Zweites Kapitel: Über die Theorie des Krieges

Zuerst verstand man unter Kriegskunst nur die Zubereitung der Streitkräfte

Man hatte früher unter dem Namen von Kriegskunst oder Kriegswissenschaften immer nur die Gesamtheit derjenigen Kenntnisse und Fertigkeiten verstanden, welche sich mit den materiellen Dingen beschäftigen. Die Einrichtung und Zubereitung und der Gebrauch der Waffen, der Bau von Festungen und Schanzen, der Organismus des Heeres und der Mechanismus seiner Bewegungen waren die Gegenstände dieser Kenntnisse und Fertigkeiten, und sie führten alle zur Darstellung einer im Krieg brauchbaren Streitkraft. Hier hatte man es mit einem materiellen Stoff, mit einer einseitigen Tätigkeit zu tun, es war im Grunde nichts als eine sich nach und nach vom Handwerk zu einer verfeinerten mechanischen Kunst erhebende Tätigkeit. Dies alles verhielt sich zum Kampf selbst nicht viel anders wie die Kunst des Schwertfegers zur Fechtkunst. Von dem Gebrauch im Augenblick der Gefahr und unter beständiger Wechselwirkung, von den eigentlichen Bewegungen des Geistes und Mutes in der ihnen angelegten Richtung war noch nicht die Rede.

In der Belagerungskunst kommt zuerst der Krieg selbst vor

In der Belagerungskunst zuerst war etwas von der Führung des Kampfes selbst, von der Bewegung des Geistes, dem diese Materien übergeben sind, sichtbar, aber meistens nur insofern er sich in neuen materiellen Gegenständen schnell verkörperte, wie Approchen, Trancheen, Kontreapprochen, Batterien usw., und jeden seiner Schritte durch ein solches Produkt bezeichnete; es war nur der Faden, dessen man bedurfte, um diese materiellen Schöpfungen damit anzureihen. Da sich bei dieser Art von Krieg der Geist fast nur in solchen Dingen ausspricht, so war der Sache damit ziemlich Genüge geschehen.

Dann streifte die Taktik bis dahin

Später versuchte es die Taktik, in den Mechanismus ihrer Zusammenfügungen den Charakter einer allgemeinen, auf die Eigentümlichkeiten des Instrumentes gebauten Disposition zu legen, welcher freilich schon auf das Schlachtfeld führte, aber nicht zu freier Geistestätigkeit, sondern mit einem durch Formation und Schlachtordnung zu einem Automat umgeschaffenen Heer, welches, durch das bloße Kommandowort angestoßen, seine Tätigkeit wie ein Uhrwerk abwickeln sollte.

Das eigentliche Kriegführen kam nur gelegentlich inkognito vor

Das eigentliche Kriegführen, der freie, d. h. den individuellsten Bedürfnissen angepaßte Gebrauch der zubereiteten Mittel, glaubte man, könne kein Gegenstand der Theorie sein, sondern dies müßte allein den natürlichen Anlagen überlassen bleiben. Nach und nach, wie der Krieg aus dem Faustkampf des Mittelalters in eine regelmäßigere und zusammengesetztere Gestalt überging, drängten sich zwar auch über diesen Gegenstand dem menschlichen Geist einzelne Betrachtungen auf, sie kamen aber meistens nur in Memoiren und Erzählungen beiläufig und gewissermaßen inkognito vor.

Die Betrachtungen über Kriegsbegebenheiten führten das Bedürfnis einer Theorie herbei

Als diese Betrachtungen sich immer mehr häuften, die Geschichte immer mehr den kritischen Charakter annahm, entstand das lebhafte Bedürfnis nach einem Anhalt von Grundsätzen und Regeln, damit in der der Kriegsgeschichte so natürlichen Kontroverse der Kampf der Meinungen zu irgendeinem Ziel gebracht werden könne. Dieser Wirbel der Meinungen, der sich um keinen festen Punkt und nach keinem fühlbaren Gesetz drehte, mußte dem menschlichen Geist eine widerwärtige Erscheinung sein.

Bestreben, eine positive Lehre aufzustellen

Es entstand also das Bestreben, Grundsätze, Regeln oder gar Systeme für die Kriegführung anzugeben. Hiermit setzte man sich einen positiven Zweck, ohne die unendlichen Schwierigkeiten gehörig ins Auge gefaßt zu haben, die die Kriegführung in dieser Beziehung hat. Die Kriegführung verläuft sich, wie wir das gezeigt haben, fast nach allen Seiten hin in unbestimmte Grenzen; jedes System, jedes Lehrgebäude aber hat die beschränkende Natur einer Synthesis, und damit ist ein nie auszugleichender Widerspruch zwischen einer solchen Theorie und der Praxis gegeben.

Beschränkung auf materielle Gegenstände

Die Theorienschreiber aber fühlten die Schwierigkeit des Gegenstandes früh genug und glaubten sich berechtigt, ihr dadurch aus dem Wege zu treten, daß sie ihre Grundsätze und Systeme wieder nur auf materielle Dinge und eine einseitige Tätigkeit richteten. Man wollte, wie in den Wissenschaften der Kriegsvorbereitung, auf lauter gewisse und positive Resultate kommen und also auch nur das in Betrachtung ziehen, was einer Berechnung unterworfen werden konnte.

Überlegenheit der Zahl

Die Überlegenheit der Zahl war ein materieller Gegenstand, man wählte unter allen Faktoren im Produkt eines Sieges diesen heraus, weil man ihn durch Kombination von Zeit und Raum in eine mathematische Gesetzgebung bringen konnte. Von allen übrigen Umständen glaubte man abstrahieren zu können, indem man sich dieselben auf beiden Seiten gleich und dadurch neutralisiert dachte. Dies wäre schon recht gewesen, wenn man es einstweilen hätte tun wollen, um diesen einen Faktor seinen Verhältnissen nach kennenzulernen; aber es für immer zu tun, die Überlegenheit der Zahl für das einzige Gesetz zu halten und in der Formel: in gewisser Zeit auf gewissen Punkten eine Überlegenheit hinzubringen das ganze Geheimnis der Kriegskunst zu sehen, war eine gegen die Macht des wirklichen Lebens ganz unhaltbare Beschränkung.

Unterhalt der Truppen

Noch ein anderes materielles Element wurde in einer theoretischen Behandlung zu systematisieren versucht, indem man den Unterhalt der Truppen, auf einen gewissen vorausgesetzten Organismus des Heeres gestützt, zum Hauptgesetzgeber der großen Kriegführung machte. Man gelangte auf diese Weise freilich wieder zu bestimmten Zahlen, aber zu Zahlen, die auf einer Menge ganz willkürlicher Voraussetzungen beruhten und also in der Erfahrung nicht Stich halten konnten.

Basis

Ein witziger Kopf versuchte eine ganze Menge von Umständen, zwischen denen auch sogar einige geistige Beziehungen mit unterliefen: die Ernährung des Heeres, die Ergänzung desselben und seiner Ausrüstungsmittel, die Sicherheit seiner Nachrichtenverbindung mit dem Vaterlande, endlich die Sicherheit seines Rückzuges, im Fall er nötig würde, in einem einzigen Begriff, den der Basis, zusammenzufassen und zuerst diesen Begriff allen jenen einzelnen Beziehungen, dann aber wieder die Größe (Ausdehnung) der Basis ihr selbst und zuletzt den Winkel, welchen die Streitkraft mit dieser Basis macht, der Größe der Basis zu substituieren; und dies alles bloß, um auf ein rein geometrisches Resultat zu kommen, was ganz ohne Wert ist. Dies letztere ist in der Tat nicht zu verwundern, wenn man bedenkt, daß keine jener Substitutionen gemacht werden konnte, ohne die Wahrheit zu verletzen und einen Teil der Dinge auszulassen, die in dem früheren Begriff noch enthalten waren. Der Begriff der Basis ist der Strategie ein wirkliches Bedürfnis, und es ist ein Verdienst, darauf gekommen zu sein; aber ein solcher Gebrauch desselben, wie wir ihn eben bezeichnet haben, ist vollkommen unzulässig und mußte zu ganz einseitigen Resultaten führen, die diesen Theoretiker sogar in eine ganz widersinnige Richtung fortgetrieben haben, nämlich zu der überlegenen Wirkung der umfassenden Form.

Innere Linien

Als Reaktion gegen diese falsche Richtung ist dann ein anderes geometrisches Prinzip, nämlich das der sogenannten inneren Linien, auf den Thron gehoben worden. Ob nun gleich dies Prinzip sich auf einen guten Grund stützt, auf die Wahrheit, daß das Gefecht das einzige wirksame Mittel im Kriege ist: so ist es doch, eben wegen seiner bloß geometrischen Natur, nichts als eine neue Einseitigkeit, welche nimmermehr dahin gelangen konnte, das wirkliche Leben zu beherrschen.

Alle diese Versuche sind verwerflich

Alle diese Theorieversuche sind nur in ihrem analytischen Teil als Fortschritte in dem Gebiet der Wahrheit zu betrachten, in dem synthetischen Teil aber, in ihren Vorschriften und Regeln, ganz unbrauchbar.

Sie streben nach bestimmten Größen, während im Kriege alles unbestimmt ist und der Kalkül mit lauter veränderlichen Größen gemacht werden mußte.

Sie richten die Betrachtung nur auf materielle Größen, während der ganze kriegerische Akt von geistigen Kräften und Wirkungen durchzogen ist.

Sie betrachten nur die einseitige Tätigkeit, während der Krieg eine beständige Wechselwirkung der gegenseitigen ist.

Sie schließen das Genie von der Regel aus

Alles, was von solcher dürftigen Weisheit einer einseitigen Betrachtung nicht erreicht werden konnte, lag außer der wissenschaftlichen Einhegung, war das Feld des Genies, welches sich über die Regel erhebt.

Wehe dem Krieger, der zwischen diesem Betteltum von Regeln herumkriechen sollte, die für das Genie zu schlecht sind, über die es sich vornehm hinwegsetzen, über die es sich auch allenfalls lustig machen kann! Was das Genie tut, muß gerade die schönste Regel sein, und die Theorie kann nichts Besseres tun, als zu zeigen, wie und warum es so ist.

Wehe der Theorie, die sich mit dem Geiste in Opposition stellt; sie kann diesen Widerspruch durch keine Demut gutmachen, und je demütiger sie ist, um so mehr wird Spott und Verachtung sie aus dem wirklichen Leben verdrängen.

Schwierigkeit der Theorie, sobald geistige Größen in Betracht kommen

Jede Theorie wird von dem Augenblick an unendlich viel schwieriger, wie sie das Gebiet geistiger Größen berührt. Baukunst und Malerei wissen genau, woran sie sind, solange sie noch mit der Materie zu tun haben; über mechanische und optische Konstruktionen ist kein Streit. Sowie aber die geistigen Wirkungen ihrer Schöpfungen anfangen, sowie geistige Eindrücke oder Gefühle hervorgebracht werden sollen, verschwimmt die ganze Gesetzgebung in unbestimmte Ideen. Die Arzneikunst ist meistens nur mit körperlichen Erscheinungen beschäftigt, sie hat es mit dem tierischen Organismus zu tun, der, ewigen Veränderungen unterworfen, in zwei Momenten nie genau derselbe ist; das macht ihre Aufgabe sehr schwierig und stellt das Urteil des Arztes schon höher als sein Wissen; aber wieviel schwieriger ist der Fall, wenn eine geistige Wirkung hinzukommt, und wieviel höher stellt man den Seelenarzt!

Die geistigen Größen können im Kriege nicht ausgeschlossen werden

Nun ist aber die kriegerische Tätigkeit nie gegen die bloße Materie gerichtet, sondern immer zugleich gegen die geistige Kraft, welche diese Materie belebt, und beide voneinander zu trennen ist ganz unmöglich.

Die geistigen Größen aber sieht man nur mit dem inneren Auge; und dieses ist in jedem Menschen anders und oft verschieden in verschiedenen Augenblicken. Da die Gefahr das allgemeine Element ist, in dem sich im Kriege alles bewegt, so ist es auch vorzüglich der Mut, das Gefühl der eigenen Kraft, wodurch das Urteil anders bestimmt wird. Es ist gewissermaßen die Kristallinse, durch welche die Vorstellungen gehen, ehe sie den Verstand treffen. Und doch kann man nicht zweifeln, daß diese Dinge schon durch die bloße Erfahrung einen gewissen objektiven Wert bekommen müssen. Jeder kennt die moralischen Wirkungen des Überfalls, des Seiten- und Rückenangriffs, jeder schätzt den Mut des Gegners geringer, sobald er den Rücken gewandt hat, und wagt ganz anders beim Verfolgen als beim Verfolgtwerden. Jeder beurteilt den Gegner nach dem Ruf seiner Talente, nach seinen Jahren und seiner Erfahrung und richtet sich danach. Jeder tut einen prüfenden Blick auf den Geist und die Stimmung seiner und der feindlichen Truppen. Alle diese und ähnliche Wirkungen im Gebiet der geistigen Natur haben sich in der Erfahrung erwiesen, sind immer wiedergekehrt und berechtigen dadurch, sie in ihrer Art als wirkliche Größen gelten zu lassen. Und was sollte wohl aus einer Theorie werden, in der man sie unbeachtet lassen wollte?

Aber freilich ist die Erfahrung ein notwendiger Stammbrief dieser Wahrheiten. Mit psychologischen und philosophischen Klügeleien soll keine Theorie sich befassen und kein Feldherr sich versuchen.

Hauptschwierigkeiten der Theorie des Kriegführens

Um die Schwierigkeit der Aufgabe, welche in einer Theorie der Kriegführung enthalten ist, deutlich zu übersehen und daraus den Charakter ableiten zu können, den eine solche Theorie haben muß, müssen wir auf die Haupteigentümlichkeiten, welche die Natur der kriegerischen Tätigkeit ausmachen, einen näheren Blick werfen.

Erste Eigentümlichkeit: geistige Kräfte und Wirkungen (Das feindselige Gefühl)

Die erste dieser Eigentümlichkeiten besteht in den geistigen Kräften und Wirkungen.

Kampf ist ursprünglich die Äußerung feindseliger Gefühle; es wird aber allerdings in unseren großen Kämpfen, die wir Krieg nennen, aus dem feindseligen Gefühl häufig nur eine feindselige Absicht, und es pflegt dem einzelnen wenigstens kein feindseliges Gefühl gegen den einzelnen beizuwohnen. Nichtsdestoweniger geht es nie ohne eine solche Gemütstätigkeit ab. Der Nationalhaß, an dem es auch bei unseren Kriegen selten fehlt, vertritt bei dem einzelnen gegen den einzelnen mehr oder weniger stark die individuelle Feindschaft. Wo aber auch dieser fehlt und anfangs keine Erbitterung war, entzündet sich das feindselige Gefühl an dem Kampfe selbst, denn eine Gewaltsamkeit, die jemand auf höhere Weisung an uns verübt, wird uns zur Vergeltung und Rache gegen ihn entflammen, früher noch, ehe wir es gegen die höhere Gewalt sein werden, die ihm gebietet, so zu handeln. Dies ist menschlich oder auch tierisch, wenn man will, aber es ist so. - Man ist in den Theorien sehr gewohnt, den Kampf wie ein abstraktes Abmessen der Kräfte ohne allen Anteil des Gemüts zu betrachten, und das ist einer der tausend Irrtümer, die die Theorien ganz absichtlich begehen, weil sie die Folgen davon nicht einsehen.

Außer jener in der Natur des Kampfes selbst gegründeten Anregung der Gemütskräfte gibt es noch andere, die nicht wesentlich dazu gehören, aber sich der Verwandtschaft wegen leicht damit verbinden, wie Ehrgeiz, Herrschsucht, Begeisterung jeder Art usw.

Die Eindrücke der Gefahr (Der Mut)

Endlich gebiert der Kampf das Element der Gefahr, in welchem sich alle kriegerischen Tätigkeiten wie der Vogel in der Luft und der Fisch im Wasser erhalten und bewegen müssen. Die Wirkungen der Gefahr gehen aber alle auf das Gemüt entweder unmittelbar, also instinktmäßig, oder durch den Verstand. Die erstere würde das Bestreben sein, sich ihr zu entziehen, und, insofern dies nicht geschehen kann, Furcht und Angst. Wenn diese Wirkung nicht entsteht, so ist es der Mut, welcher jenem Instinkt das Gleichgewicht hält. Der Mut aber ist keineswegs ein Akt des Verstandes, sondern ebenfalls ein Gefühl wie die Furcht; diese ist auf die physische Erhaltung, der Mut auf die moralische gerichtet. Der Mut ist ein edlerer Instinkt. Weil er aber das ist, so läßt er sich nicht wie ein lebloses Instrument gebrauchen, was seine Wirkungen im genau vorgeschriebenen Maße äußert. Der Mut ist also kein bloßes Gegengewicht der Gefahr, um diese in ihren Wirkungen zu neutralisieren, sondern eine eigentümliche Größe.

Umfang des Einflusses, welchen die Gefahr übt

Um aber den Einfluß der Gefahr auf die im Kriege Handelnden richtig zu würdigen, muß man ihren Bereich nicht auf die physische Gefahr des Augenblickes beschränken. Sie beherrscht den Handelnden nicht bloß, indem sie ihn bedroht, sondern auch durch die Bedrohung aller ihm Anvertrauten; nicht bloß in dem Augenblick, wo sie wirklich vorhanden ist, sondern durch die Vorstellung auch in allen anderen, die zu diesem Augenblick eine Beziehung haben; endlich nicht bloß unmittelbar durch sich selbst, sondern auch mittelbar durch die Verantwortlichkeit, die sie mit zehnfachem Gewicht auf dem Geist des Handelnden lasten läßt. Wer könnte eine große Schlacht anraten oder beschließen, ohne daß der Geist sich mehr oder weniger gespannt und betroffen fühlte von der Gefahr und Verantwortlichkeit, die ein solcher großer Entscheidungsakt in sich trägt. Man kann sagen, daß das Handeln im Kriege, insofern es ein wirkliches Handeln, nicht ein bloßes Dasein ist, nie ganz aus dem Bereich der Gefahr hinaustritt.

Andere Gemütskräfte

Wenn wir diese durch Feindschaft und Gefahr aufgeregten Gemütskräfte als dem Kriege eigentümlich betrachten, so schließen wir alle anderen den Menschen auf seinem Lebenswege begleitenden nicht davon aus; sie werden auch hier häufig genug Platz finden. Zwar darf man sagen, daß manches kleinliche Spiel der Leidenschaften in diesem ernsten Dienst des Lebens zum Schweigen gebracht wird, doch gilt dies nur von den Handelnden der niederen Regionen, die, von einer Gefahr und Anstrengung zur anderen fortgerissen, die übrigen Dinge des Lebens aus den Augen verlieren, sich der Falschheit entwöhnen, weil der Tod sie nicht gelten läßt, und so zu jener soldatischen Einfachheit des Charakters kommen, die immer der beste Repräsentant des Kriegerstandes gewesen ist. - In den höheren Regionen ist es anders, denn je höher einer steht, um so mehr muß er um sich sehen; da entstehen denn Interessen nach allen Seiten und ein mannigfaltiges Spiel der Leidenschaften, der guten und bösen. Neid und Edelsinn, Hochmut und Bescheidenheit, Zorn und Rührung, alle können als wirksame Kräfte in dem großen Drama erscheinen.

Eigentümlichkeit des Geistes

Die Eigentümlichkeiten des Geistes in dem Handelnden sind neben denen des Gemütes gleichfalls von einem hohen Einfluß. Andere Dinge darf man erwarten von einem phantastischen, überspannten, unreifen Kopf als von einem kalten und kräftigen Verstande.

Aus der Mannigfaltigkeit der geistigen Individualität entspringt aber die Mannigfaltigkeit der Wege, die zum Ziel führen

Diese große Mannigfaltigkeit in der geistigen Individualität, deren Einfluß man sich vorzüglich in den höheren Stellen denken muß, weil er nach oben hin zunimmt, ist es vorzüglich, welche die von uns schon im ersten Buche ausgesprochene Mannigfaltigkeit der Wege zum Ziel hervorbringt und dem Spiel mit Wahrscheinlichkeit und Glück einen so ungleichen Anteil an den Begebenheiten zuteilt.

Zweite Eigentümlichkeit: lebendige Reaktion

Die zweite Eigentümlichkeit im kriegerischen Handeln ist die lebendige Reaktion und die Wechselwirkung, welche daraus entspringt. Wir sprechen hier nicht von der Schwierigkeit, eine solche Reaktion zu berechnen, denn diese liegt schon in der erwähnten Schwierigkeit, die geistigen Kräfte als Größen zu behandeln, sondern weil die Wechselwirkung ihrer Natur nach alter Planmäßigkeit entgegenstrebt. Die Wirkung, welche irgendeine Maßregel auf den Gegner hervorbringt, ist das Individuellste, was es unter allen Datis des Handelns gibt; jede Theorie aber muß sich an Klassen von Erscheinungen halten, und niemals kann sie den eigentlichen individuellen Fall in sich aufnehmen; dieser bleibt überall dem Urteil und Talent anheimgegeben. Es ist also natürlich, daß ein Handeln wie das kriegerische, was so häufig in seinem auf allgemeine Umstände gebauten Plan durch unerwartete individuelle Erscheinungen gestört ist, überhaupt mehr dem Talent überlassen bleiben muß und von einer theoretischen Anweisung weniger Gebrauch machen kann wie jedes andere.

Dritte Eigentümlichkeit: Ungewißheit aller Datis

Endlich ist die große Ungewißheit aller Datis im Kriege eine eigentümliche Schwierigkeit, weil alles Handeln gewissermaßen in einem bloßen Dämmerlicht verrichtet wird, was noch dazu nicht selten wie eine Nebel- oder Mondscheinbeleuchtung den Dingen einen übertriebenen Umfang, ein groteskes Ansehen gibt. Was diese schwache Beleuchtung an vollkommener Einsicht entbehren läßt, muß das Talent erraten, oder es muß dem Glück überlassen bleiben. Es ist also wieder das Talent oder gar die Gunst des Zufalls, welchen in Ermangelung einer objektiven Weisheit vertraut werden muß.

Eine positive Lehre ist unmöglich

Bei dieser Natur des Gegenstandes müssen wir uns sagen, daß es eine reine Unmöglichkeit wäre, die Kriegskunst durch ein positives Lehrgebäude wie mit einem Gerüst versehen zu wollen, welches dem Handelnden überall einen äußeren Anhalt gewähren könnte. Der Handelnde würde sich in allen jenen Fällen, wo er auf sein Talent verwiesen ist, außer diesem Lehrgebäude und mit ihm im Widerspruch befinden, und es würde, wie vielseitig dasselbe auch aufgefaßt sein möchte, immer dieselbe Folge wieder eintreten, von der wir schon gesprochen haben: daß das Talent und Genie außer dem Gesetz handelt und die Theorie ein Gegensatz der Wirklichkeit wird.

Auswege für die Möglichkeit einer Theorie (Die Schwierigkeiten sind nicht überall gleich groß)

Aus dieser Schwierigkeit öffnen sich uns zwei Auswege.

Zuerst ist das, was wir von der Natur der kriegerischen Tätigkeit im allgemeinen gesagt haben, nicht auf dieselbe Weise von der Tätigkeit einer jeden Stelle zu verstehen. Nach unten hin wird der Mut persönlicher Aufopferung mehr in Anspruch genommen, aber für den Verstand und das Urteil sind die Schwierigkeiten unendlich viel geringer. Das Feld der Erscheinungen ist viel geschlossener, Zwecke und Mittel sind in der Zahl beschränkter, die Data bestimmter, meistens sogar in wirklichen Anschauungen enthalten. Je weiter wir aber hinaufsteigen, um so mehr nehmen die Schwierigkeiten zu, bis sie im obersten Feldherrn ihren höchsten Grad erreichen, so daß bei ihm fast alles dem Genius überlassen bleiben muß.

Aber auch nach einer sächlichen Einteilung des Gegenstandes sind die Schwierigkeiten nicht überall dieselben, sondern nehmen ab, je mehr die Wirkungen sich in der materiellen Welt äußern, und zu, je mehr sie in die geistige übergehen und zu Motiven werden, die den Willen bestimmen. Darum ist es leichter, die innere Ordnung, die Anlage und Führung eines Gefechts durch eine theoretische Gesetzgebung zu bestimmen als den Gebrauch desselben. Dort ringen die physischen Waffen miteinander, und wenn der Geist auch darin nicht fehlen kann, so muß doch der Materie ihr Recht gelassen werden. In der Wirkung der Gefechte aber, wo die materiellen Erfolge zu Motiven werden, hat man es nur mit der geistigen Natur zu tun. Mit einem Wort: die Taktik wird viel weniger Schwierigkeiten einer Theorie haben als die Strategie.

Die Theorie soll eine Betrachtung und keine Lehre sein

Der zweite Ausweg für die Möglichkeit einer Theorie ist der Gesichtspunkt, daß sie nicht notwendig eine positive Lehre, d. i. Anweisung zum Handeln, zu sein braucht. Überall, wo eine Tätigkeit es größtenteils immer wieder mit denselben Dingen zu tun hat, mit denselben Zwecken und Mitteln, wenn auch mit kleinen Veränderungen und wenn auch in einer noch so großen Mannigfaltigkeit der Kombination, müssen diese Dinge ein Gegenstand vernünftiger Betrachtung werden können. Eine solche Betrachtung aber ist eben der wesentlichste Teil jeder Theorie und hat auf diesen Namen ganz eigentlich Anspruch. Sie ist eine analytische Untersuchung des Gegenstandes, führt zu einer genauen Bekanntschaft, und wenn sie auf die Erfahrung, also in unserem Fall auf die Kriegsgeschichte angewendet wird, zur Vertrautheit mit demselben. Je mehr sie diesen letzten Zweck erreicht, um so mehr geht sie aus der objektiven Gestalt eines Wissens in die subjektive eines Könnens über, und um so mehr wird sie sich also auch da wirksam zeigen, wo die Natur der Sache keine andere Entscheidung als die des Talents zuläßt; sie wird in ihm selbst wirksam werden.

Untersucht die Theorie die Gegenstände, welche den Krieg ausmachen, unterscheidet sie schärfer, was auf den ersten Blick zusammenzufließen scheint, gibt sie die Eigenschaften der Mittel vollständig an, zeigt sie die wahrscheinlichen Wirkungen derselben, bestimmt sie klar die Natur der Zwecke, trägt sie überall das Licht einer verweilenden kritischen Betrachtung in das Feld des Krieges, so hat sie den Hauptgegenstand ihrer Aufgabe erfüllt. Sie wird dann demjenigen ein Führer, der sich mit dem Kriege aus Büchern vertraut machen will; sie hellt ihm überall den Weg auf, erleichtert seine Schritte, erzieht sein Urteil und bewahrt ihn vor Abwegen.

Wenn ein Sachverständiger sein halbes Leben darauf verwendet, einen dunkeln Gegenstand überall aufzuklären, so wird er wohl weiter kommen als derjenige, welcher in kurzer Zeit damit vertraut sein will. Daß also nicht jeder von neuem aufzuräumen und sich durchzuarbeiten habe, sondern die Sache geordnet und gelichtet finde, dazu ist die Theorie vorhanden. Sie soll den Geist des künftigen Führers im Kriege erziehen oder vielmehr ihn bei seiner Selbsterziehung leiten, nicht aber ihn auf das Schlachtfeld begleiten; so wie ein weiser Erzieher die Geistesentwicklung eines Jünglings lenkt und erleichtert, ohne ihn darum das ganze Leben hindurch am Gängelbande zu führen.

Bilden sich aus den Betrachtungen, welche die Theorie anstellt, von selbst Grundsätze und Regeln, schießt die Wahrheit von selbst in diese Kristallform zusammen, so wird die Theorie diesem Naturgesetz des Geistes nicht widerstreben, sie wird vielmehr, wo sich der Bogen in einem solchen Schlußstein endigt, diesen noch hervorheben. Aber sie tut dies nur, um dem philosophischen Gesetz des Denkens zu genügen, um den Punkt deutlich zu machen, nach welchem die Linien alle hinlaufen, nicht um daraus eine algebraische Formel für das Schlachtfeld zu bilden; denn auch diese Grundsätze und Regeln sollen in dem denkenden Geiste mehr die Hauptlineamente seiner eingewohnten Bewegungen bestimmen als ihm in der Ausführung den Weg gleich Meßstangen bezeichnen.

Mit diesem Gesichtspunkt wird die Theorie möglich, und ihr Widerspruch mit der Praxis hört auf

Mit diesem Gesichtspunkt wird die Möglichkeit einer befriedigenden, d. h. einer nützlichen und niemals mit der Wirklichkeit in Widerspruch tretenden Theorie der Kriegführung gegeben, und es wird nur von der verständigen Behandlung abhängen, sie mit dem Handeln so zu befreunden, daß der widersinnige Unterschied zwischen Theorie und Praxis ganz verschwinde, den oft eine unvernünftige Theorie hervorgerufen, und womit sie sich von dem gesunden Menschenverstand losgesagt hat, den aber ebensooft Beschränktheit des Geistes und Unwissenheit als Vorwand gebraucht hat, um sich in der angeborenen Ungeschicklichkeit recht gehen zu lassen.

Die Theorie betrachtet also die Natur der Zwecke und Mittel. Zweck und Mittel in der Taktik

Die Theorie hat also die Natur der Mittel und Zwecke zu betrachten.

In der Taktik sind die Mittel die ausgebildeten Streitkräfte, welche den Kampf führen sollen. Der Zweck ist der Sieg. Wie dieser Begriff näher bestimmt werden kann, wird sich in der Folge, bei der Betrachtung des Gefechts, besser sagen lassen. Wir begnügen uns hier, den Abzug des Gegners vom Kampfplatz als das Zeichen des Sieges anzugeben. Vermittelst dieses Sieges erreicht die Strategie den Zweck, welchen sie dem Gefecht gegeben hat, und der eine eigentliche Bedeutung ausmacht. Diese Bedeutung hat auf die Natur des Sieges allerdings einigen Einfluß. Ein Sieg, welcher darauf gerichtet ist, die feindliche Streitkraft zu schwächen, ist etwas anderes als einer, der uns bloß in den Besitz einer Stellung bringen soll. Er wird also die Bedeutung eines Gefechts auf die Anlage und Führung desselben einen merklichen Einfluß haben können. Es werden also diese Bedeutungen auch ein Gegenstand der Betrachtung für die Taktik sein.

Umstände, welche die Anwendung der Mittel immer begleiten

Da es gewisse Umstände gibt, welche das Gefecht immerwährend begleiten und mehr oder weniger Einfluß darauf haben, so müssen diese bei der Anwendung der Streitkräfte mit in Betrachtung gezogen werden.

Diese Umstände sind die Örtlichkeit (das Terrain), die Tageszeit und das Wetter.

Örtlichkeit

Die Örtlichkeit, welche wir lieber in die Vorstellung von Gegend und Boden auflösen wollen, könnte, strenge genommen, ohne Einfluß sein, wenn das Gefecht in einer vollkommenen und ganz unbebauten Ebene geliefert würde.

In Steppengegenden kommt der Fall wirklich vor, in den Gegenden des gebildeten Europas ist er fast nur eine eingebildete Vorstellung. Es ist also zwischen den gebildeten Völkern kaum ein Gefecht ohne Einfluß von Gegend und Boden denkbar.

Tageszeit

Die Tageszeit wirkt auf das Gefecht durch den Unterschied von Tag und Nacht, aber die Beziehungen reichen natürlich weiter als gerade bis an die Grenze beider, weil jedes Gefecht eine gewisse Dauer hat, und die großen sogar eine Dauer von vielen Stunden. Für die Anlage einer großen Schlacht macht es einen wesentlichen Unterschied, ob sie am Morgen oder Nachmittag anfängt. Indessen wird es allerdings eine Menge Gefechte geben, wo sich der Umstand der Tageszeit als ganz gleichgültig verhält, und in der Allgemeinheit der Fälle ist der Einfluß desselben nur gering.

Wetter

Noch seltener wird das Wetter von einem bestimmenden Einfluß, und meistens ist es nur durch den Nebel, daß es eine Rolle spielt.

Zwecke und Mittel in der Strategie

Die Strategie hat ursprünglich nur den Sieg, d. h. den taktischen Erfolg, als Mittel und, in letzter Instanz, die Gegenstände, welche unmittelbar zum Frieden führen sollen, als Zweck. Die Anwendung ihres Mittels zu diesen Zwecken ist gleichfalls von Umständen begleitet, die mehr oder weniger Einfluß darauf haben.

Umstände, welche die Anwendung der Mittel begleiten

Diese Umstände sind Gegend und Boden, aber die erstere zugleich erweitert zu Land und Volk des ganzen Kriegstheaters; die Tageszeit, aber auch zugleich die Jahreszeit; endlich das Wetter, und zwar durch ungewöhnliche Erscheinungen desselben, großer Frost usw.

Sie bilden neue Mittel

Indem die Strategie diese Dinge mit dem Erfolg eines Gefechts in Verbindung bringt, gibt sie diesem Erfolge und also dem Gefecht eine besondere Bedeutung, setzt ihm einen besonderen Zweck. Insofern aber dieser Zweck nicht der ist, welcher unmittelbar zum Frieden führen soll, also nur ein untergeordneter, ist er auch als Mittel zu betrachten, und wir können also das Mittel in der Strategie die Gefechtserfolge oder Siege in allen ihren verschiedenen Bedeutungen betrachten. Die Eroberung einer Stellung ist ein solcher auf das Terrain angewendeter Gefechtserfolg. Aber nicht bloß die einzelnen Gefechte mit besonderen Zwecken sind als Mittel zu betrachten, sondern auch jede höhere Einheit, welche sich in der Kombination der Gefechte durch die Richtung auf einen gemeinschaftlichen Zweck bilden möchte, ist als ein Mittel zu betrachten. Ein Winterfeldzug ist eine solche auf die Jahreszeit angewendete Kombination.

Es bleiben also an Zwecken nur diejenigen Gegenstände übrig, die als unmittelbar zum Frieden führend gedacht sind. Alle diese Zwecke und Mittel untersucht die Theorie nach der Natur ihrer Wirkungen und ihrer gegenseitigen Beziehungen.

Die Strategie entnimmt die zu untersuchenden Mittel und Zwecke nur aus der Erfahrung

Die erste Frage ist, wie sie zu einer erschöpfenden Aufzählung dieser Gegenstände gelangt. Sollte eine philosophische Untersuchung zu einem notwendigen Resultat führen, so würde sie sich in alle Schwierigkeiten verwickeln, die die logische Notwendigkeit von der Kriegführung und ihrer Theorie ausschließen. Sie wendet sich also an die Erfahrung und richtet ihre Betrachtung auf diejenigen Kombinationen, welche die Kriegsgeschichte schon aufzuweisen hat. Auf diese Weise wird sie freilich eine beschränkte Theorie sein, die nur auf Verhältnisse paßt, wie die Kriegsgeschichte sie darbietet. Aber diese Beschränkung ist ja auch schon darum unvermeidlich, weil die Theorie in jedem Fall das, was sie von den Dingen aussagt, entweder aus der Kriegsgeschichte abstrahiert oder wenigstens mit ihr verglichen haben muß. Übrigens ist eine solche Beschränkung in jedem Fall mehr eine dem Begriff als der Sache nach.

Ein großer Vorteil dieses Weges wird darin bestehen, daß die Theorie sich nicht in Grübeleien, Spitzfindigkeiten und Hirngespinsten verlieren kann, sondern praktisch bleiben muß.

Wie weit die Analyse der Mittel gehen muß

Eine andere Frage ist, wie weit die Theorie in ihrer Analyse der Mittel gehen soll. Offenbar nur so weit, als die abgesonderten Eigenschaften beim Gebrauch in Betrachtung kommen. Die Schußweite und Wirkung der verschiedenen Waffen ist der Taktik höchst wichtig; ihre Konstruktion, obgleich jene Wirkungen daraus hervorgehen, höchst gleichgültig; denn der Kriegführung sind nicht Kohlen, Schwefel und Salpeter, Kupfer und Zinn gegeben, um daraus Pulver und Kanonen zu machen, sondern die fertige Waffe mit ihrer Wirkung ist das Gegebene. Die Strategie macht Gebrauch von Karten, ohne sich um trigonometrische Vermessungen zu bekümmern; sie untersucht nicht, wie ein Land eingerichtet, ein Volk erzogen und regiert werden muß, um die besten kriegerischen Erfolge zu geben, sondern sie nimmt diese Dinge, wie sie in der europäischen Staatengesellschaft angetroffen werden, und macht darauf aufmerksam, wo sehr verschiedene Zustände einen merklichen Einfluß auf den Krieg haben.

Große Vereinfachung des Wissens

Daß auf diese Weise für die Theorie die Zahl der Gegenstände sehr vereinfacht und das für die Kriegführung erforderliche Wissen sehr beschränkt wird, ist leicht einzusehen. Die sehr große Masse von Kenntnissen und Fertigkeiten, die der kriegerischen Tätigkeit im allgemeinen dienen, und die nötig werden, ehe nur ein ausgerüstetes Heer ins Feld rücken kann, drängen sich in wenige große Resultate zusammen, ehe sie dazu kommen, im Kriege den endlichen Zweck ihrer Tätigkeit zu erreichen: so wie die Gewässer des Landes sich in Ströme vereinigen, ehe sie ins Meer kommen. Nur diese, sich unmittelbar ins Meer des Krieges ergießenden Tätigkeiten hat derjenige kennenzulernen, welcher sie leiten will.

Sie erklärt das schnelle Ausbilden großer Feldherren, und warum ein Feldherr kein Gelehrter ist

In der Tat ist dieses Resultat unserer Betrachtung ein so notwendiges, daß jedes andere uns mißtrauisch gegen ihre Richtigkeit machen müßte. Nur so erklärt es sich, wie so oft Männer im Kriege, und zwar in den höheren Stellen, selbst als Feldherren, mit großem Erfolg aufgetreten sind, die früher eine ganz andere Richtung ihrer Tätigkeit hatten; ja wie überhaupt die ausgezeichneten Feldherren niemals aus der Klasse vielwissender oder gar gelehrter Offiziere hervorgegangen sind, sondern meistens ihrer ganzen Lage nach auf keine große Summe des Wissens eingerichtet sein konnten. Darum sind auch diejenigen immer im Recht als lächerliche Pedanten verspottet worden, die für die Erziehung eines künftigen Feldherrn nötig oder auch nur nützlich hielten, mit der Kenntnis alter Details anzufangen. Es läßt sich ohne große Mühe beweisen, daß sie ihm schaden wird, weil der menschliche Geist durch die ihm mitgeteilten Kenntnisse und Ideenrichtungen erzogen wird. Nur das Große kann ihn großartig, das Kleine nur kleinlich machen, wenn er es nicht wie etwas ihm Fremdes ganz von sich stößt.

Früherer Widerspruch

Weil man diese Einfachheit des im Kriege erforderlichen Wissens nicht beachtet, sondern dieses Wissen immer mit dem ganzen Troß dienender Kenntnisse und Fertigkeiten zusammengeworfen hat, so hat man auch den offenbaren Widerspruch, in den man mit den Erscheinungen der wirklichen Welt geriet, nicht anders lösen können, als daß man alles dem Genie zuschrieb, welches keiner Theorie bedarf, und für welches die Theorie nicht geschrieben sein sollte.

Man leugnete deshalb den Nutzen alles Wissens und schrieb alles der natürlichen Anlage zu

Die Leute, bei denen der Mutterwitz die Oberhand behielt, fühlen wohl, welch ein ungeheurer Abstand immer noch zwischen einem Genie des höchsten Fluges und einem gelehrten Pedanten auszufüllen bliebe, und diese kamen zu einer Art von Freigeisterei, indem sie allen Glauben an die Theorie von sich wiesen und das Kriegführen für eine natürliche Funktion des Menschen hielten, die er mehr oder weniger gut machte, nur nachdem er mehr oder weniger Anlagen dazu mit auf die Welt gebracht. Es ist nicht zu leugnen, daß diese der Wahrheit näher standen als die, welche den Wert auf ein falsches Wissen legten; indessen sieht man einer solchen Ansicht bald an, daß sie nichts als ein übertriebener Ausdruck ist. Keine Tätigkeit des menschlichen Verstandes ist ohne einen gewissen Reichtum von Vorstellungen möglich, diese aber werden ihm, wenigstens dem größten Teil nach, nicht angeboren, sondern erworben und machen sein Wissen aus. Es frägt sich also nur, welcher Art diese Vorstellungen sein sollen, und das glauben wir bestimmt zu haben, wenn wir sagen, daß sie für den Krieger auf die Dinge gerichtet sein sollen, mit denen er im Kriege unmittelbar zu tun hat.

Das Wissen muß sich nach der Stelle richten

Innerhalb dieses Feldes der kriegerischen Tätigkeit selbst werden sie verschieden sein müssen nach dem Stand, den er einnimmt; auf geringere und beschränktere Gegenstände gerichtet, wenn er niedriger, auf größere und umfassendere, wenn er höher steht. Es gibt Feldherren, die an der Spitze eines Reiterregiments nicht geglänzt haben würden, und umgekehrt.

Das Wissen im Kriege ist sehr einfach, aber nicht zugleich sehr leicht

Dadurch aber, daß das Wissen im Kriege so einfach ist, nämlich auf so wenig Gegenstände gerichtet, und diese immer nur in ihren Endresultaten auffassend, dadurch wird das Können nicht zugleich sehr leicht. Welchen Schwierigkeiten das Handeln im Kriege überhaupt unterworfen ist, davon haben wir schon im ersten Buch gesprochen; wir übergehen hier diejenigen, die nur durch den Mut überwunden werden können, und behaupten, daß auch die eigentliche Tätigkeit des Verstandes nur in den niedrigen Stellen einfach und leicht ist, mit den Stellen aber an Schwierigkeit steigt und in der höchsten Stelle, in der des Feldherrn, zu den schwierigsten gehört, die es für den menschlichen Geist gibt.

Wie das Wissen beschaffen sein muß

Der Feldherr braucht weder ein gelehrter Staats-, noch Geschichtsforscher, noch Publizist zu sein, aber er muß mit dem höheren Staatsleben vertraut sein, die eingewohnten Richtungen, die aufgeregten Interessen, die vorliegenden Fragen, die handelnden Personen kennen und richtig ansehen; er braucht kein feiner Menschenbeobachter, kein haarscharfer Zergliederer des menschlichen Charakters zu sein, aber er muß den Charakter, die Denkungsart und Sitte, die eigentümlichen Fehler und Vorzüge derer kennen, denen er befehlen soll. Er braucht nichts von der Einrichtung eines Fuhrwerks, der Anspannung eines Geschützes zu verstehen, aber er muß den Marsch einer Kolonne seiner Dauer nach unter den verschiedenen Umständen richtig zu schätzen wissen.

Alle diese Kenntnisse lassen sich nicht durch den Apparat wissenschaftlicher Formeln und Maschinerien erzwingen, sondern sie erwerben sich nur, wenn in der Betrachtung der Dinge und im Leben ein treffendes Urteil, wenn ein nach dieser Auffassung hingerichtetes Talent tätig ist.

Das einer hochgestellten kriegerischen Tätigkeit nötige Wissen zeichnet sich also dadurch aus, daß es in der Betrachtung, also in Studium und Nachdenken, nur durch ein eigentümliches Talent erworben werden kann, was, wie die Biene den Honig aus der Blume, als ein geistiger Instinkt aus den Erscheinungen des Lebens nur den Geist zu ziehen versteht; und daß es neben Betrachtung und Studium auch durch das Leben zu erwerben ist. Das Leben mit seiner reichen Belehrung wird niemals einen Newton oder Euler hervorbringen, wohl aber den höheren Kalkül eines Condé oder Friedrich.

Es ist also nicht nötig, daß man, um die Geisteswürde der kriegerischen Tätigkeit zu retten, seine Zuflucht nehme zur Unwahrheit und zu einfältiger Pedanterie. Es hat nie einen ausgezeichneten Feldherrn beschränkten Geistes gegeben, und sehr zahlreich sind die Fälle, wo Männer, die in geringeren Stellen mit der höchsten Auszeichnung gedient hatten, in der höchsten unter dem Mittelmäßigen blieben, weil die Fähigkeiten ihres Geistes nicht zureichten. Daß auch selbst unter den Feldherrnstellen wieder ein Unterschied gemacht werden kann nach dem Grad ihrer Machtvollkommenheit, versteht sich von selbst.

Das Wissen muß ein Können werden

Wir haben jetzt noch einer Bedingung zu gedenken, welche für das Wissen der Kriegführung dringender ist als für irgendein anderes: daß es nämlich ganz in den Geist übergehen und fast ganz aufhören muß, etwas Objektives zu sein. Fast in allen anderen Künsten und Tätigkeiten des Lebens kann der Handelnde von Wahrheiten Gebrauch machen, die er nur einmal kennengelernt hat, in deren Geist und Sinn er nicht mehr lebt, und die er aus bestaubten Büchern wieder hervorzieht. Selbst Wahrheiten, die er täglich unter Händen hat und gebraucht, können etwas ganz außer ihm Befindliches bleiben. Wenn der Baumeister die Feder zur Hand nimmt, um die Stärke eines Widerlagers durch einen verwickelten Kalkül zu bestimmen, so ist die als Resultat gefundene Wahrheit keine Äußerung seines eigenen Geistes. Er hat sich die Data erst mit Mühe heraussuchen müssen und diese dann einer Verstandesoperation überlassen, deren Gesetze er nicht erfunden hat, und deren Notwendigkeit er sich zum Teil in dem Augenblick nicht einmal bewußt ist, sondern die er großenteils wie mechanische Handgriffe anwendet. So ist es aber im Kriege nie. Die geistige Reaktion, die ewig wechselnde Gestalt der Dinge macht, daß der Handelnde den ganzen Geistesapparat seines Wissens in sich tragen, daß er fähig sein muß, überall und mit jedem Pulsschlag die erforderliche Entscheidung aus sich selbst zu geben. Das Wissen muß sich also durch diese vollkommene Assimilation mit dem eigenen Geist und Leben in ein wahres Können verwandeln. Dies ist der Grund, warum es bei den im Kriege ausgezeichneten Männern so leicht vorkommt, und alles dem natürlichen Talent zugeschrieben wird; wir sagen: dem natürlichen Talent, um es dadurch von dem durch Betrachtung und Studium erzogenen und ausgebildeten zu unterscheiden.

Wir glauben durch diese Betrachtung die Aufgabe einer Theorie der Kriegführung deutlich gemacht und die Art ihrer Lösung angedeutet zu haben.

Von den beiden Feldern, in welche wir das Kriegführen geteilt haben, der Taktik und Strategie, hat, wie wir schon bemerkt haben, die Theorie der letzteren unstreitig die größeren Schwierigkeiten, weil die erstere fast ein geschlossenes Feld der Gegenstände hat, die letztere aber sich nach der Seite der unmittelbar zum Frieden führenden Zwecke in ein unbestimmtes Gebiet von Möglichkeiten öffnet. Weil es aber hauptsächlich nur der Feldherr ist, welcher diese Zwecke ins Auge zu fassen hat, so ist auch vorzugsweise derjenige Teil der Strategie, in welchem er sich bewegt, dieser Schwierigkeit unterworfen. Es wird also die Theorie in der Strategie, und besonders da, wo sie die höchsten Bestimmungen umfaßt, noch viel mehr als in der Taktik bei der bloßen Betrachtung und Untersuchung der Dinge stehenbleiben und sich begnügen, dem Handelnden zu jener Einsicht der Dinge zu verhelfen, die, in sein ganzes Denken verschmolzen, seinen Gang leichter und sicherer macht, ihn nie zwingt, von sich selbst zu scheiden, um einer objektiven Wahrheit gehorsam zu sein.

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