VI

Endlich kam doch der Tag heran, den Michelangelo längst erwartet, zuzeiten schon, in denen er nicht ahnte, daß er noch so weit entfernt sei. »Vollendet ist die Laufbahn meiner Jahre«, beginnt eines seiner Sonette, das er dichtete, als noch manche Jahre vor ihm lagen. Wir haben eine Komposition von ihm, die einen uralten Mann in einem Kinderrollstühlchen gehend zeigt, mit offenbarer Beziehung auf ihn selbst; eine andere, wo einer gebückt gehenden alten Frau sich aus der Erde eine Totenhand mit einem Stundenglase entgegenreckt. Auf der halben Höhe der Treppe in seinem Hause war der Tod als Skelett gemalt mit einem Sarge auf dem Rücken und mit den Versen darüber:

Io dico a voi, ch'al mondo avete dato
L' anima e 'l corpo e lo spirito 'nsieme;
In questa cassa oscura è 'l vostro lato.

Die ihr der Welt euch hingebt, hört was ich sage:
Einst, für Leib und Seele, die ihr geopfert,
Gibt sie den schwarzen Sarg euch, den ich trage.

Michelangelos Gedichte zeigen, wie unaufhörlich ihn der Gedanke an den Tod beschäftigte. Sie stammen zum großen Teil aus dieser letzten Zeit. Ihr Inhalt verrät es, oft auch die alte große Handschrift, in der sie in der vatikanischen Handschrift noch zu lesen sind, die meisten religiösen oder philosophischen Inhaltes, und in der gedruckten Ausgabe der Gedichte fortgelassen. Ich würde von ihnen mitteilen, wäre eine Übersetzung erreichbar gewesen. Alle Versuche aber ließen nichts entstehen als Nachbildungen, aus denen die eigentliche Schärfe Michelangelos verschwunden war. Bis zur Verzweiflung steigert sich oft der Schmerz, den er jetzt ausspricht über die verlorenen Tage, und der Zweifel über die Gestaltung der Zukunft.

Ins Göttliche sollt' ich den Geist versenken:
Und all' die Jahre, die dahingerauscht,
Hab' ich den Märchen dieser Welt gelauscht,
Und folgte gern, wenn sie zur Sünde lenkten.

So beginnt das Sonett Le Favole del mondo m'hanno tolto – Il tempo dato a contemplar Iddio. Es war nicht möglich, die Wucht dieser Worte in deutscher Sprache zu erhalten.

Schon auf dem Briefe, in welchem er Leonardo zur Geburt des Sohnes Glück wünscht, steht der abgerissene Anfang eines Sonettes, worin er sagt, daß ihm weder Malerei noch Marmorarbeit mehr die Gedanken beschwichtige, und so enthält die vatikanische Handschrift manche andere Verse, in denen die Dinge dieser Welt mit Verachtung und Abscheu genannt und die Gedanken an Gott und Unsterblichkeit als das einzig der Seele Würdige hingestellt werden. Erstaunlich ist das Zartgefühl, mit dem er, der alles nur für andere tat und der im Leben nie auch nur das geringste Körnchen Ehre mehr in Anspruch nahm, als ihm zukam, sich der Leidenschaft anklagt, mit der er an den irdischen Dingen hafte. Alles sei verloren, ruft er aus, er fühle es; nichts habe er getan für seine Seele, nichts gebe ihm Anrecht an den Himmel als die glühende Sehnsucht nur, sich von sich selbst loszureißen, und er wisse, daß er zu schwach sei, um es aus sich allein zu vermögen. Und dennoch, so sehr diese Sorge um das Jenseits dem Geiste des Christentums entspricht, so wenig leitet sie Michelangelo auch hier auf das Römisch-Kirchliche: er stellt sich ganz allein dem Himmel gegenüber und sucht nur in den eigenen Gedanken den Trost, der ihm vielleicht dadurch zuteil ward, daß er sein Gefühl in Worten, so wahr und so schön, als er vermochte, niederschrieb.

Hier am äußersten Rande des Lebensmeeres
Lern' ich zu spät erkennen, o Welt, den Inhalt
Deiner Freuden. Wie du den Frieden, den du
Nicht zu gewähren vermagst, versprichst und jene
Ruhe des Daseins, die schon vor der Geburt stirbt.

Angstvoll blick' ich zurück, nun, da der Himmel
Meinen Tagen ein Ziel setzt, unaufhörlich
Hab' ich vor Augen den alten süßen Irrtum,
Der dem, den er erfaßt, die Seele vernichtet.

Nun beweis' ich es selber: den erwartet
Droben das glücklichste Los, der von der Geburt ab
Sich auf den kürzesten Pfad zum Tode wandte.[1]

Der Gedanke, den auch Sophokles in seiner letzten Tragödie aussprach: μη φυναι τον απανια νικα λογον, nicht geboren zu sein, übertrifft alle Weisheit. Bei beiden Männern zeigen solche Worte, daß sie in Wahrheit die Grenze des menschlichen Lebens erreichten. Ihr Tagewerk war abgetan. Die Gedanken versagten den Dienst, sich dem Irdischen länger zuzuwenden; so dicht stand ihnen die ungeheure Zukunft vor den Blicken, die sie erwartet, daß ihnen auch das Größte, das die Erde zu gewähren vermochte, klein, und, wenn sie zurücksahen, die ganze Lebensarbeit nur als eine mit vergänglichen Werken erfüllte Verzögerung erschien, sich dem zuzuwenden, was ihnen jetzt als das allein Wichtige Ungeduld einflößte, es zu erreichen. Und doch, so stark war die Lebenskraft auch wieder in Michelangelo und die natürliche Liebe zu denen, deren Kreise er immer noch angehörte, daß solche Gedanken ihn nur in Momenten ergriffen, und er, solange seine Hände sich zu bewegen vermochten, fortarbeitete, um die alten Pläne weiterzuführen.

Michelangelo muß eine wirklich eisern zu nennende Gesundheit gehabt haben. Ende August 1561 stürzte er mitten in der Arbeit zu Boden und lag bewußtlos. Aus welchen Gründen aber? Er war aufgestanden morgens und hatte sich ohne Schuh und Strümpfe an den Zeichentisch gestellt, drei Stunden so gestanden und dann erst die Folgen gespürt. Das Haus läuft zusammen, man glaubt, es sei zu Ende mit ihm, und kurz darauf reitet er schon wieder und arbeitet weiter an den Zeichnungen für den äußeren Teil der Porta Pia. Wir haben eine lebendige Schilderung des Ereignisses in einem Briefe des Tiberio Calcagni, der im Auftrage Leonardo Buonarrotis über das Befinden Michelangelos nach Florenz zu berichten hatte. Gewohnt, die Menschen zu durchschauen, scheint Michelangelo jedoch den Auftrag gemerkt und Leonardo angedeutet zu haben, er wünsche diese Beaufsichtigung nicht.

Zu Anfang 1564 traten die Anzeichen ein, welche ein baldiges Ende wahrscheinlich machten. Michelangelo nahm zusehends ab, ein schleichendes Fieber, dessen Ausgang sich voraussehen ließ, zehrte an seinen Kräften. Am 14. Februar berichtet Calcagni nach Florenz: wie er gehört habe, es stehe schlecht mit Michelangelo, und wie er sogleich zu ihm gelaufen sei. »Ich traf ihn außer dem Hause«, heißt es im Briefe, »im vollen Regen umhergehen. Ich sagte ihm, es scheine mir nicht geraten, bei solchem Wetter im Freien zu bleiben. Was soll ich tun, sagte er, es geht mir schlecht und ich finde nirgends Ruhe mehr. – Niemals bin ich so besorgt um sein Leben gewesen; sein ganzes Aussehen war danach, und er konnte die Worte nicht mehr richtig finden.«

Calcagni verspricht dann am nächsten Tag neue Nachrichten zu geben, schließt aber schon damit, es werde ihm gesagt, daß Michelangelo verschieden sei.

Vier Tage lang aber dauerte es noch. Michelangelo begehrte jetzt selbst die Anwesenheit seines Neffen. Am 17. ließ er Daniele da Volterra holen und bat ihn, nicht von ihm zu gehen bis Leonardo gekommen sei. Am 18. um Avemaria starb er, im neunzigsten Jahre seines Alters. Daniele da Volterra, Tommaso Cavalieri und Diomede Leoni waren bei ihm. Der letztere ein der Familie nahestehender Florentiner, dessen Brief mit der Trauernachricht an Leonardo, von demselben Abend noch, kürzlich ans Licht gekommen ist. Ihnen und den Ärzten sprach Michelangelo da erst seinen letzten Willen aus: Meine Seele in die Hände Gottes, meinen Leib der Erde, was ich besitze meinen Verwandten. Und zuletzt noch den Wunsch, daß sein Körper nach Florenz gebracht und dort begraben werde. – Man meint, die Erde müsse innehalten einen Augenblick in ihrem Laufe, wenn eine solche Kraft ihr entrissen wird. Glücklich diejenigen, die ihr Schicksal im Leben einmal das empfinden ließ. Denn so groß der Verlust ist, den sie erleiden, wenn ein solches Herz plötzlich stillsteht, und die Augen sich schließen, die alles durchblickten und überschauten: die Erinnerung an das, was der Mann gewesen ist, verleiht ihnen für immer eine höhere Ansicht der Dinge. Diejenigen, die Goethe kannten, bildeten lange noch in Deutschland eine unsichtbare Gemeinde. Die, welche Michelangelo gesehen, und wäre es zuletzt nur die flüchtigste Begegnung gewesen, die sie ihm näher brachte, müssen es damals getan haben.

Wir besitzen den Bericht eines der Ärzte an den Herzog von Florenz. »Heute Abend«, lautet er, »verschied zu einem besseren Leben der ausgezeichnete und in Wahrheit als Wunder der Natur dastehende Messer Michelangelo Buonarroti, und da ich ihn mit den anderen Ärzten in seiner letzten Krankheit behandelt habe, vernahm ich seinen Wunsch, daß sein Körper nach Florenz gebracht würde. Außerdem, da keiner seiner Verwandten anwesend war und er ohne Testament gestorben ist, erlaube ich mir, Ew. Exzellenz, der Sie seine seltenen Tugenden so sehr zu schätzen wußten, darüber Nachricht zu geben, damit der Wunsch des Verschiedenen zur Ausführung gelange und seine schöne Vaterstadt durch die Gebeine des größten Mannes, den jemals die Welt getragen hat, größere Ehre erlange.

Rom, den 18. Februar 1564.

Gherardo Fidelissimi aus Pistoia,
durch Ew. Exzellenz Gnade und Liberalität
Doktor der Medizin.«

Behandelt wurde Michelangelo in seiner letzten Krankheit hauptsächlich von Federigo Donati.

Michelangelo hatte die Absicht gehabt, vor seinem Ende seine Habseligkeiten nach Florenz zu schaffen, wo Leonardo ein Haus kaufen sollte, um sie aufzunehmen. Es kam nicht dazu. Der florentinische Gesandte in Rom war vom Herzoge beauftragt worden, im Falle daß Michelangelos Tod einträte, sofort alles versiegeln zu lassen, damit nichts abhanden komme, wie in solchen Fällen nicht selten zu geschehen pflegte. Auch den Bericht des Gesandten und das genaue Inventarium haben wir. Es fand sich außer geringem Hausrat und einigen Marmorarbeiten nichts vor.

Seine Zeichnungen hatte Michelangelo verbrannt. Ein versiegelter Kasten wurde in da Volterras und Cavalieris Beisein geöffnet und eine Summe von 8000 Scudi gefunden. Zwei von den Statuen ließ der Gesandte sogleich einpacken, um sie nach Florenz zu senden. Dorthin wurden dann auch die Kleinigkeiten gebracht, die sich im Atelier fanden: allerlei antike Figürchen aus Terracotta und dergleichen, die jetzt im Hause der Familie stehen, wo auch Michelangelos Schwert und der Stock, an dem er ging, als rührende Überbleibsel aufbewahrt sind, seiner Papiere nicht zu gedenken.

Als Leonardo am dritten Tage nach dem Tode ankam, war die Leichenfeier in Rom schon vorüber, die in der Kirche St. Apostoli vor sich ging. Alle Florentiner und was in der Stadt an geistig bedeutenden Personen lebte, hatte teilgenommen. Jetzt handelte es sich darum, die sterblichen Überreste nach Florenz zu führen. Man fürchtete auf Widerstand bei den Römern. Es wurde behauptet, Michelangelos letzter Wunsch, in seiner Vaterstadt begraben zu sein, sei nicht wahr. Man ging heimlich zu Werke. Der Sarg wurde als Kaufmannsgut aus den Toren geschafft. Am 11. März langte er in Florenz an. Nach dreißig Jahren freiwilliger Verbannung kam Michelangelo tot zurück in seine Vaterstadt. Nur wenige wußten, daß er es sei, der in dem verhüllten Sarge durch das Tor einzog. Der Herzog scheint den Befehl ausgesprochen zu haben, daß geschwiegen werde. Unberührt, wie er ankam, wurde der Sarg in die Kirche von San Piero Maggiore getragen und niedergesetzt.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Gegen Abend versammelten sich die Künstler in der Kirche. Eine schwarze Sammetdecke mit Gold gestickt lag über der Leiche und ein goldenes Kruzifix darauf. Alle umgaben sie in dichtem Kreise; Fackeln wurden angezündet, welche die älteren Künstler trugen, während die jüngeren die Bahre auf die Schulter nahmen, und so ging es nach Santa Croce, wo Michelangelo beigesetzt werden sollte.

Es war ganz in der Stille geschehen. Einzeln hatten sich die Künstler in San Piero Maggiore zusammengefunden. Aber das Gerücht war durch Florenz geflogen, die Leiche sei angelangt. Als der Zug aus der Kirche trat, empfing ihn eine dunkle Menschenmenge, die still durch die Straßen mitzog nach Santa Croce. Hier erst in der Sakristei wurde der Sarg geöffnet. Das Volk war in die Kirche eingedrungen. Da lag er, und obgleich drei Wochen vergangen waren seit seinem Tode, schien er unverändert und trug kein Zeichen der Verwesung: die Züge unentstellt, als wäre er eben gestorben.

Aus der Sakristei trugen sie ihn in die Kirche, an die Stelle, wo er beigesetzt werden sollte. Die Menschenmenge aber, die jetzt zuströmte, war so groß, daß es unmöglich war, das Grabmal zu schließen. Jeder wollte ihn noch einmal sehen. Wäre es nicht in der Nacht gewesen, sagt Vasari, man hätte ihn müssen offen stehen lassen. So aber, weil man im Geheimen alles vorbereitet hatte und doch nur die kamen, welche in der Schnelligkeit davon gehört, verlief sich das Volk zuletzt.

Was hatten die Leute an Michelangelo? Es waren die Florentiner nicht mehr, die verstanden, warum er fortgegangen war und nicht zurückkehren wollte. Die Sorge des Herzogs war eine unnötige, daß der Leichnam des großen Mannes eine politische Erregung hervorrufen könne. Sie starrten ihn an, heimlich trauernd vielleicht über den Verlust der Freiheit und ihre Schwäche, zu der sie herabgesunken waren, wie ein Volk, das in das Grabmal eines alten Kaisers blickt, unter dem es vor Zeiten groß und ruhmvoll war, dessen verfallener Körper aber ihm doch kaum eine Ahnung der Zeiten zurückgibt, in denen diese Faust noch ein Schwert führte. Sie stehen davor, betrachten ihn, es durchschauen sie etwas, das bald wieder verschwindet, und jeder geht nach Hause und besorgt seine Geschäfte weiter.

Erst im Juli waren die Vorbereitungen beendet für die Leichenfeier, welche die Künstler veranstalteten. Vasari beschreibt sie in einem ausgedehnten Berichte; Stück für Stück erzählt er, wie die Kirche von San Lorenzo ausgeschmückt war, welche Embleme und Unterschriften, und von welchen Künstlern jedes einzelne gearbeitet wurde. Varchi hielt die Leichenrede. Der einzige, der Michelangelo damals noch verstand in Florenz, Benvenuto Cellini, war nicht dabei. Es muß allerlei vorgefallen sein, in den Akten der Akademie steht, er habe nicht gewollt; Vasari sagt, er habe sich darüber gewundert, daß Cellini gefehlt; an einem andern Orte, er sei krank gewesen. In Santa Croce ließ Leonardo Buonarroti ein Denkmal errichten, zu welchem der Herzog den Marmor schenkte; Dantes, Alfieris und Machiavellis Grabmäler sind in derselben Kirche.

Der Herzog sprach die Absicht aus, Michelangelo in Santa Maria del Fiore ein Denkmal errichten zu lassen, aber er hat es nicht getan. Schon zu Michelangelos Lebzeiten wurde seine Bildsäule für die Stadt verlangt; heute endlich steht unter den Standbildern großer Florentiner, die den Hof der Uffizien schmücken, auch das seinige, aber in einer Reihe mit anderen und ohne hervorzustechen.

Alle Italiener fühlen, daß neben Dante und Raffael er die dritte Stelle einnimmt und mit ihnen die Dreizahl der größten Männer bildet, die ihr Vaterland hervorgebracht. Ein Dichter, ein Maler und einer, der groß in allen Künsten war. Wer wollte, wo diese stehen, einen Feldherrn oder Staatsmann ebenbürtig an ihre Seite stellen? Die Kunst allein ist es, die die Blüte der Völker bezeichnet.

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Anmerkungen:
  1. Condotto da molti anni all' ultime ore
    Tardi conosco, o mondo, ich tuoi diletti;
    La pace, che non hai, altrui prometti,
    E quel riposo che anizi al nascer muore

    La vergogna, e 'l timore
    Degli anni, che or prescrive
    Il ciel, non mi rinnuova
    Che'l vecchio e dolce errore.

    Nel qual, chi troppo vive,
    L'anima ancide, e nulla all' corpo giova.

    Il dico, e so per pruova
    Di me, che'n ciel quel sol' ha miglior sorte
    Che ebbe al suo parto più pressa la morte.
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