Aus einem Rückblick auf das Vorhergehende dürfte klar hervorgehen: dass nichts hier auf die Feststellung einer einzigen – als ausschliesslich sittlich erkannten – Form des Geschlechtslebens abzielte. Aber weil nur die Festigkeit, die das Gesetz besitzt, die Gefühle und Sitten der Mehrzahl in tiefgehender Weise umbilden kann, bedarf es bis auf weiteres eines neuen Gesetzes, um das Wachstum der höheren Gefühle zu stützen, die schliesslich jedes Ehegesetz überflüssig machen werden.

Im Zusammenhang mit der Entwicklungslinie der geschlechtlichen Sittlichkeit wurde betont, dass die kirchliche und gesetzliche Feststellung des monogamischen Ideals als einziger Form der geschlechtlichen Sittlichkeit zur Folge hatte: dass man ohne weiteres annahm, dass die Forderungen der Evolution vollkommen mit den bestehenden Gesetzen und Sitten übereinstimmen; dass man darum nun – durch das Fehlen eines anerkannten Rechtes auf vielseitigere Erfahrungen – beinahe ebenso unwissend über die der Entwicklung der Menschheit günstigsten Formen der geschlechtlichen Sittlichkeit ist wie vor tausend Jahren; und dass daher die Lebensforderungen des Menschengeschlechts ebensowohl wie die Glücksforderungen des Individuums für ein erweitertes Recht auf solche Erfahrungen sprechen.

Niemand weiss, ob man nicht am Ende der neuen Wege wieder vor dem Rätsel der Sphinx stehen wird: dem Rätsel, wie die Eltern es vermeiden sollen, für die Kinder geopfert zu werden, oder diese für die Eltern. Das einzige Gewisse ist, dass man auf dem Wege, den man bisher wandelte, ebenfalls zu der Sphinx geführt wurde. Und alle zu ihren Füssen Zerrissenen beweisen, dass die Menschheit auf diesem Wege nicht der Lösung des Rätsels nahte!

Der hier überall leitende Gesichtspunkt war der, dass die Menschen – in dem Masse, in dem das Leben selbst des Lebens Sinn wird – auch in allen ihren Empfindungen und Werken immer bewusster von Rücksichten auf die Gattung bestimmt werden. Es ist folglich nur eine Zeitfrage, wann die Achtung der Gesellschaft für eine Geschlechtsverbindung nicht von der Form des Zusammenlebens abhängen wird, das zwei Menschen zu Eltern macht, sondern nur von dem Werte der Kinder, die sie zu neuen Gliedern in der Kette der Geschlechter schaffen. Männer und Frauen werden dann ihrer geistigen und körperlichen Vervollkommnung für die Geschlechtsaufgabe denselben religiösen Ernst widmen, den die Christen der Seligkeit ihrer Seele weihen. Anstatt göttlicher Gesetze über die Sittlichkeit des Geschlechtsverhältnisses wird der Wille zur Hebung des Menschengeschlechtes und die Verantwortung dafür die Stütze der Sitten sein. Aber die Überzeugung der Eltern, dass der Sinn des Lebens auch ihr eignes Leben ist, dass sie also nicht nur um der Kinder willen da sind, dürfte sie von anderen Gewissenspflichten befreien, die sie jetzt in bezug auf die Kinder binden, vor allem von der Pflicht, eine Verbindung aufrecht zu erhalten, in der sie selbst untergehen. Das Heim wird vielleicht mehr als jetzt eins mit der Mutter werden, was – weit davon entfernt, den Vater auszuschliessen – den Keim eines neuen und höheren »Familienrechts« in sich trägt.

Und wenn jedes Leben als Selbstzweck betrachtet wird, aus dem Gesichtspunkt, dass es niemals wieder gelebt werden kann und daher so voll und gross als nur möglich gelebt werden muss; wenn jede Persönlichkeit als ein nie zuvor seiender und nie wiederkehrender Lebenswert geschätzt wird, dann wird auch das erotische Glück oder Unglück eines Menschen nicht nur von grösserer Bedeutung für ihn selbst sein. Nein, es wird es auch für das Ganze: durch die Kinder und die Werke, die sein Glück der Menschheit schenken, sein Unglück ihr rauben kann.

Für sich selbst, sowie für andere wird das Individuum dann das Recht, dem Glück zu entsagen, ebenso gewissenhaft prüfen, wie man sich nun der Pflicht beugt, das Unglück zu tragen. Die Bedeutung des Zusammenlebens der Eltern für die Kinder wird auf die Art desselben übertragen werden, wenn man eingesehen hat, dass – im letzten Grunde – die neue Generation am meisten dadurch gewinnt, dass die Liebe allezeit und allenthalben als Voraussetzung für den höchsten Wert des Zusammenlebens aufgestellt wird.

Dies ist das Verheissungsvolle, das der neue Weg verspricht. Aber die meisten sehen die Verheissungen über den möglichen neuen Gefahren nicht. Diese Furcht lähmt stets den Mut, das Unerprobte zu wagen, um das Wertvolle zu finden!

Es ist erstaunlich, dass diese vor der Zukunft Bebenden niemals Trost in der Vergangenheit suchen! Sie würden dann z. B. finden, dass, als der Stamm aufhörte, eheschliessend zu sein, als der Vormund die Frau nicht länger in Unmündigkeit zu halten vermochte und der Mundmann sie nicht mehr von der Ehe abhalten konnte, ganz dieselbe »Auflösung der Gesellschaft und der Familie« geweissagt wurde, die nun bei freieren Formen der Ehe befürchtet wird! Aber dieselben Menschen, die heute über die früheren Befürchtungen lächeln, sind von der Stichhaltigkeit der letzteren überzeugt! Denn in keinem Falle ist der Mensch zaghafter im Glauben, als wenn es sich um das Vermögen seiner eigenen Natur handelt, äussere Bande durch innere zu ersetzen. Und doch, lange bevor die neuen Formen fertig sind, quellen die neuen Gefühle über, die sie füllen sollen! Die Zukunft historisch anzusehen, für das noch nicht Eingetroffene auf die gegebenen – guten oder bösen – Folgen derselben immer wirkenden Ursachen zu vertrauen, dies kommt jedoch den Gesellschafterhaltern nicht in den Sinn. Ihr Glaube an Gottes Leitung ist immer retrospektiv!

Die Lebensgläubigen wissen hingegen, dass die Lebensbedürfnisse das nährende Erdreich der Gefühle waren, die einstmals den Kern der Gesetze bildeten, von denen jetzt nur mehr die Halme übrig sind. Aber die Erde hat ihre nährende Kraft ebenso wenig erschöpft wie die Gefühle ihre lebenschaffende Macht! Die Lebensgläubigen messen darum den alten Halmen wenig Gewicht bei, sondern sie legen alles Gewicht darauf, dass die Erde ihre Tragkraft steigere.

Ein grosser und gesunder Lebenswille in bezug auf die erotischen Gefühle und Forderungen – dies ist es, was unsere Zeit braucht! Hier drohen von weiblicher Seite wirkliche Gefahren. Und unter anderem auch, um diese Gefahren abzuwenden, müssen neue Formen der Ehe geschaffen werden.

Immer mehr wertvolles und entwicklungsfähiges Menschenmaterial, dies ist es, was wir in erster Linie schaffen müssen. Die Möglichkeit, es zu erhalten, kann unter festen Formen des Geschlechtslebens im Niedergang begriffen sein, unter freien aber im Aufsteigen, und umgekehrt. Nicht nur weil die Gegenwart mehr Freiheit verlangt, sind ihre Forderungen verheissungsvoll, sondern weil die Forderungen sich immer mehr dem Mittelpunkt der Frage nähern – der Überzeugung, dass die Liebe die vornehmste Bedingung für die Lebenssteigerung der Menschheit und der Einzelnen ist.

Daraus folgt, dass das neue Ehegesetz zur Freiheit erziehen muss, wenn es auch um der Freiheit der Frau willen dem Manne einige seiner jetzigen Rechte nehmen und um der Kinder willen die jetzigen Freiheiten des Mannes wie die der Frau einschränken muss. Aber das eine wie das andere gereicht schliesslich der Liebe zum Gewinn.

Wer an eine für die Liebe und durch die Liebe vervollkommnete Menschheit glaubt, muss jedoch lernen, mit Jahrtausenden zu rechnen, nicht mit Jahrhunderten, noch weniger mit Jahrzehnten!

Denn die grosse Liebe kommt in derselben wunderbaren Weise zur Menschheit wie der Frühling zu den Ländern oberhalb des Polarkreises, wo man den Wipfel der Birke begrünt aus dem Schnee emporragen sieht, der nicht nur den Boden rings um sie, nein auch noch die unteren Zweige des Baumes selbst deckt!

Steht einmal der ganze Wald frühlingsgrün da, dann braucht das Ehegesetz nur den von dem französischen Revolutionär vorgeschlagenen – schon damals inhaltreichen, aber seither durch die Seele noch eines Jahrhunderts erweiterten – Paragraphen zu enthalten:

 

Die, die sich lieben, sind Mann und Frau.

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