II

Wie arm erscheint jedoch der Inhalt der italienischen Stadt gegen den Reichtum der griechischen. Ganze Reihen großer Athener treten auf, wo nur einzelne Florentiner sich zeigen könnten. Athen übertrifft Florenz so weit als die Griechen die Romanen übertrafen. Aber uns steht Florenz näher. Bei der Geschichte Athens gehen wir weniger sicher, und die Stadt selbst ist bis auf geringe Trümmer von ihrem alten Felsenboden fortgefegt. Florenz lebt noch. Wenn man heute von der Höhe des alten Fiesole, das nördlich über der Stadt am Gebirge klebt, herabsieht, liegen der Dom von Florenz, Santa Maria del Fiore oder Santa Liparata genannt, mit seiner Kuppel und dem schlanken Glockenturm und die Kirchen, Paläste und Häuser und die Mauern, die sie einschließen, noch so vor unseren Blicken in der Tiefe, wie sie vor langen Jahren getan – alles aufrecht und unverfallen. Die Stadt ist wie eine Blume, die in dem Momente, wo der Trieb des Wachstums am vollsten war, statt zu verwelken, gleichsam in Versteinerung überging. So steht sie heute, und wer der alten Zeiten nicht gedenkt, dem scheint auch nicht das Leben und der Duft zu fehlen. Manchmal möchte man glauben, es sei noch wie vordem, wie uns der Mondschein zuweilen in den Kanälen Venedigs die alte Zeit des Glanzes zurücklügt. Aber die alte Gesinnung ist verschwunden, und der Nachwuchs großer Männer ist lange ausgeblieben, der frisch aufschoß Jahr für Jahr vor alters.

Dennoch lebt das Andenken an die Männer und an die alte Freiheit. Mit andächtiger Sorgfalt wird ihre Hinterlassenschaft aufbewahrt. Mit Bewußtsein in Florenz zu leben, ist für einen gebildeten Mann nichts anderes als ein Studium der Schönheit eines freien Volkes bis in ihre feinsten Triebe. Die Stadt hat etwas die Gedanken Durchdringendes, Beherrschendes. Man verliert sich ganz in ihrem Reichtum. Indem man fühlt, wie alles sein Leben aus der einen Freiheit sog, gewinnt die Vergangenheit in den geringsten Beziehungen einen Zusammenhang, der für das übrige Italien fast verblenden kann. Man wird ein fanatischer Florentiner im alten Sinne. Die schönsten Bilder Tizians fingen an uns gleichgültig zu werden über dem Verfolgen der florentinischen Kunstentfaltung in ihrem fast minutenweise erkennbaren Fortschritte vom unbeholfensten Anfang bis zur Vollendung. Die Geschichtsschreiber zogen mich in die Verwickelungen ihrer Zeit, als würde ich in die Geheimnisse lebender Personen eingeweiht. Man geht in den Straßen noch, wo sie gingen, überschreitet die Schwellen, die sie betraten, sieht aus den Fenstern herab, an denen sie gestanden. Florenz ist niemals erstürmt, zerstört oder durch eine allverheerende Feuersbrunst verändert worden; die Bauten, von denen berichtet wird, fast wie sie Stein auf Stein heranwuchsen, stehen da und reizen und belohnen unsere Augen. Wenn mich, den Fremdling, das so magnetisch an sich zog, wie stark muß das Gefühl gewesen sein, mit dem die alten, freien Bürger an ihrer Vaterstadt hingen, die für sie die Welt bedeutete. Ihnen schien es unmöglich, anderswo zu leben und zu sterben. Daher die tragischen, oft wahnsinnigen Versuche der Verbannten, in die Heimat zurückzukehren. Unglücklich, wer abends nicht auf diesen Plätzen seinen Freunden begegnen durfte, wer nicht in der Kirche San Giovanni getauft war und seine Kinder dort taufen lassen durfte. Sie ist die älteste Kirche der Stadt und trug in ihrem Innern die stolze Inschrift, erst am Tage des Weltgerichts werde sie zusammenstürzen. Ein so guter Glaube wie der der Römer, denen die Dauer des Kapitols die Ewigkeit war. Horaz sang: so lange würden seine Lieder dauern, als die Priesterin die Stufen dahinanstiege.

Ihre Freiheit hat Athen und Florenz so groß gemacht. Frei sind wir, wenn unserer Sehnsucht Genugtuung geschehen darf, alles, was wir tun, zum Besten des Vaterlandes zu tun, selbständig aber und freiwillig, uns als einen Teil des Ganzen zu gewahren und, indem wir fortschreiten, seinen Fortschritt zugleich zu befördern. Dies Gefühl muß stärker sein als jedes andere. Bei den Florentinern überragte es die blutigste Feindschaft der Parteien und der Familien. Die Leidenschaften beugten sich ihm. Die Stadt und ihre Freiheit lag jedem zunächst am Herzen. Um dieser Freiheit willen die unendlichen Kämpfe. Keine äußere Gewalt sollte sie unterdrücken, keine im Innern der Stadt selbst berechtigter sein als andere, jeder Bürger verlangte mitzuwirken für das allgemeine Beste, kein Dritter sollte erst den Vermittler abgeben, um diese seine Teilnahme zu ermöglichen. Solange diese Eifersucht auf das persönliche Recht am Staate in den Gemütern der Bürger dominierte, war Florenz eine freie Stadt. Mit dem Erlöschen dieser Leidenschaft sank die Freiheit zu Boden, und vergebens wurden so viele Kräfte angespannt, sie emporzuhalten.

Was Athen und Florenz vor anderen Staaten aber, die gleichfalls durch ihre Freiheit zur Blüte kamen, dennoch erhaben hinstellt, ist ein zweites Geschenk der Natur, durch welches die Freiheit, man könnte beides sagen, beschränkt oder erweitert wurde: die Fähigkeit einer ebenmäßigen Entwickelung aller menschlichen Kräfte in ihren Bürgern. Einseitige Stärke vermag viel zu schaffen, mögen Menschen oder Völker sie besitzen – Ägypter, Römer, Engländer sind großartige Beispiele dafür – die Einseitigkeit ihres Charakters aber findet sich in ihren Unternehmungen wieder und entzieht dem, was sie gestalteten, das Lob der Schönheit. In Athen und Florenz steigerte sich keine Regung in der Individualität des Volkes dauernd so sehr, um das Übergewicht über die andere zu erlangen. Geschah es zuweilen für kurze Zeit, so führte ein baldiger Umsturz der Dinge das Gleichgewicht zurück. Die florentinische Verfassung beruhte auf den momentanen Beschlüssen der stimmfähigen Bürgerversammlung. Jede Gewalt konnte auf gesetzliche Weise vernichtet und ebenso gesetzlich eine andere an ihrer Stelle errichtet werden. Es bedurfte nichts als einen Beschluß des großen Bürgerparlamentes. Es wurde dabei einfach abgestimmt. So lange die große Glocke läutete, welche die Bürger auf den Platz vor dem Regierungspalaste zusammenrief, durfte auf offener Straße jede Sache, die einer etwa gegen den anderen auf dem Herzen hatte, mit bewaffneter Hand zum Austrag kommen. Das Parlament war die gesetzlich eingerichtete Revolution für den Fall, daß der Wille des Volkes mit dem der Regierung nicht mehr stimmte. Die Bürgerschaft verlieh dann einem Ausschuß diktatorische Befugnisse. Die Ämter wurden neu besetzt. Alle Ämter waren allen Bürgern zugänglich. Jeder war zu jeder Stelle befähigt und berufen. Was für Männer mußten diese Bürger sein, die bei so beweglichen Institutionen einen festen Staat bildeten! Herzlose Kaufleute und Fabrikanten: aber wie kämpften sie um ihre Unabhängigkeit! Egoistische Politik und Handel ihr einziges Interesse: aber wie dichteten sie und schrieben die Geschichte ihres Vaterlandes! Geizige Krämer und Geldwechsler: aber in fürstlichen Palästen! Und diese Paläste von eigenen Meistern erbaut und mit Malereien und Bildhauerarbeiten geschmückt, die gleichfalls innerhalb der Stadt gewesen waren! Alles treibt Blüten, jede Blüte bringt Früchte. Das Geschick des Vaterlandes ist wie eine Kugel, die in ewiger Bewegung dennoch immer auf dem richtigen Punkte ruht. Jedes florentinische Kunstwerk trägt ganz Florenz in sich. Dantes Gedichte sind ein Produkt der Kriege, der Unterhandlungen, der Religion, der Philosophie, des Geschwätzes, der Fehler, der Laster, des Hasses, der Liebe, der Rache der Florentiner. Alles arbeitete unbewußt mit, es durfte nichts fehlen. Nur aus einem solchen Boden konnte ein solches Werk emporsprießen. Nur aus athenischem Geiste konnten die Tragödien des Sophokles und Äschylus hervorgehen. Die Geschichte der Stadt hat ebensoviel Anteil an ihnen als das Genie der Männer, in deren Geiste die Phantasie und die Leidenschaft nach Worten suchte.

Es ist ein Unterschied, ob ein Künstler der selbstbewußte Bürger eines freien Landes oder der reichbelohnte Untertan eines Herrschers ist, in dessen Ohren Freiheit wie Aufruhr und Verrat klingt. Frei ist ein Volk, nicht weil es keinem Fürsten gehorcht, sondern weil es aus eigenem Antriebe die höchste Autorität liebt und aufrecht hält, mag diese nun ein Fürst oder eine Aristokratie mehrerer sein, die die Herrschaft in Händen halten. Ein Fürst ist immer da; in den freiesten Republiken gibt ein Mann zuletzt den Ausschlag. Aber er muß dastehen, weil er der Erste ist und alle seiner bedürfen. Nur wo jeder einzelne sich als einen Teil der allgemeinen Basis empfindet, auf der das Staatswesen beruht, kann von Freiheit und Kunst die Rede sein. Was haben die Bildsäulen in der Villa des Hadrian mit Rom und den Wünschen Roms zu schaffen? Was die gewaltigen Säulen der Bäder des Caracalla mit dem Ideale des Volkes, in dessen Hauptstadt sie erstanden? In Athen und Florenz aber, konnte man sagen, sei keine Quader auf die andere gelegt worden, kein Bild, kein Gedicht entstanden, ohne daß die ganze Bevölkerung Gevatter stand. Ob Santa Maria del Fiore umgebaut, ob die Kirche San Giovanni ein paar goldene Tore erhalten, Pisa belagert, Frieden geschlossen oder ein toller Karnevalszug gefeiert werden sollte: jedermann ging das an, es war dasselbe allgemeine Interesse, das sich dabei betätigte. Die schöne Simoneta, das schönste junge Mädchen in der Stadt, wird begraben; ganz Florenz folgt ihr, die Tränen in den Augen, und Lorenzo Medici, der erste Mann im Staate, dichtet ein klagendes Sonett auf ihren Verlust, das in aller Munde ist. Eine neu gemalte Kapelle wird eröffnet: Keiner darf dabei fehlen. Ein Wettrennen durch die Straßen veranstaltet: Teppiche hängen aus allen Fenstern herunter. Wie einzig schöne Menschengestalten stehen die beiden Städte vor uns da, ganz von weitem betrachtet, – wie Frauen mit dunkelen, traurigen Blicken und lächelnden Lippen dennoch; treten wir näher, so scheint es eine große, einige Familie; sind wir mitten darunter, so ist es wie ein Bienenkorb von Menschen: Athen und sein Schicksal ein Symbol des gesamten griechischen Lebens, Florenz ein Symbol der italienisch-romanischen Blütezeit. Beide, so lange ihre Freiheit währte, ein Abglanz des goldenen Zeitalters ihres Landes und Volkes, nachdem die Freiheit verloren war, ein Bildnis des Verfalls beider bis zu ihrem endlichen Untergange.

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