Johann Wolfgang von Goethe über Streben
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Und so lang du das nicht hast,
dieses Stirb und Werde,
bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde.
Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat
Am 31. Juli 1814 verfasste Johann Wolfgang von Goethe sein Gedicht "Selige Sehnsucht". Es befindet sich im "Buch des Sängers", dem ersten Abschnitt aus dem West-östlichen Divan. Dieses Gedicht gehört zu den meistinterpretierten seiner Werke und gilt mit seinem letzten Satz, der das "Stirb und Werde" thematisiert, auch zu den schwierigsten.
Viele Interpretationen sind über den tiefsinnigen Inhalt von Fachleuten schon gemacht worden, die unterschiedliche Auffassungen dabei vertreten. Was genau der Dichterfürst mit seinen geheimnisvollen Zeilen gemeint hat, bleibt für viele Menschen hermetisch und unzugänglich und Goethes eigene Interpretation werden wir auch nicht mehr erfahren.
Man kann sich diesen Zeilen dennoch auch als Laie versuchsweise annähern, kann und darf darüber nachsinnen und wird auch Sinn darin erkennen, wenn wir es auf uns wirken lassen. So können wir uns beispielsweise fragen, ob Goethe uns vielleicht bei dieser Aussage auch darauf hinweisen wollte, dass wir doch alle schon während unseres Lebens viele "kleine Tode sterben" müssen und dennoch auch immer wieder neu "auferstehen" und "neu werden". In jedem Fall lohnt es sich aber, diesem Gedanken kurz nachzuhängen, weil er für nahezu jeden Menschen ein immer wiederkehrendes Erlebnis von zentraler Bedeutung ist, das man nur in der rechten Weise auch verstehen und ergreifen sollte.
Mit diesem Stirb und Werde könnte beispielsweise auch jener Zustand gemeint sein, der uns alle ereilt, wenn wir uns vor einem Berg großer Probleme oder Herausforderungen sehen. Was uns da entgegentritt, scheint uns unlösbar. Es überfordert uns. Vielleicht ist uns in unserem Kleinmut, unserer Schwäche oder mangelndem Talent schon nach "Sterben" zumute. Wir glauben zu versagen. Wir haben eine Grenze erreicht, die unüberwindlich scheint. Nicht immer ist es uns auch gegeben, diesen Prüfungen des Lebens auszuweichen, sondern so manches müssen wir dabei auch wider Willen durchstehen.
In den klebrigen Fängen des Unverständnisses
Und dann kommt der Moment, wo wir erleben: Wir haben das Ganze überlebt. Wir haben es irgendwie geschafft und das Problem gelöst. Wir sind durch dieses Nadelöhr der Prüfung durchgegangen und haben diesen gefühlten Feuerring unbeschadet überwunden. Und nicht nur das! Wir fühlen auch Stolz in uns, weil wir in diesem Prozess über uns selbst hinausgewachsen sind. Wir fühlen uns stärker und kräftiger als zuvor, weil wir erlebt haben, dass eben doch noch viel mehr in uns steckt, als man gemeinhin von sich selbst bisher so dachte. Es ist wie eine Neugeburt oder auch wie eine Auferstehung.
Der "alte" Mensch in uns, der Kleinmütige, Zaghafte, Zaudernde "starb" und gab dem Zuversichtlichen, Mutigen und Hoffnungsvollen in uns neuen Raum. Dieser Transformationsprozess vollzieht sich häufig im Leben – wird jedoch leider nicht immer auch bewusst realisiert. Begleitet man ihn aber mit seinen Gedanken und Gefühlen, so entsteht auch aus diesem Akt der Reflektion eine weitere Förderung und Stärkung unserer Persönlichkeit.
Was den zweiten Teil des "trüben Gastes auf Erden" angeht, so ist anzumerken, dass uns ein solcher Transformationsprozess, wie oben kurz beschrieben, doch erst zum wahren Menschen heranreifen lässt.
Wir sind eben keine bloßen Marionetten des Schicksals, sondern selbst Gestalter und Mitschöpfer unserer Wirklichkeit. Wer versteht, dass das immerwährende "Sterben und Werden" ein natürlicher Prozess ist, den wir nicht nur in der Natur und den Jahreszeiten beobachten, sondern der auch die Tiere, Menschen, ja das ganze Universum erfasst (auch Sterne sterben und werden…) der wird einen Zugang zu Goethes Zeilen bekommen. Wir bekommen dann auch eine vertiefte Ahnung davon, wie sehr dieser Rhythmus des Vergehens und Werdens letztlich alles Sein bestimmt, in dem sich zugleich aber auch entscheidende Entwicklungen vollziehen.
Und das steht ganz im Gegensatz zu „trüben Gästen“, die sich auf diese unverzichtbare eigene Weiterentwicklung nicht einlassen, sondern in ihrer fatalistischen Haltung ebenso kleinmütig hängenbleiben, wie auch in den Fängen des klebrigen Netzes jenes Unverständnisses, dass ihnen den Zugang zur Erkenntnis der Zusammenhänge nicht ermöglicht.