmuse stand in seiner ersten dichterischen Productionsperiode der gesellschaftlichen Ordnung feindlich gegenüber: die gewaltsame Lostrennung aus den Armen der liebgewonnenen Theologie, der Druck der Karlsschule, die darauf folgenden Vexationen des Schicksals hatten sein Herz tief verbittert und diese Verbitterung hat in den "Räubern" und "Don Carlos" Gestalt gewonnen; die französische Revolution hatte Schillern zum Mitbürger erklärt; aber gerade vor den Gräueln der französischen Revolution flüchtete sich seine Muse in's Reich des Sittlichen zurück, und seine politischen Ansichten bogen sich um. Sie schlugen aber nicht um; noch in Betreff des Wallenstein streiten sich ja die Gelehrten, ob er im Interesse der Ordnung, oder der Unordnung geschrieben sei; ob Schillers Muse 1799 Republikanerin war, oder absolutistisch gesinnt; ob Wallerstein der Mann gewordene Posa sei oder nicht. Im "Tell" ist Schillers Freiheitsidee ins Klare durchgebrochen, sie ist sittlich geläutert und steht mit der gesellschaftlichen Ordnung in gutem Einvernehmen, ja sie coincidirt mit der ideellen Freiheitsidee der Gesammtmenschheit. Daß Schiller schon längst nicht mehr an der Sturmglocke der Straßenemeute zog, davon war die Welt überzeugt, seit sie athemlos den Wundertönen seiner „Glocke" gelauscht; aber sein guter Genius scheint den "Liebling der Nation" gedrängt zu haben, seinem Volke die Freiheit auch in ihrer himmlischen Schöne zu gestalten, nachdem er sie zweimal hatte zur Hyäne werden lassen. Schiller hat der Gekränkten glänzende Satisfaction gegeben.

Dem "Tell" liegt die bekannte Ueberlieferung von der Verschwörung bei- Dreiunddreißig auf dem Rütli, deren Veranlassung und Folgen zu Grunde. Nicht Auf lehnung gegen die zu Recht bestehende Gewalt, nicht Revolution ist es, was die Männer der Waldstätte betreiben, es ist ein Kampf für das zu Recht Bestehende, und indem dieses durch die Revolution von Oben, durch die Ausstellung der Vögte in seiner Existenz bereits beeinträchtiget war, könnte man es eine Contrerevolution nennen.

"Schwört nicht zu Oesterreich, wie ich euch sagte,
Haltet fest am Reich und wacker, wie bisher."

Diese Verse, welche die Kardinalfrage ins Drama einführen, können zugleich als das Programm der Action gelten. Die Waldstätte waren von jeher frei gewesen, frei hatten sie später des Reiches Schutz und Schirm gewählt:

"Denn herrenlos ist auch der Frei'ste nicht,
Ein Oberhaupt muß fein, ein höchster Richter,
Wo man das Recht mag schöpfen in dem Streit."

Mit des Reiches Schutz hatten sie keine andere Pflicht übernommen, als die des Heerbannes, im Uebrigen waren sie frei, wie jeder freie Mann. Kaiserliche Briefe verbürgten ihr Recht. Da gelüstete es Albrecht von Oesterreich, seine Hausmacht durch die Schweiz zu verstärken, und als die freien Männer nicht gutwillig unter Oesterreichs Schild fliehen wollten, so schickte er ihnen in seiner Eigenschaft als deutscher König Landvögte, welche den Desiderien ihres Herrn durch Raub, Nothzucht, Einkerkerung, Mord und Blendung Nachdruck geben. Welches freie Volk wäre verpflichtet, solchen Schimpf zu erdulden? Die Verschwörung der Eidgenossen intendirt nicht den Sturz einer zu Recht bestehenden Gewalt; sie bezweckt die Erhaltung einer solchen gewaltthätigen Neuerungen gegenüber:

"Schwört nicht zu Oesterreich; haltet fest am Reich!"

Tell und die Eidgenossen sind nicht die Neuerer, sind nicht die Helden des Fortschrittes; diese werden durch Rudenz und die Vögte repräsentirt; sie sind die Altschweizer, sie Parthei der Conservativen, sie agiren nicht, sie betreiben die Reaction; auf ihrer Fahne steht: "die alten Zeiten und die alte Schweiz!" Ueber die Moralität eines bewaffneten Aufstandes für Freiheit und Recht überhaupt ist jeder im Reinen, der nicht Puritaner ist; eine andere Frage könnte über den Zeitpunkt erhoben werden, in welchem das Recht sich dem Volke zu dergleichen Reactionen liirt. Dieser Moment ist aber offenbar dann eingetreten, wenn ein ganzes Volk sich in einer Lage befindet, welche dem Einzelnen die Nothwehr erlaubt. So aber waren damals die Waldstätte situirt.

". . . . . Jedem Wesen ward
Ein Nothgewehr in der Verzweiflung Angst;
ES stell! sich der erschöpft« Hirsch und zeigt Der Meute sein befürchtetes Geweih,
Die Gemse reißt den Jäger in den Abgrund." —

Alles war vogelfrei, Leben und Eigenthum, Frauenehre und Männerfreiheit, das Auge war in seiner Höhle nicht mehr sicher. An dem Kaiser wäre es gewesen, Schutz und Schirm an seinen Getreuen zu üben; aber Kaiser war eben der Herzog von Oesterreich.

"Wäre ein Obmann zwischen uns und Oesterreich,
So möchte Recht entscheiden und Gesetz.
Doch der uns unterdriickt, ist unser Kaiser."

In dieser Lage beschlossen die Männer sich mit Gewalt ihr Recht zu verschaffen; aber hiebei sollte keines Andern Recht verletzt werden; der Herzog von Oester reich mit seinen Vögten sollte vor die Thüre gesetzt, das Verhältniß zum Kaiser nicht alterirt werden. Nicht die rechtmäßige Gewalt wurde abgestreift, eine fremde Invasion wurde zurückgedrängt, und dieses Alles sollte dem Schwure gemäß ohne Blutvergießen geschehen. So darf ein edles Volk, so muß es seine Freiheit schützen! Aber Tell, der den Geßler erschoß und zwar meuchlings?

Die Person Tells ist von idealer Schönheit, einer der schönsten Charaktere, die Schiller geschaffen, und wie wir glauben, mackellos. Er ist der Held der Freiheit, aber nicht mehr jener kosmopolitisch-philantropische Freiheitsdeclamateur, der uns im Posa entgegentritt; sondern der echte Sohn der freien Berge, dem in gesundem Leibe die gesunde Seele wohnt. Mit Tells erstem Worte ist auch schon der Grundzug seines ganzen Charakters angedeutet.

"Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.
Vertrau' auf Gott und rette den Bedrängten!"

Das ist der Tell; ein Mann der Idee, der sich selbst vergißt, auf Gott vertraut und die bedrängte Freiheit rettet. Er ist nicht der Mann des politischen Weltschmerzes, dessen Sympathien jeder hat, der seiner Obrigkeit Schwierigkeiten bereitet; er will den Frieden; selbst zur Zeit des höchsten Druckes mahnt er noch zur Geduld:

"Die einz'gieThat ist jetzt Geduld und Schweigen.
Wenn sich der Föhn erhebt aus seinen Schlünden,
Löscht man die Feuer aus, die Schiffe suchen
Eilends den Hafen, und der mächtige Geist
Geht ohne Schaden spurlos über die Erde.
Ein Jeder lebe still bei sich daheim;
Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden."

Nicht einmal unter den Eidgenossen auf dem Rütli ist Tell zu erblicken; als er aber von dem tyrannischen Vogt auf eine höchst muthwillige Weise in den Conflikt gezogen ist, da richtet er sich auf in seiner heroischen Größe. Was sichert der Scene bei der Stange ewig den gewaltigen Effect? Das wundervolle Benehmen Tells. Er provocirt den Wütherich nicht; er beugt sich vor ihm soweit ein freier Mann sich beugen kann; dennoch muß er auf sein eigen Kind den Bogen richten. Und als er gethan, was ihm das Mutterherz nicht vergessen konnte, mißbraucht der Tyrann seine Ritterparole, um dem arglosen Natursohn ein Wort zu entlocken, das neuerdings den Vorwand zu Ketten und Tod abgeben muß. Geßler hatte Tells Tod beschlossen ohne Grund und ohne Recht; entweder Tell mußte sterben oder der Vogt: wer möchte den Pfeil vom Bogen nehmen, der auf jenes entmenschte Herz sich richtet? Das war Nothwehr; eine solche Bestie, wie der Vogt, hat sich des allgemeinen Rechtsbodens begeben; der Pfeil, welcher die gottlose Rede Geßlers abschneidet, erscheint wie von Gott selbst gesendet, und man hat nur ein Gefühl: die Freude, daß der Hund endlich am Boden liegt. Übrigens ist die Fabel des Stückes nicht erfunden, Schiller hatte die Tradition sorgfältig studirt. Nach A. W. Schlegel ist der Dichter hier ganz zur Poesie der Ge schichte zurückgekehrt. Wäre der Stoff Eigenthum des Dichters gewesen, so hätte Geßler wahrscheinlich in anderer Weise geendet; wenigstens tritt deutlich das Bestreben des Dichters zu Tage, ja jeden Verdacht ferne zu halten, als billige "der Tell" den politischen Mord. Geßler begegnet dem bewaffneten Tell in einer abgelegenen Hohlschlucht, er selbst hält sich für verloren; dieser aber läßt ihn ruhig ziehen. In dem Augenblicke als ihn der tödtliche Pfeil treffen soll, legt ihm der Dichter eine mißhandelte Mutter vor die Füße, und nur dieser Pfeil hält ihn ab, sie zu überreiten. Am stärksten aber ist die Scene mit Johannes Parricida. Diesem hatte gekränkte Leidenschaft den Mordstahl gelenkt und ihn zieht nun der Dichter mit Gewalt herbei und stellt ihn neben seinen Helden, weil contraria juxta se posita magis elucescunt. Tell selbst erklärt den Unterschied ihrer Beider That:

. . . . . . . . . . Unglücklicher!
Darfst du der Ehrsucht blut'ge Schuld vermengen
Mit der gerechten Nothwehr eines Vaters?
Hast du der Kinder liebes Haupt vertheidiget?
Des Herdes Heiligthum beschützt? Das Schrecklichste,
Das Letzte von den Deinen abgewehrt?
Zum Himmel heb' ich meine reinen Hände,
Verfluche dich und deine That. — Gerächt
Hab ich die heilige Natur, die du
Geschändet — Nichts theil' ich mit dir — Gemordet
Hast du, ich hab' mein Theuerstes vertheidigt."

Dieses Benehmen dem Parriciden gegenüber haben die Kritiker "roh" gefunden; wir sind Schillern unendlich dankbar für diesen "apologetischen Mißgriff." Das letzte und trefflichste Stück Schillers hält uns sein politisches Glaubensbekenntniß entgegen: Freiheit und Recht. So stand Schiller 1804 innerlich versöhnt mit der Societät und der Ordnung; nur die Lüge kann sich auf ihn als den Dichter progressistisch-revolutionärer Freiheitsideen berufen; aus dem Bürger der französischen Revolution ist ein deutscher Edelmann geworden.

Politisch hatte Schiller 1804 convertirt. Aber auch seine religiösen Uebezeugungen hatten sich geändert, so daß er auch in diesem Sinne ein Convertit war, wenn eine vollständige Metamorphose der religiösen Ansicht, abgesehen vom formellen Uebertritt, Conversion genannt werden darf. Wir theilen in diesem Punkte vollkommen Daumers Meinung, obschon wir sie, keck und abrupt wie sie in die Oeffenttichkeit trat, überall nur ein bedenkliches Kopfschütteln erregen sahen. Ueber den Modus, wie gesagt, und über die Zeit des Vorganges diffentiren wir. Unserem Erachten nach muß "der Teil" das Hauptdocument für unsere Argumentation bilden; er enthält viele Momente, die nicht genug betont werben können. Könnte "der Tell" in Abstraktion vom Namen des Dichters und allen anderen äußeren Anhaltspunkten einem unterrichteten Manne mit dem Ansinnen vorgelegt werben, den religiösen Standpunktdbes Dichters daraus zu eruiren, so würde Schiller ganz sicher katholisch werden müssen. Die protestantische Konfession des Dichters, oder auch nur seine frühere Emancipation vom Christenthume verräth sich nicht durch die leiseste Regung; Vieles aber erinnert an die altkatholische Mutterkirche. Zwischen dem "Tell" und der "Braut" liegt nur ein Jahr, in letzterem Stücke zeigte sich Schillers religiöser Gährungsproceß im Stadium der höchsten Krisis; aber als Symptome nahmen wir wahr: ängstliches Ringen nach einer Religion, große Vorurteilslosigkeit gegen und theilweise Vorliebe für die katholische Kirche. Isabella nannte den Manuel ihren "bessern Sohn."

Wie uns scheint, haben wir klar genug ausgesprochen, daß wir den katholisirenden Stellen der Dramen Schillers keine allzugroße Bedeutung beimessen können. Man will oft jedem Wort, jedem Verse des Dichters eine tiefe Ueberzeugung unterlegen, während er selbst vielleicht nur die Phantasie spielen ließ, so daß er lächeln müßte, wenn er sähe, welch tiefe Gedanken und Combinationen Andere aus den Einzelnheiten seiner Laune herauszubringen wissen. Gewiß ist Vieles nur Staffage und Verzierung, um die Kost pikanter zu machen. Aber auch das ist gewiß, daß durch ächte Kunstwerke hin eine Tendenz waltet. Ist nun die Achtung vor der Religion im "Tell" Tendenz; wird sie mit Absichtlichkeit eingeleitet: dann haben wir gewonnen. Uns scheint, daß Schiller sein Ideal der Freiheit mit Absicht katholisch gemacht hat.

Es ist ganz richtig, was M. Carriere von einem Dramatiker sagt: "Er darf von Leuten mit der Vor stellungsweise des aufgeklärten 18. Jahrhunderts keine Menschenopfer bringen lassen; er darf einer Bathseba keine Empfindungen modern französischer Romanheldinen leihen," Schiller darf also seine vorreformatorischen Schweizer nicht antikatholisch, nicht zwinglianisch denken lassen. Allein was zwingt ihn, aus Tell und seinen Schweizern so fromme, so warme Katholiken zu machen; Göthe, dem der Gedanke des "Tell" ursprünglich angehörte, wollte in demselben eine Art Demos vorstellen und ihn als einen kolossalen Lastträger bilden; Schiller hat ihn in seiner jetzigen edlen und christlichen Gestalt geschaffen. "Vertrau' auf Gott:" mit diesen Worten tritt Tell auf den Schauplatz; "in Gottes Namen" ergreift er das Ruder, um den verfolgten Baumgarten über den stürmischen See zu retten; "wohl aus des Vogts Gewalt errett' ich euch; aus Sturmesnöthen muß ein Anderer retten:" setzt er vertrauend hinzu. Die Freiheit der Schweiz erkennt er als Gottes Willen: "Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet." Beim Abschiede tröstet er sein ahnungsvolles Weib: „Wer auf Gott vertraut und die gelenke Kraft, ringt sich aus jeder Noth;" und bei seiner gewaltsamen Wegführung sein Kind: "dort droben ist dein Vater, den ruf an;" für alle Anderen hat er nur das Wort: „mir wird Gott helfen." Tell wird gebunden über den See geführt, "da verhängt es Gott," daß sich ein mörderisches Wetter erhebt; gefragt, ob er sich die Barke zu retten getraue, antwortet er: "ja mit Gottes Hilfe"; vor seinem Sprung auf die Felswand "fleht er die Gnade Gottes ! an"; als die Fischer nicht begreifen, wie er dem Sturme entkommen, erklärt er es ihnen "durch Gottes gnädige , Fürsehung," und ihre Freundlichkeit dankt er' mit den Worten: "Gott lohn' es euch!" Selbst in jener furcht baren Situation an der hohlen Gasse bei Küßnacht, in jenem weltberühmten schauerlichen Monolog blickt Gott aus dem Gewölke der Gedanken, die an seiner Seele vorüberjagen: "Mach' deine Rechnung mit dem Himmel Vogt! . . . Ich gelobte mir im Innern mit furchtbarem Eidschwur, den nur Gott gehört.... Es lebt ein Gott zu strafen und zu rächen." Keine unchristliche Aeußerung, nicht ein freigeisterisches Wort entfährt dem Helden; vom Schauplatz seiner That eilt er hinweg zu heiliger Stätte und hängt seinen Bogen als Weihgeschenk auf! Bei der heimathlichen Hütte angelangt, ruft seinem treuen Weibe zu: "O Hedwig, Hedwig, Mutter meiner Kinder, Gott hat geholfen! Uns trennt kein Tyrann mehr." Hedwig zaudert einen Augenblick, seine Hand zu ergreifen, diese Hand — „Hat euch vertheidiget" fällt Teil ein, "und das Land gerettet, ich darf sie frei zum Himmel heben." Seinen Abscheu vor der That des Parriciden haben wir bereits bemerkt; er allein verweigert ihm das Asyl, das alle anderen Eidgenossen ihm gewährt hätten. Das Allermerkwürdigste aber ist der Rath, den er ihm gibt:

"Höret, was mir Gott in's Herz gibt — Ihr müßt fort
In's Land Italien, nach Sanct Peters Stadt!
Dort werft Euch dem Papst zu Füßen, beichtet
Ihm Eure Schuld und löset Eure Seele;
Was er Euch thut, das nehmt von Gott."

Aber nicht bloß Tell ist ein gläubiger Katholik; alle Andern sind es, die bei dem großen Gründungsact der freien Schweiz mit thätig sind; überall greifen sie mit Gott an, dulden mit Gott und siegen mit Gott. Dem Muthigen hilft Gott; die Unschuld hat im Himmel einen Freund; nur mit Gott siegt der Kühne. Während die Männer auf dem Rütli tagen, erscheint ein Regenbogen mitten in der Nacht; Tells Befreiung aus dem Schiff ist ihnen "ein sichtbar Wunder Gottes"; sein berühmter Schuß ganz Gottes Werk: "Gott sei gelobt," ruft Stauffacher aus, als der Apfel gefallen, und Bertha: „o gütiger Himmel!" Pfarrer Rösselmann aber sagte: „Der Schuß war gut, doch wehe dem, der ihn dazu getrieben, daß er Gott versuchte!" Tell war der Mann, "an dem sich Gottes Hand sichtbar verkündet," und Hedwig "soll Gottes gnädige Schickung preisen, die es so gut gelenkt." Geßler ist der Mann, "welchen Gott geschlagen."

Weiteres Detail soll uns nicht länger mehr abhalten zu erwägen, ob aus all dem ein Schluß auf die religiöse Stimmung des Dichters gezogen werden könne. Wir glauben, das Resultat müsse affirmativ ausfallen. Einzelne Stellen im Munde dramatischer Personen entscheiden nichts; wenn aber das ganze Drama auf christlicher Grundlage basirt; wenn der Zweck ein sittlicher ist; wenn der Hauptcharakter aus christlichem Stoffe gebildet, nach christlichen Normen denkt, spricht und handelt; wenn alle übrigen Gruppen dem analog sich formiren; wenn also der ganze Apparat den christlichen Stempel trägt; wenn gar kein Zeichen die Simulation andeutet; wenn der Dichter die christlichen Farben sogar höher aufträgt, als Zweck und Klugheit es wünschen lassen; dann ist seine Sympathie wahrlich nicht mehr in Zweifel zu ziehen; dann hat sein Herz sich entschieden.

"Es kann keinem Zweifel unterliegen, sagt "der Katholik"[1], daß man aus unseren deutschen Klassikern die herrlichsten Zeugnisse für katholische Wahrheiten entlehnen kann. Aber eben so gewiß ist es auch, daß man nicht minder in ihnen auch jene ganze negative Strömung nachzuweisen vermag, die in dem Sumpfe des modernen Heidenthums endete." In dieser Allgemeinheit ist der Satz ganz richtig; aber auf den "Tell" läßt sich dessen zweite Hälfte absolut gar nicht anwenden, und eben das ist es, was wir besonders hoch anschlagen. Bemerkt wurde bereits, daß der Auftritt zwischen Tell und dem Parriciden für roh und für einen apologetischen Mißgriff erklärt wurde; eine Verweisung an den Papst ist aber auch eine gründliche Geduldprobe für ein protestantisches Theaterpublikum. Auch sonst klingen noch ganz specifisch katholische Töne an, die recht wohl hätten wegbleiben können, die aber Schillers Muse lieb zu sein scheinen. Stauffacher beauftragt seine Gertrud:

"Dem Pilger, der zum Gotteshause wallt,
Dem frommen Mönch, der für sein Kloster sammelt,
Gib reichlich und entlaß ihn wohlgepflegt."

Hedwig sagt zum Parriciden im Mönchshabit:

. . .  Ihr seid kein Mönch! Ihr seid
Es nicht! Der Friede wohnt in diesem Kleide!
In euern Zügen wohnt der Friede nicht."

Von Gottes Gerechtigkeit ist oft die Rede; Rösselmann aber muß dem Geßler in's Gesicht sagen:

"O denkt, daß ein Gott im Himmel ist,
Dem ihr müßt Rede steh'n für eure Thaten!"

Die Macht des Gebetes ist plastisch dargestellt in dem Vers:

". . . . Knabe bete nicht!
Greif' nicht dem Richter in den Arm!"

Dem Johannes Parricida ruft Tell noch nach:

"Vor jedem Kreuze fallet hin und büßet
Mit heißen Reuethränen Euere Schuld!"

Auf das ganz unmotivirte Erscheinen der barmherzigen Brüder am Ende des 4. Actes; deßgleichen auf den Segen des Pfarrers Rösselmann bei der Stange und das Läuten der Sterbeglocke bei Attinghausens Tod legen wir kein Gewicht; das sind coups d'eclat, deren die "Maria Stuart" und "die Jungfrau von Orleans" eine Menge enthalten — Erscheinen der Maria mit dem Kreuze in der Hand, Beicht und Communion — und die zu dem oben erwähnten picanten Zierrath ressortiren. Eines muß noch erwähnt werden. Der Gertrud scheinen in der 2. Scene des 1. Aktes Selbstmordsgedanken beigelegt zu sein; es ist nur Schein. Aus dem Contexte erhellt, daß das brave Weib nur entschlossen ist, in der Alternative zwischen Schändung und Tod das kleinere Uebel zu wählen.

Wenn es denn erlaubt ist, aus Schillers "Tell" einen Schluß auf seine religiöse Gesinnung zu machen, so müssen wir sagen, er habe zum Christenthume convertirt und gehöre dem Protestantismus nur seiner Geburt und äußeren Stellung nach an. Ungeheuer ist der Fortschritt "Tells" vor der "Braut von Messina." Bisher hatte sich Schiller gefühlt in der Gewalt des furchtbaren Schicksals, in soferne dieses als absolut nothwendig vom Willen und Thun des Menschen mehr oder minder unabhängig gedacht wird. So sehr war er Naturalist gewesen, daß ihm die Natur, die ewige, gerechte, die allschaffende jede andere Gottheit unnöthig machte. Die "Johanna" nehmen wir am allerwenigsten aus; denn gerade hier unterliegt die höchste Gottbegeisterung der Natur und mit der Natur dem Verhängniß; selbst dieser gewaltige dramatische Stoff konnte nicht durch das Medium der Schillerschen Phantasie geleitet werden, ohne als Schicksalstragödie zu Tage zu treten. Wir untersuchen nicht, ob das Schicksal Schillers der Geist jener Melpomene sei, welche einst dem alten Dichterfürsten von Marathon sich geoffenbaret hatte. Daß Schiller nicht an das antike Schicksal geglaubt hat, das ist klar; aber als dramatisches Motiv hat er das antike gehandhabt. Der Begriff der sittlichen Nothwendigkeit, welchen Pallete so geistvoll dem tragischen Fatum Schillers supponirt, der war Schillers persönliche Ansicht; wenigstens ist seine "Braut" nicht unter dem Lichte des christlichen Glaubens an die Vorsehung entstanden. Im Tell aber ist Alles der freibewußte, persönliche, der christliche Gott; das Wort Schicksal kommt im ganzen Drama nicht vor, obschon es recht gut stände im Munde eines Melchthal, Rudenz, ober der Bertha. [2] Früher war Schillern die Natur ewig gerecht und heilig und göttlich; im "Tell" wandeln ihn auch schon andere Gedanken an:

"O Unvernunft des blinden Elements!
Mußt du, um einen Schuldigen zu treffen,
Das Schiff mit sammt dem Steuermann verderben?"

So steht Schillers Schwanengesang als ein Denkmal des glorreichen Kampfes, in welchem ein Genie sich durch alle Hemmnisse des Irrthums und Schicksals zu den Grundsätzen einer männlichen, sittlichen und geordneten Freiheit durchrang, als ein unsterblicher Beweis der tiefen Wahrheit, daß die Freiheit von Natur aus katholisch ist.

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Anmerkungen:
  1. "Der Katholik" Zeitschrift für katholische Wissenschaft und kirchliches Leben. Redigirt von Dr. I. B.. Heinrich und Ch. Moufang. *3. Jhrg., S. 85.
  2. Doch ja; Johannes sagt zu Tell: 'Laßt mein Geschick Euch jammern!' Aber Jedermann sieht, daß hier das Schicksal ein Passivum ist, ein (Gegebenes, ein Loos. So heißt die Armuth, Krankheit, selbst Schönheit ein Schicksal. So nennt Shakspeare den Tob das Schicksal Aller. Ich weiß auch recht gut, daß das Schicksal im Demetrius' wieder figurirt; weiß aber auch, daß dort "die Vorsicht über dem Geschicke wacht." Das Christenthum hat das Wort Schicksal keineswegs in Acht und Aberacht erklärt; faßt es aber anders auf, als die Schicksalstragödie es thut.
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