Viertes Hundert.

 

Aphorismen vin Marie von Ebner-Eschenbach, viertes Hundert

 

1.

Nächstenliebe lebt mit tausend Seelen, Egoismus mit einer einzigen, und die ist erbärmlich.


2.

Das Vernünftige ist durchaus nicht immer das Gute, das Vernünftigste jedoch muß auch das Beste sein.


3.

Späte Freuden sind die schönsten; sie stehen zwischen entschwundener Sehnsucht und kommendem Frieden.


4.

Künstler haben gewöhnlich die Meinung von uns, die wir von ihren Werken haben.


5.

Sehr geringe Unterschiede begründen manchmal sehr große Verschiedenheiten.


6.

Der Spott endet, wo das Verständniß beginnt.


7.

Um ein öffentliches Amt glänzend zu verwalten, braucht man eine gewisse Anzahl guter und — schlechter Eigenschaften.


8.

Hoffnungslose Liebe macht den Mann kläglich und die Frau beklagenswerth.


9.

Alle Enttäuschungen sind gering im Vergleich zu denen, die wir an uns selbst erleben.


10.

Je kürzer der Fleiß, je länger der Tag.


11.

Den Menschen, die große Eigenschaften besitzen, verzeiht man ihre kleinen Fehler am schwersten.


12.

Dem Hungrigen ist leichter geholfen als dem Uebersättigten.


13.

Weh der Frau, die nicht im Falle der Noth ihren Mann zu stellen vermag.


14.

Das unfehlbare Mittel, Autorität über die Menschen zu gewinnen, ist, sich ihnen nützlich zu machen.


15.

Rücksichtslosigkeiten, die edle Menschen erfahren haben, verwandeln sich in Rücksichten, die sie erweisen.


16.

Wenn man ein Seher ist, braucht man kein Beobachter sein.


17.

Der ans Ziel getragen wurde, darf nicht glauben, es erreicht zu haben.


18.

Es ist die Frage, was man im Leben sucht, Unterhaltung oder Liebe. Zum ersten Falle darf man es nicht allzu genau mit der moralischen, im zweiten nicht allzu genau mit der geistigen Beschaffenheit der Menschen nehmen, mit denen man sich umgiebt.


19.

Den Feind unserer Marotte unseren Freund nennen, heißt gescheit sein.


20.

Und ich habe mich so gefreut! sagst Du vorwurfsvoll, wenn Dir eine Hoffnung zerstört wurde. Du hast Dich gefreut — ist das nichts?


21.

Sogar der edelste Mensch ist unfähig, einer Handlung vollkommen gerecht zu werden, die er selbst unter keiner Bedingung zu vollziehen vermöchte.


22.

Wenn wir nur noch das sehen, was wir zu sehen wünschen, sind wir bei der geistigen Blindheit angelangt.


23.

Unser Stolz aus den Besitz irgend einer guten Eigenschaft erleidet einen argen Stoß, wenn wir sehen, wie stolz Andere auf das Nichtbesitzen derselben guten Eigenschaft sind.


24.

Die wahre Ehrfurcht geht niemals aus der Furcht hervor.


25.

Die größte Gleichmacherin ist die Höflichkeit, durch sie werden alle Standesunterschiede aufgehoben.


26.

Wenn Jeder dem Andern helfen wollte, wäre Allen geholfen.


27.

Das Gemüth bleibt jung, solange es leidensfähig bleibt.


28.

Ausdauer ist eine Tochter der Kraft, Hartnäckigkeit eine Tochter der Schwäche, nämlich — der Verstandesschwäche.


29.

Theorie und Praxis sind Eins wie Seele und Leib, und wie Seele und Leib liegen sie großentheils mit einander in Streit.


30.

Die Liebe überwindet den Tod, aber es kommt vor, daß eine kleine üble Gewohnheit die Liebe überwindet.


31.

In der großen Welt gefällt nichts so sehr wie die Gleichgültigkeit darüber, ob man ihr gefällt.


32.

Die Laster sind unter einander näher verwandt als die Tugenden.


33.

Man muß schon etwas wissen, um verbergen zu können, daß man nichts weiß.


34.

Die Palme beugt sich, aber nicht der Pfahl.


35.

Die meisten Menschen ertragen es leichter, daß man ihnen zuwider handelt, als daß man ihnen zuwider spricht.


36.

Die Gelassenheit ist eine anmuthige Form des Selbstbewußtseins.


37.

Begreifen — geistiges Berühren. Erfassen — geistiges Sichaneignen.


38.

Die Unschuld des Mannes heißt Ehre; die Ehre der Frau heißt Unschuld.


39.

Gedanken, die schockweise kommen, sind Gesindel. Gute Gedanken erscheinen in kleiner Gesellschaft. Ein göttlicher Gedanke kommt allein.


40.

Es muß sein! — grausamster Zwang. Es hat sein müssen! — bester Trost.


41.

Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt.


42.

Während des Beisammenseins mit geliebten Menschen kann man sich in den Zustand der Trennung von ihnen ebenso wenig hineindenken wie in den des Todes.


43.

Eitelkeit ist mächtiger als Scham.


44.

Der Weltmann kennt gewöhnlich die Menschen, aber nicht den Menschen. Beim Dichter ist's umgekehrt.


45.

Im Grunde ist jedes Unglück gerade nur so schwer, als man es nimmt.


46.

Tugend und Gelehrsamkeit haben nichts mit einander gemein, heißt es. Seht aber zu, wohin es mit Eurem moralischen Fortschreiten kommt, wenn Ihr von dem geistigen Fortschreiten Eurer Zeit keine Notiz nehmt.


47.

Das Erfundene kann vervollkommnet, das Geschaffene nur nachgeahmt werden.


48.

Niemand ist so beflissen, immer neue Eindrücke zu sammeln, als Derjenige, der die alten nicht zu verarbeiten versteht.


49.

Die Aenderung, die unser Naturell im Laufe des Lebens erfährt, sieht manchmal aus wie eine Aenderung unseres Charakters.


50.

Liebe ist Qual, Lieblosigkeit ist Tod.


51.

Die Sitte ist schon gerichtet zu deren Gunsten wir kein anderes Argument vorzubringen wissen als das ihrer Allgemeinheit.


52.

Die Kleinen schaffen, der Große erschafft.


53.

Daß andere Leute kein Glück haben, finden wir sehr leicht natürlich, daß wir selbst keines haben, immer unfaßbar.


54.

Erinnere Dich der Vergessenen — eine Welt geht Dir aus.


55.

Alle irdische Gewalt beruht auf Gewaltthätigkeit.


56.

Die Grausamkeit des Ohnmächtigen äußert sich als Gleichgültigkeit.


57.

Am unbarmherzigsten im Urtheil über fremde Kunstleistungen sind die Frauen mittelmäßiger Künstler.


58.

Im Alter sind wir der Schmeichelei viel zugänglicher als in der Jugend.


59.

Die Frau, die ihren Mann nicht beeinflussen kann, ist ein Gänschen. Die Frau, die ihn nicht beeinflussen will — eine Heilige.


60.

Der Egoismus glücklicher Menschen ist leichtsinnig, seiner selbst unbewußt. Der Egoismus unglücklicher Menschen ist verbissen, bitter und von seinem Recht zu bestehen überzeugt.


61.

Man bleibt jung so lange man noch lernen, neue Gewohnheiten annehmen und einen Widerspruch ertragen kann.


62.

Da zuletzt doch alles auf den Glauben hinaus läuft, müssen wir jedem Menschen das Recht zugestehen, lieber das zu glauben, was er sich selbst, als was Andere ihm weiß gemacht.


63.

Gutmüthigkeit ist eine alltägliche Eigenschaft, Güte die höchste Tugend.


64.

In der Jugend meinen wir, das Geringste, das die Menschen uns gewähren können, sei Gerechtigkeit. Im Alter erfahren wir, daß es das Höchste ist.


65.

Genug weiß Niemand, zu viel so Mancher.


66.

Verlegenheit äußert sich bei unerzogenen Menschen als Grobheit, bei nervösen Menschen als Schwatzhaftigkeit, bei alten Jungfern und Junggesellen als Bissigkeit. Phlegmatische Menschen macht die Verlegenheit stumm.


67.

Wo Geschmacklosigkeit daheim ist, wird auch immer etwas Rohheit wohnen.


68.

Der Verstand macht Märtyrer so gut wie die Phantasie, doch er verläßt die seinen am Ende; sie bleibt den ihren getreu.


69.

Bis zu einem gewissen Grade selbstlos sollte man schon aus Selbstsucht sein.


70.

Die Rücksichten, die uns in der Welt erwiesen werden, stehen meistens in näherer Beziehung zu unseren Ansprüchen als zu unseren Verdiensten.


71.

Herrschaft behaupten wollen, heißt kämpfen wollen. Nutzen stiften wollen, heißt freilich auch kämpfen wollen, aber — um den Frieden.


72.

Das Feuer läutert, verdeckte Gluth frißt an.


73.

Hab' einen guten Gedanken, man borgt Dir zwanzig.


74.

Es giebt Menschen im Zopfstyl: viele hübsche Einzelheiten, das Ganze abgeschmackt.


75.

Das Gefühl schuldiger Dankbarkeit ist eine Last, die nur starke Seelen zu ertragen vermögen.


76.

Die Menschen der alten Zeit sind auch die der neuen, aber die Menschen von gestern sind nicht die von heute.


77.

Die Kunst ist im Niedergang begriffen, die sich von der Darstellung der Leidenschaft zu der des Lasters wendet.


78.

Man darf anders denken als seine Zeit, darf sich nicht anders kleiden.


79.

Grobheit — geistige Unbeholfenheit.


80.

Wir können uns nie genug darüber wundern, wie so wichtig den Andern ihre eigenen Angelegenheiten sind.


81.

Die Kritik ist von geringer Qualität, die meint, ein Kunstwerk nur dann richtig beurtheilen zu können, wenn sie die Verhältnisse kennt, unter denen es entstanden ist.


82.

Dem, der uns Gutes thut, sind wir nie so dankbar, wie Dem, der uns böses thun könnte, es aber unterläßt.


83.

So Mancher meint ein Don Juan zu sein und ist nur ein Faun.


84.

Vorurtheil stützt die Throne, Unwissenheit die Altäre.


85.

Es kommt vor, daß Berge Mäuse gebären; manchmal tritt aber auch der entsetzliche Fall ein, daß einer Maus zugemuthet wird, einen Berg zu gebären.


86.

Die Kraft verleiht Gewalt, die Liebe leiht Macht.


87.

Jeder Künstler soll es der Vogelmutter nachmachen, die sich um ihre Brut nicht mehr bekümmert, sobald sie flügge geworden ist.


88.

Frieden kannst Du nur haben, wenn Du ihn giebst.


89.

Den Angriffen der Gemeinheit gegenüber ist es schwer, nicht in Selbstüberhebung zu verfallen.


90.

Die einzigen von der Welt unbestrittenen Ehren, die einer Frau zu Theil werden können, sind diejenigen, die sie im Reflex der Ehren ihres Mannes genießt.


91.

Im Unglück finden wir meistens die Ruhe wieder, die uns durch die Furcht vor dem Unglück geraubt wurde.


92.

Die Geschichte hat Helden und Werkzeuge, und macht beide unsterblich.


93.

Die großen Augenblicke im guten wie im bösen Sinne sind die, in denen wir gethan haben, was wir uns nie zugetraut hätten.


94.

Wenn die Nachtigallen aufhören zu schlagen, fangen die Grillen an zu zirpen.


95.

Der Witzling ist der Bettler im Reich der Geister; er lebt von Almosen, die das Glück ihm zuwirft — von Einfällen.


96.

An die Stützen, die wir wanken fühlen, klammern wir uns doppelt fest.


97.

Das Meiste haben wir gewöhnlich in der Zeit gethan, in der wir meinten, zu wenig zu thun.


98.

Die aller stillste Liebe ist die Liebe zum Guten.


99.

Beim Genie heißt es: Laß Dich gehen! Beim Talent: Nimm Dich zusammen!


100.

Ein böser Mensch vermag leichter einen guten, als ein guter einen bösen Vorsatz auszuführen.


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