Max Frisch über Wahrheit

  • Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, daß er hineinschlüpfen kann - nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.

Max Frisch

schweizerischer Schriftsteller

* 15.05.1911 Zürich (Schweiz)
† 04.04.1991 Zürich (Schweiz)

Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat

Die Wahrheit ist den meisten Menschen sehr wichtig. Denn letztlich beruht unser menschliches Zusammenleben vor allem auf einem System des Vertrauens. Misstrauen wir den anderen Mitmenschen, so haben wir kaum noch die Chance, miteinander klar- und weiterzukommen. Auf nichts könnte man sich mehr verlassen, überall wäre nur noch das Schlechte, Böse, Falsche, Zerstörerische oder Üble zu argwöhnen oder auch zu erleben. Die Wahrheit ist ein Grundpfeiler unserer menschlichen Spezies, die wir auch für unsere geistige Evolution unverzichtbar ist. Soweit die Theorie.

In der Praxis des Lebens wird dennoch so viel geflunkert, betrogen, gelogen, dass sich oft die Balken biegen. Noch häufiger als die glatte Lüge ist jedoch die Halbwahrheit. Sie ist oft noch ärger, weil sie schwerer entdeckt werden kann. Vielleicht bleibt sie sogar meist unentdeckt. Denn die Halbwahrheit ist noch keine richtige Lüge, sondern scheinbar nur ein Trick, ein Versteckspiel, um eben der ganzen Wahrheit nicht wirklich auf die Schliche zu kommen.

Das Verbreiten von Halbwahrheiten und die dann daraus entstehenden Folgen einer Meinungsbildung geht zumeist auch mit dem Problem der persönlichen Interpretationen einher, die nur ungenau sein kann – was aber zumeist nicht realisiert wird. Hier ist nicht immer auch eine bewusste Täuschung im Spiel, sondern oft auch eine subjektiv verzerrte Darstellung der Wirklichkeit, die auch mit dem Grad der Wahrnehmungsfähigkeit und einer detailgetreuen Wiedergabe zusammenhängt.

Viele Menschen blenden beispielsweise gleich eine ganze Reihe von Tatsachen aus einem Geschehen aus oder vergessen sie zu erwähnen, weil sie diese für sich selbst als unwichtig erachten, während sie für andere Menschen aber zentral wichtige Parameter für eine Bewertung einer Sache oder eines Ereignisses sind, die nun fehlen. Daraus entstehen automatisch Verzerrungen der Wirklichkeit, die aber schon der Dritte nicht mehr nachvollziehen kann. Das alles kann sowohl bewusst und gezielt wie aber auch unschuldig-unbewusst zustande kommen. Eine zuverlässige und fundierte Urteilsfindung, wie die Wahrheit zu beurteilen wäre, ist dann schwierig oder unmöglich.

Wahrheitsfindung contra Lust am Gerede

Viele Menschen sind allerdings auch nicht immer scharf auf eine umfängliche Wahrheit. Ihnen geht es vielmehr um Spannung, Unterhaltung, Lust am Gerede oder am Tratsch. In solchen Fällen, die im Alltag reichlich vorkommen reicht es aus, wenn sie mit wenigen Fakten über eine Sache oder ein Ereignis informiert werden. Der Spielraum der Interpretation kann sogar höchste Lust bedeuten, weil er nun die eigene Phantasie mit ins Boot nimmt und Fakten, Interpretationen, Spekulationen, Vermutungen, Befürchtungen und vieles andere mehr mit ins Boot wirft. Alles läuft dann aber unter dem Gefühl, die Wahrheit zu kennen. Daraus ergeben sich oft Schnellurteile aus dem Bauch, deren mangelnde Substanz in der Regel nicht einmal wahrgenommen wird. Interessant ist das Spiel, das eine Teilwahrheit zu einer neuen scheinbaren Wahrheit umformt, während es die eigentliche Wahrheit komplett zerstörten kann. Die Wahrheit selbst bleibt auf der Strecke.

Die Wahrheit kann oft sehr unangenehm oder gar schmerzend sein. Sich wirklich auf sie einlassen zu wollen, steht keinesfalls immer auch im Sinn der Leute. Jedenfalls nicht, wenn man selbst Negatives dabei befürchten muss. Die Wahrheit, nach der wir angeblich alle trachten, ist in Wirklichkeit oft gefürchtet.

Doch wenn man schon in der Situation ist, sich der Wahrheit stellen zu sollen oder zu müssen, dann kommt es genau darauf an, was uns Max Frisch als Rat in seinem Zitat hinterlässt. Man soll die Wahrheit wie einen offenen Mantel dem anderen halten und sie eben nicht wie ein nasses Tuch dem Betroffenen um den Kopf schlagen.

Bei diesem Ansinnen geht es jedoch nicht nur allein um eine Frage der Höflichkeit, der Rücksicht oder des guten Benehmens. Das Anliegen kann dann tiefer verortet werden, wenn man die Möglichkeit einer neuen Erkenntnis des Betroffenen im Auge hat und dann auch zu dieser verhelfen will. Da es sich aber oft um etwas Peinliches oder Unangenehmes handelt, ist die Art und Weise, wie man eine Wahrheit vermittelt, entscheidend.

Wanderung durch das tiefe Tal der Unwahrhaftigkeit

Schlägt ein Mensch dem anderen mit guten Argumenten oder gar mit Beweisen die Wahrheit brachial um die Ohren, oder wie ein nasses Tuch um den Kopf, um mit der Frisch-Metapher zu sprechen, dann gehen diese Ohren schnell zu. Denn die Wahrheit kann sehr verletzend sein. Sie kann zu Scham führen oder auch zu Gesichtsverlust für den, der sich irrte, log oder die Halbwahrheit verbreitete. Viele Menschen stecken solche Situationen nicht leicht weg. Fühlen sie sich dabei auch noch wie ein geprügelter Hund, weil die Ansprache vielleicht noch unter Zeugen stattfand oder in grober Weise, dann ist es mit einer Erkenntnisbereitschaft durch eine neue innere Offenheit oder einem freiwilligen Lernen-wollen schlechter bestellt, als wenn man diesen Vorgang mit Mitgefühl und Takt vermittelt.

Es gibt diesen anderen Weg für uns alle, von der Unwahrhaftigkeit in die Wahrheit zu kommen. Hier sind Verständnis und Milde die Zauberworte. Aber auch eine verstehende Sensibilität für die Situation des anderen, der im Unrecht war, spielt eine Rolle. Jeder, der selbst schon im Unrecht war und sich daran noch gut erinnert, wird dann auch verstehen, wie wichtig nun ein mitfühlendes Vorgehen ist. Hier ist der Mantel, der dem anderen hingehalten werden soll ,von Max Frisch ein schönes Bild. Hier wird man warm umfangen und darf sich emotional trotz des begangenen Fehlers sicher fühlen, haben Einsicht und Änderung große Chance.

Ob diese Situation jedoch immer so gehandhabt werden muss oder in anderen Situationen auch kurze klare Worte und eine feste Ansage die richtige Methode ist, hängt von den Umständen ab. Je näher ein Mensch selbst schon an der Wahrheit ist, je öfter hat er vermutlich vorher schon das tiefe Tal der Unwahrhaftigkeit durchschritten und wird Verständnis zeigen können – dennoch bemüht darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

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