Wilhelm von Humboldt über Umgang

  • Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit Menschen, welche dem Leben seinen Wert geben, und je tiefer eingehend sie sind, desto mehr fühlt man, worin doch zuletzt der eigentliche Genuß steckt, die Individualität.

Wilhelm von Humboldt

deutscher Gelehrter und Staatsmann

Mitbegründer der Humboldt-Universität zu Berlin

* 22.06.1767 Potsdam
† 08.04.1835 Schloss Tegel, Berlin

Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat

Viele Menschen sind Tieren lieber zugeneigt, als ihren Mitmenschen. Der Grund ist einfach: Man hat sich über die eigene Spezies einfach zu oft geärgert. Mal wurde man belogen oder betrogen, mal war das Einfache mit ihnen schrecklich kompliziert. Mal stand Enttäuschung im Vordergrund eines Erlebnisses oder aber man wurde in völlig unnötigen Ärger hineingezogen, der schrecklich viel Kraft kostete. Und all das soll so wertvoll sein, wie Wilhelm Freiherr von Humboldt meint? Hat er am Ende all diese Unbill niemals erleiden müssen, wenn er den Genuss des Zwischenmenschlichen so hoch hält?

Von Letzterem ist eher nicht auszugehen. Auch er wird gewiss immer wieder neu Situationen ausgesetzt gewesen sein, die ihn am Wert des zwischenmenschlichen Zusammenspiels zweifeln ließen. Dennoch ist sein Urteil klar. Ausgerechnet die Verbindungen mit den Menschen tragen für ihn einen Wert in sich, den uns kein anderes Lebewesen zu schenken vermag. Es ist der Wert der Streitkultur, der Auseinandersetzung aber auch der Liebe untereinander, die uns Chancen bietet, über uns selbst hinauszuwachsen.

Gerade weil die eigene Spezies uns so unglaublich stark zu zwicken und zwacken vermag, bietet sie uns Gelegenheiten, uns an ihr zu erproben und aufzurichten. Das gilt selbstverständlich auch immer gegenseitig und unabhängig davon, wie man die eigene oder andere Position dabei bewertet. Tiere können mangels eines freien Willens niemals gleichwertige Partner sein, auch wenn sie uns noch so treu zugetan sind und wir sie von Herzen mögen. Auch Pflanzen, die unter unserer Pflege prächtig gedeihen und uns damit erfreuen, sind Lebewesen, deren Verbindung zu uns völlig anderer Art ist, als die, die oft ungeliebte eigene Spezies bietet.

Der Wert liegt in der Chance, die wir bekommen, wenn wir uns auf andere Menschen tiefer einlassen, als lediglich auf der Small-Talk-Ebene. Diese Chance birgt natürlich auch die Risiken, die mit einer neuen Nähe ebenfalls verbunden sein können. Dabei ist vor allem das Risiko der Enttäuschung zu nennen.

Alles Lebendige unterliegt der Veränderung

Neue Freundschaften und Nähe gehen wir in aller Regel nur dann ein, wenn eine besondere Attraktion uns zum anderen anzieht. Das kann die Ausstrahlung, das Äußere oder den Charme betreffen. Oder es sind geistige oder seelische Qualitäten, die einen Magnetismus bewirken, der uns zueinander führt. Damit verbunden sind in aller Regel auch Hoffnungen, die nicht einmal unbedingt bewusst sein müssen, sondern sich durchs Gefühlsleben in uns regen. Und nicht selten werden diese Hoffnung auch großartig erfüllt. Man hat sich also nicht getäuscht!

Doch dann kommen irgendwann unvermeidliche Veränderungen in diese Beziehung. Denn jede Beziehung ist etwas Lebendiges und kann seiner Natur nach nicht statisch gleich bleiben. Mal ist man es selbst, er sich – oft unbemerkt – verändert hat, mal mag es der andere sein oder besonders kritische Situationen fordern nun die Nagelprobe heraus. Und plötzlich ist alles anders. Der Wert, den wir als so bereichernd erlebten, scheint sich zu verflüchtigen. Jetzt stehen Probleme an, woher das Wohlgefühl dominierte. Hier ist nun die Schnittstelle, die über die Zukunft entscheidet, ob diese Sache der Freundschaft oder der zwischenmenschlichen Nähe auseinanderbricht oder sogar noch vertieft werden kann, weil man gemeinsam eine schwierige Hürde nimmt.

In der Regel braucht es für eine solche Hürde das Bemühen von beiden Seiten. Leichter wird dies, wenn man solche Hürden als normale rhythmische Prozesse in allen Beziehungen erkennt und weiß, dass sie in aller Regel auch lösbar ist, wenn man die egoistischen Hintergründe des einen oder anderen besser durchschauen lernt. Auch braucht es ein feines Sensorium für die Seelengestimmtheit des jeweils anderen, seine Belastbarkeit, seine Empfindsamkeiten, die bis zu übertriebenen Empfindlichkeiten reichen können.

Je höher man den Wert der Freundschaft bis dahin empfunden hat, umso mehr wird man darum bemüht sein, nicht nur eine Lösung des Konfliktes zu finden, sondern damit auch eine Bewusstseinsschärfung für diesen Prozess zu verbinden.

Vom Wert des Individuellen

Treffen Konfliktpartner aufeinander, so werden uns vor allen Dingen die Unvereinbarkeiten schnell schmerzlich bewusst. Es hakt hier und dort und man kommt zu keiner Einigung. Dabei ist es unerheblich, ob der Konflikt sachlicher oder persönlicher Natur ist, weil sich diese Ebenen meist eh schnell überschneiden, da Gedanken von Gefühlen flankiert werden.

Tatsache ist, man sieht die gemeinsame schwierige Situation eben individuell unterschiedlich, obschon man objektiv in der gleichen Situation miteinander verbandelt ist. Hier wird nun jenes Individuelle nicht nur sichtbar, sondern wird zur Wegscheide. Entscheiden wir uns für den konstruktiven Weg des Bemühens umeinander, so können wir die Andersartigkeit des Anderen, durchaus auch als Bereicherung erkennen, sofern der Konflikt noch nicht verhärtet und innerlich längst entschieden ist. Machen sich beide die gegensätzliche Position des jeweils anderen für Augenblicke so zu eigen, als sei man selbst der andere mit seinen anderen Bedürfnissen und Zielvorstellungen, wird vielleicht ein neues Verständnis geweckt, das nicht nur deeskalierend ist, sondern auch zu einer erweiterten Sichtweise führt und damit auch bereichernd ist. Dazu sollte das Ego im Menschen jedoch einen Schritt zurücktreten.

Die Einzigartigkeit alles Individuellen ist nicht jedem gleich offensichtlich, weshalb auch viele gute Chancen für eine Werterkennung in der zwischenmenschlichen Beziehung verpasst werden. Sieht man aber das Individuelle auch im Spiegel ungeahnter Möglichkeiten, dürfte die Freude über den Wert dieses Erlebens genug Motivation sein, auch die unvermeidlichen Krisen zu überstehen.

Nicht zu vergessen ist auch die Chance für unsere eigene Entwicklung, die in keinem Stadium des Lebens schon als vollständig abgeschlossen betrachtet werden sollte. Denn unser aller Entwicklung ist offen – bis zum letzten Atemzug. Und Entwicklungsmotor ist uns der Andere, auf den wir uns einlassen. Mit Freuden, mit Risiken – aber vor allem mit Chancen für uns selbst und damit für ein humanes, reifes und sinnerfülltes Miteinander.

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