Georg Simmel

Die Religion

Meinen Freundinnen Gertrud Kantorowicz und Margarete von Bendemann

Es ist keine ganz seltene Erfahrung, daß Mächte persönlicher und sachlicher Art, in unser Leben in einem gewissen Maße eingreifend, als Störungen und Unangebrachtheiten empfunden werden, diesen Wirkungscharakter aber in dem Augenblick verlieren, in dem sie das Maß ihres Sichanbietens und ihrer Ansprüche erheblich steigern. Was sich als Teil und relative Größe nicht mit den anderen Elementen des Lebens, in die es sich verflicht, vertragen wollte, kann als Absolutes und Herrschendes ein organisches, befriedigtes Verhältnis zu ihnen gewinnen. Einer Liebe, einem Ehrgeiz, einem neu auftauchenden Interesse wollen sich oft die bereits bestehenden Lebensinhalte nicht koordinieren; sobald aber Leidenschaft oder Entschluß sie in das Zentrum der Seele stellen und die Gesamtheit unserer Existenz auf sie abstimmen, so ist auf dieser ganz neuen Basis überhaupt ein neues Leben gegeben, dessen Tonart wiederum eine einheitliche sein kann. Diese Schicksalsform hat sich nicht selten an inneren religiösen Entwicklungen realisiert. o die Ideale und Forderungen der Religion nicht nur mit Trieben niederer Art, sondern auch mit Normen und Werten geistigen und sittlichen Wesens in Widerspruch geraten, da ist der Ausweg aus solchen Verschiebungen und Verwirrungen oft nur so gefunden worden, daß jene ersteren Ansprüche ihre relative Rolle immer weiter und bis zu einer absoluten steigerten; erst indem die Religion den entscheidenden Grundton für das Leben gab, gewannen dessen einzelne Elemente wieder das rechte Verhältnis zueinander oder zum Ganzen. Nun erringt ein Element diese zentrale Wirksamkeit in der Praxis wohl nur unter schweren Kämpfen gegen andere, die bei dieser Neuordnung nur zu verlieren haben. Indem wir einer Mehrheit solcher Forderungen ein Recht zugestehen müssen, d. h. es jeder einzelnen sowohl nach ihrem eigenen inneren Anspruch verleihen, wie nach ihrer Fähigkeit, das Leben einheitlich zu organisieren – entsteht zunächst ein Widerspruch und Konflikt, der wenigstens prinzipiell, wenigstens theoretisch lösbar sein muß, wenn das Leben nicht schon in seiner fundamentalen Möglichkeit heillos zerspalten bleiben soll. Die theoretische Spekulation hat hier die Art der Schlichtung vorgezeichnet. Als das Problem des Durcheinanderwirkens des körperhaften und des geistigen Daseins die Denker zu beunruhigen begann, löste Spinoza jene Unverträglichkeit so auf, daß die Ausdehnung auf der einen Seite, das Denken auf der andern das ganze Dasein je in ihrer Sprache ausdrückt; sie vertrugen sich, sobald sie nicht mehr als relative Elemente ineinandergriffen, sondern jedes die Totalität der Welt für sich beanspruchte und auf seine Art lückenlos darstellte. So wird es sich also um die allerallgemeinste Maxime handeln, daß jede der großen Formen unserer Existenz als fähig erwiesen werden muß, in ihrer Sprache die Ganzheit des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Die Organisierung unseres Daseins vermittels der absoluten Herrschaft eines Prinzips auf Kosten aller andern, würde so auf eine höhere Stufe gehoben werden: jedes würde innerhalb des von ihm souverän geformten Weltbildes keine Störung durch das andere zu fürchten haben, weil es diesem andern das gleiche Recht der Weltformung einräumt. Sie könnten sich nun prinzipiell so wenig kreuzen, wie Töne mit Farben. Zum Grunde liegt hier die Scheidung der Formen von den Inhalten des Daseins. Diese Scheidung, ausgehend von der primitivsten Praxis, mit der wir die gleiche Materie zu den mannigfachsten Formen verarbeiten, die gleiche Form in mannigfachen Stoff prägen – wird zum allumfassendsten Schema für die Bildung einer Welt und die Deutung aller Weiten der Lebensgestaltung. Wir können uns vorstellen, daß alle Arten, auf die der Mensch handelnd und schöpferisch, wissend und fühlend lebt, Ordnungsarten oder Kategorien seien, die den unendlich ausgedehnten, aber innerhalb aller Formungen identisch bleibenden Daseinsstoff in sich aufnehmen. Und jede dieser Kategorien ist prinzipiell befähigt, die Ganzheit dieses Stoffes nach ihren Gesetzen zu bilden. Der künstlerische Mensch und der wissenschaftliche, der genießende und der handelnde – sie finden alle ein gleiches Material an Greifbarkeiten und Hörbarkeiten, an Impulsen und Schicksalen, und ein jeder, insofern er rein Künstler oder Denker, Genießer oder Praktiker ist, gestaltet daraus ein besonderes Weltganzes; vorbehalten daß, was der eine schon geformt hat, für den anderen manchmal erst Stoff ist, und daß jede solche Form, wie sie sich an einem historischen Punkte der endlosen Entwicklung unserer Art anbietet, sich den Stoff nur ganz fragmentarisch, nur in ganz wechselnden Verhältnissen zueignen kann; vorbehalten auch, daß wir diesen Stoff wahrscheinlich nie in seiner Reinheit ergreifen können, sondern immer nur schon in Formung zum Bestandteil irgend einer Welt. Und damit deutet sich die Vielheit und die Einheit der geistgestalteten Welten: formende Kategorien, deren jede ihrem Motiv nach eine ganze, eigengesetzliche, aus einheitlichem Grundtrieb in sich beschlossene Welt bedeutet. Und alle diese Welten aus einem und demselben Material gebaut, aus letzten Weltelementen, die je nach der synthetischen Strömung, in die der Geist sie reißt, künstlerische, praktische, theoretische werden; auf der anderen Seite aber ebenso zusammengehalten von dem einreihigen Verlauf des seelischen Lebens. Denn dieses ergreift aus der Vielheit jener Welten, die sozusagen als ideelle Möglichkeiten vor uns, in uns liegen, immer nur Bruchstücke, um sich aus ihnen zusammenzuleben, wobei es freilich in seinen wechselnden Zwecken und seinem labilen Gesamtgefühl jene zu harten Konflikten aneinanderstoßen läßt.

Für den naiven Menschen ist die Welt der Erfahrung und der Praxis die Wirklichkeit schlechthin, als sinnlich wahrnehmbar und behandelbar existieren die Inhalte der Welt; wenn sie unter den Kategorien der Kunst oder der Religion, der Gefühlswerte oder der philosophischen Spekulation geformt werden, so gilt dies entweder als ein Überbau über jenem allein wirklichen Dasein oder wird ihm gegenübergestellt, um sich mit ihm wieder zu der Mannigfaltigkeit des Lebens zu verweben – wie sich dem Lauf des individuellen Daseins Fragmente fremder oder gar feindlicher Reihen einmischen, um sein Ganzes zu ergeben. Damit entspringen Unsicherheiten und Wirrungen in den Vorstellungen von Welt und Leben, die sich sogleich heben, wenn man sich entschließt, auch die sogenannte »Wirklichkeit« als eine jener Formen anzuerkennen, in die wir gegebene Inhalte ordnen, – eben dieselben Inhalte, die wir auch künstlerisch oder religiös, wissenschaftlich oder im Spiel anordnen können. Die Wirklichkeit ist keineswegs die Welt schlechthin, sondern nur eine, neben der die Welt der Kunst wie die der Religion stehen, aus dem gleichen Material nach anderen Formen, von anderen Voraussetzungen aus zusammengebracht. Die erfahrbare wirkliche Welt bedeutet wahrscheinlich diejenige Ordnung gegebener Elemente, die für die Erhaltung und Entwicklung des Gattungslebens die praktisch zweckmäßigste ist. Als handelnde Wesen erfahren wir von der umgebenden Welt Reaktionen, deren Nützlichkeit oder Verderblichkeit von den Vorstellungen abhängt, auf die hin wir handeln. Als Wirklichkeit bezeichnen wir nun diejenige Vorstellungswelt oder Vorstellungsart, die zugrunde liegen muß, damit wir nach der Besonderheit unserer gattungsmäßigen psycho-biologischen Organisation förderlich, lebenerhaltend handeln; für anders eingerichtete, anderes bedürfende Wesen würde eine andere »Wirklichkeit« bestehen, weil für ihre Lebensbedingungen ein anderes, d. h. von anderen Vorstellungen fundamentiertes Handeln das nützliche wäre. So entscheiden die Zwecke und prinzipiellen Voraussetzungen darüber, welche »Welt« von der Seele geschaffen wird, und die wirkliche Welt ist nur eine von vielen möglichen. In uns selbst aber liegen noch andere Grundforderungen als die generellen Bedürftigkeiten der Praxis, und von ihnen aus erwachsen andere Welten. Auch die Kunst lebt von den elementaren Inhalten der Wirklichkeit; aber sie wird zur Kunst, indem sie diesen von den artistischen Bedürfnissen des Anschauens, des Fühlens, der Bedeutsamkeit her Formen gibt, die ganz jenseits derer der Wirklichkeit stehen: sogar der Raum innerhalb des Gemäldes ist eine ganz andere Gestaltung als der Raum der Realität. Die anschauliche Geschlossenheit und der seelische Ausdruck sind in der Kunst so, wie die Wirklichkeit sie nie darbietet, – da sonst nicht einzusehen wäre, weshalb wir neben der Wirklichkeit noch eine Kunst brauchten. Man könnte von einer besonderen Logik, von einem besonderen Wahrheitsbegriff der Kunst sprechen, von einer besonderen Gesetzlichkeit, mit der sie neben die Welt der Wirklichkeit eine neue, aus demselben Material gestaltete und ihr äquivalente setzt.

Nicht anders dürfte es sich mit der Religion verhalten. Aus dem anschaulichen und begrifflichen Stoff, den wir auch in der Schicht der Wirklichkeit erleben, erwächst in neuen Spannungen, neuen Maßen, neuen Synthesen die religiöse Welt. Die Begriffe von Seele und Dasein, von Schicksal und Schuld, von Glück und Opfer bis zu dem Haar auf dem Kopfe und dem Sperling auf dem Dach bilden zwar auch ihren Inhalt – aber nun werden sie von Wertungen und Gefühlstönen begleitet, die sie wie in andere Dimensionen einordnen, ihnen ganz andere perspektivische Verschiebungen zuteil werden lassen, als wenn eben dasselbe Material die empirische oder die philosophische oder die künstlerische Ordnung bildet. Das religiöse Leben schafft die Welt noch einmal, es bedeutet das ganze Dasein in einer besonderen Tonart, so daß es seiner reinen Idee nach mit den nach anderen Kategorien erbauten Weltbildern sich überhaupt nicht kreuzen, ihnen nicht widersprechen kann, – so sehr das Leben des einzelnen Menschen durch all diese Schichten traversieren und, weil es nicht ihre Ganzheiten, sondern nur jeweils Teile von ihnen erfaßt, sie zu Widersprüchen durcheinanderwirren mag. Darauf zielte die an den Anfang dieser Erörterung gestellte Reflexion: daß man für ein Lebenselement, das sich mit den übrigen nicht friedlich in das Leben teilen will, oft einen widerspruchslosen Sinn erhält, sobald man es zu einer letzten und absoluten Instanz des Lebens macht. Erst wenn man einsieht, daß die Religion eine Totalität des Weltbildes ist, koordiniert seinen anderen theoretischen oder praktischen Totalitäten, gewinnt sie, und mit ihr diese anderen Systeme des Lebens, die Ungestörtheit inneren Zusammenhanges. Solcher Begriff oder Anspruch wird dadurch nicht berührt, daß seine Reinheit vielleicht nur selten vom Leben ganz respektiert wird. Wie vorhin von einer artistischen, kann man von einer religiösen Logik sprechen, die Beweise anerkennen, Begriffe bilden, Werte gültig übertragen kann – alles aber so, wie keine andere Logik es jemals legitimieren würde. Aber wie die wissenschaftliche Logik, so beansprucht oft genug die religiöse, alle anderen in sich zu begreifen oder sie zu dominieren. Wo sie dies durchzuführen sucht, kommen götzendienerische, statutarische, weltliche Elemente in sie hinein: es sind diejenigen, an denen eine andere Logik als die religiöse gültig ist. Hier liegen die allgemeinsten, kaum vermeidlichen Schwierigkeiten der Religion: daß sie aus Ansprüchen und Antrieben der Seele hervorgeht, die mit den »Sachen« der Empirie und mit verstandesmäßigen Kriterien nicht das geringste zu tun haben, aber nun, statt eine autonome Lebenswelt aufzubauen, sich in Behauptungen gewohnten realistischen, wie selbstverständlich sich aufdrängenden Gefüges umsetzen; unvermeidlich geraten solche Behauptungen über die diesseitige und jenseitige Welt in Widersprüche mit den intellektuellen Maßstäben, die von ganz andersartigen Ursprüngen herkommen. Jene Bedürfnisse nach der Ergänzung des fragmentarischen Daseins, nach der Versöhnung der Widersprüche im Menschen und zwischen den Menschen, nach einem festen Punkt in allem Schwankenden um uns herum, nach der Gerechtigkeit in und hinter den Grausamkeiten des Lebens, nach der Einheit in und über seiner verworrenen Mannigfaltigkeit, nach einem absoluten Gegenstande unserer Demut wie unseres Glücksdranges – alles dies nährt die transzendenten Vorstellungen: der Hunger des Menschen ist ihre Nahrung. Der Gläubige des reinsten religiösen Sinnes sieht gar nicht auf ihre theoretische Möglichkeit oder Unmöglichkeit hin, sondern fühlt ausschließlich, daß seine Sehnsucht in seinem Glauben ihre Ausmündung und Erfüllung gefunden hat. Daß all die so entstehenden Dogmen in der Art »wahr« sind, wie eine praktische Erfahrung oder ein wissenschaftlicher Satz, ist sozusagen erst ein sekundäres Interesse: das Wesentliche ist, daß sie überhaupt gedacht, empfunden werden, und ihre Wahrheit ist nur der unmittelbare oder vervollständigende Ausdruck für die Intensität der inneren, verlangenden Bewegung, die auf sie führte – ungefähr wie eine starke subjektive Sinnesempfindung uns zwingt, an die Existenz eines Gegenstandes, der ihr entspreche, zu glauben, auch wenn wir logisch an dieser zweifeln müßten. Und mag jene dem eigenen Zentrum entwachsende Geschlossenheit der religiösen Welt, die deren tiefstes Recht ausmacht, auch bloße Intention bleiben, die der Mischcharakter des empirischen Menschen nie rein ausführt – so wird daraus jedenfalls verständlich, wieso Religion nicht, wie behauptet wird, mit der Ethik zusammenfallen kann. Denn diese ist ihrerseits eine besondere Kategorie, von der aus eine Welt sich formen kann. Von den Unterschieden beider Welten braucht man gar nicht auszugehen; daß beides Welten sind, das will sagen, Zusammenhänge des Weltinhalts, die je ein allbeherrschendes letztes Motiv zu Ganzheiten gestaltet – das genügt, um das ganze oder stückweise Hineinschieben der einen in die andere zu demselben Widerspruch zu machen, wie die Mischung der gedachten und der ausgedehnten Welt für Spinoza wäre. Sicher realisiert der Mensch – ich deutete schon darauf hin – in der Beschränktheit seiner Kräfte und Interessen diese möglichen, sozusagen ideell vorhandenen Welten überhaupt nur zu geringen Teilen. Wie er nicht alle unmittelbar gegebenen Inhalte zu wissenschaftlicher Erkenntnis formt, wie nicht alle ihm zu Kunstgebilden werden, so treten auch nicht alle in den Aggregatzustand der Religion ein; schon weil dieser Formungsprozeß, obgleich prinzipiell überall vollziehbar, doch nicht an allen Bestandteilen von Welt und Geist ein immer gleich bildsames Material findet.

Mag nun der Stoff, an den sich die formende Religiosität wendet, ein unmittelbarer oder schon vorgeformter, ein reiner oder getrübter sein – jedenfalls entsteht nur vermöge seiner, nur an einem Komplex weltmäßiger Inhalte das, was sich historisch als Religion bietet. Das Religiöse in seinem spezifischen Wesen, seinem reinen, von allem »Ding« freien Dasein ist ein Leben; der religiöse Mensch ist einer, der auf eine bestimmte, nur ihm eigene Art lebt, dessen seelische Prozesse einen Rhythmus, eine Tonart, eine Anordnung und Maßverhältnis der seelischen Einzelenergien zeigen, die von denen des theoretischen, künstlerischen, praktischen Menschen als solchen unverwechselbar verschieden sind. Aber dies alles ist eben Prozeß und noch nicht Gebilde. Und jenes Leben, jene Funktion muß deshalb, wenn die bezeichenbaren, sozusagen objektiven Religionen entstehen sollen, Inhalte ergreifen und sie formen, wie die apriorischen Kategorien des Erkennens die theoretische Welt formen. Und wie diese Verstandeskategorien Erkenntnis möglich machen, aber für sich noch nicht Erkenntnis sind – so machen die religiösen Formen von Sünde und Erlösung, von Liebe und Glaube, von Hingabe und Selbstbehauptung als Lebensbewegtheiten Religion möglich, aber sie sind sie für sich noch nicht; so wenig, wie der Inhalt, der so zur Religion emporgelebt wird, für sich religiös ist. Mit einer stilisierenden Linie gezeichnet, die nicht die historische Entwicklung, aber vielleicht doch deren typischen Sinn und zeitlose Ordnung wiedergibt, vollzieht sich die Vereinigung der beiden Faktoren folgendermaßen. Die religiöse Stimmung des Menschen, als eine charakteristische Ablaufsart seines Lebensprozesses, läßt alle möglichen Bezirke, in denen dieser Prozeß sich abspielt, als religiöse erleben. Und nun erst steigen aus dem so gestimmten Leben und Weltfühlen die Sondergebilde auf, mit denen der religiöse Prozeß Körper wird oder einen Gegenstand gewinnt. Die religiöse Strömung, die Inhalte durchflutend, die das Leben sonst noch intellektuell, praktisch, künstlerisch anordnet, reißt sie in der neuen Form ins Transzendente empor. Die Religiosität, als innerste Lebensbeschaffenheit, als die unvergleichliche Funktionsart gewisser Existenzen, erobert gleichsam erst auf der Wanderung durch die inhaltliche Mannigfaltigkeit der Welt eine Substanz für sich und stellt damit sich selbst sich gegenüber, die Welt der Religion dem Subjekt der Religion. Sie muß erst die Weltinhalte durch ihre Erlebensart färben, um dann, deren sonstige Realisierungsformen hinter sich lassend, aus ihrem nun aufgewachsenen religiösen Wert die unzähligen Welten des Glaubens, der Götter, der Heilstatsachen aufzubauen. Es sind vielleicht drei Segmente des Lebenskreises, an denen die Transponierung in die religiöse Tonart vor allem hervortritt: am Verhalten des Menschen zur äußeren Natur, zum Schicksal, zur umgebenden Menschenwelt. Ist dieses Verhalten von vornherein, von innen her religiös, so entläßt es sozusagen am anderen Ende die Religion als Gebilde, zu dem die jetzt inhaltbereicherte, jetzt und nur am Inhalt gestaltgewordene religiöse Funktion sich gefestigt hat. Indem es hier unsere Aufgabe ist, diese Bedeutung an dem zuletzt genannten Verhalten zu entwickeln, wird eine Andeutung auch der beiden anderen Verhältnisse den Rahmen dafür herstellen und die hier überall zugrunde gelegte Auffassung des Religiösen verdeutlichen helfen.

Es ist eine längst triviale Wendung, daß Religion nichts anderes ist als eine gewisse Übertreibung empirisch-seelischer, von unseren Naturzusammenhängen ressortierender Tatsachen. Der weltschaffende Gott erscheint als eine Hypertrophie des Kausaltriebes, das religiöse Opfer als eine Fortsetzung der erfahrenen Notwendigkeit, für jedes Erwünschte einen Preis daranzugeben, die Furcht vor Gott als die Zusammenfassung und vergrößernde Spiegelung der Übergewalt, die wir fortwährend von der physischen Natur erfahren. Nur die vollkommenste Oberflächlichkeit kann noch an dieser Hypothese Halt machen. Handelte es sich wirklich nur um ein Mehr solcher sinnlich gebundenen Erfahrbarkeiten, so wäre eben, daß es zu diesem Mehr kommt, aus dem sinnlich-empirischen Verhältnis selbst doch nicht zu begreifen; so daß diese Reduktion das eigentliche Problem gerade unterschlägt. Dieses fordert vielmehr die Wendung: daß die religiösen Kategorien schon zum Grunde liegen, das Material von vornherein mitwirksam gestalten müssen, wenn dieses als religiös bedeutsam empfunden werden, wenn sich aus ihm religiöse Gebilde ergeben sollen. Nicht das Empirische wird zum Religiösen übertrieben, sondern das im Empirischen liegende Religiöse wird herausgestellt. Wie die Gegenstände der Erfahrung eben dadurch erkennbar sind, daß die Formen und Normen der Erkenntnis zu ihrer Bildung aus dem bloßen Sinnesmaterial gewirkt haben; wie wir deshalb z. B. das Kausalgesetz aus unseren Erfahrungen abstrahieren können, weil wir unsere Erfahrungen von vornherein ihm gemäß, das sie überhaupt erst zu »Erfahrungen« macht, geformt haben, – so sind die Dinge religiös bedeutsam und steigern sich zu transzendenten Gebilden, weil und insofern sie von vornherein unter der religiösen Kategorie aufgenommen sind und diese ihre Bildung bestimmt hat, bevor sie bewußt und vollständig als religiös gelten. Wenn wirklich Gott als Weltschöpfer dem Fortsetzungszwang der Ursachenreihe entspringt, so liegt das religiöse, zum Transzendenten aufstrebende Element schon gleich in den niederen Stufen des Kausalprozesses. Einerseits freilich verbleibt dieser innerhalb der konkreten Erkenntnis und verbindet ein gegebenes Glied mit dem nächsten; allein außerdem bringt der rastlose Rhythmus dieser Bewegung einen Ton von Unbefriedigung an allem Gegebenen mit sich, von Degradierung jedes einzelnen zu verschwindender Nichtigkeit in einer unermeßlichen Kette, – kurz, ein Klang aus der religiösen Tonart schwebt von vornherein in der Kausalbewegung mit. Es ist die gleiche Gedankenbewegung, die je nach der Schicht, in der wir sie verlaufen lassen, je nach den Gefühlsakzenten, mit denen wir sie ausstatten, auf eine Welt erkennbarer Natur oder auf einen im Transzendenten liegenden Punkt hinausgeht. Gott als Weltursache bedeutet, daß aus diesem, von vornherein in einer religiösen Kategorie verlaufenden Prozesse sein innerer Sinn gleichsam auskristallisiert ist, wie das abstrakte Kausalgesetz bedeutet, daß aus dem Kausalprozeß, soweit er unter der Kategorie des Erkennens erfolgt, seine Formel extrahiert ist. Niemals würde die endlose Fortsetzung der Ursachenreihe, wie sie die empirisch erkennbare Welt ordnet, zu einem Gott aufgestiegen sein, niemals wäre von ihr allein aus der Sprung in die religiöse Welt zu begreifen, – wenn eben diese Reihe nicht zugleich auch unter der Ägide des religiösen Empfindens ablaufen könnte, wofür dann der weltschaffende Gott der abschließende Ausdruck ist, die Substanz, in der die an einer Seite und im Sinn jenes Prozesses lebende Religiosität sich niederschlagen kann. Leichter durchschaubar ist es, wie unsere Gefühlsverbindung mit der äußeren Natur sich unter dem religiösen Zeichen entwickeln kann, und wie diese Entwickelung sich in dem Gegenstand der Religion gleichsam sich selbst gegenüberstellt. Die Natur um uns erregt uns bald zu ästhetischem Genießen, bald zu Schreck und Grauen und der Empfindung des Erhabenen ihrer Übergewalt – jenes, indem uns auf einmal durchsichtig und zugängig erscheint, was wir eigentlich als ein Fremdes und ewiges Gegenüber fühlen, dieses, indem das bloß Physische und uns als solches ganz Indifferente und Verständliche eine schreckhaft undurchdringliche Dunkelheit annimmt –, bald zu jenem schwer analysierbaren Grundgefühl, das ich nur als Erschütterung schlechthin zu bezeichnen wüßte: wenn wir plötzlich im Tiefsten ergriffen und bewegt werden, nicht durch außergewöhnliche Schönheit oder Erhabenheit der Naturerscheinung, sondern oft durch einen Sonnenstrahl, der ein Laub durchstreift, oder durch die Biegung eines Astes im Winde, durch irgend etwas scheinbar gar nicht besonders Ausgezeichnetes, das wie durch eine geheime Konsonanz mit unserm Wesensgrunde diesen in leidenschaftlichen Eigenbewegungen schwingen läßt. Alle diese Empfindungen können verlaufen, ohne über ihre unmittelbare Zuständlichkeit hinauszugreifen, also ohne jeden religiösen Wert; sie können diesen aber auch annehmen, ohne ihren Inhalt irgendwie zu ändern. Wir fühlen bei solchen Erregungen manchmal eine gewisse Spannung oder einen Schwung, eine Demut oder Dankbarkeit, ein Ergriffensein, als spräche durch ihren Gegenstand eine Seele zu uns, – welches alles nur als religiös zu bezeichnen ist. Dies ist noch nicht Religion; aber es ist derjenige Vorgang, der Religion wird, indem er sich ins Transzendente fortsetzt, sein eigenes Wesen zu seinem Objekt werden läßt und von diesem sich selbst zurückzuempfangen scheint. Was man als den teleologischen Gottesbeweis bezeichnet hat: daß die Schönheit, Formung, Ordnung der Welt auf eine zweckmäßig bauende absolute Macht hinwiese, – ist nichts als die logische Gestaltung dieses religiösen Prozesses. Gewisse Empfindungen der Natur gegenüber werden eben außer in der rein subjektiven oder der ästhetischen oder metaphysischen Kategorie auch in der religiösen erlebt; und wie der empirische Gegenstand für uns den Schnittpunkt bedeutet, in dem eine Anzahl sinnlicher Eindrücke sich treffen, beziehungsweise bis zu dem hin sie verlängert werden, so ist der Gegenstand der Religion ein solcher Punkt, in dem Gefühle wie die angedeuteten ihre Einheit finden, indem sie sich gleichsam aus sich heraus setzen. Sie lassen ihn aus sich zusammenrinnen, und weil er so das Produkt ihrer aller ist, scheint er dem einzelnen gegenüber den Ausstrahlungspunkt der religiösen Linien, ein zuvor bestehendes Sein darzustellen. Das an Weltinhalten formend betätigte religiöse Leben ist an ihm zu einer eigenen religiösen Substanz geworden. – Gleich jetzt und für alles Folgende sei bemerkt, daß die Realität der religiösen Gegenstände, jenseits ihrer menschlich-seelischen Bewußtheit und Bedeutung, hier überhaupt nicht berührt wird; unsere Aufgabe ist nur psychologisch und bleibt das auch, wenn nicht das reale geschichtliche Zustandekommen der religiösen Vorstellungen, sondern das, was man die Logik der Psychologie nennen könnte, gesucht wird und die Zusammenhänge des Sinnes, durch die auch jene historisch realen Entwicklungen erst verständlich werden.

Das zweite Gebiet, zu dem die Seele in religiöse Verhältnisse treten kann, ist das Schicksal. Als dieses wird man im allgemeinen die Einwirkungen bezeichnen, die die Entwicklung des Menschen durch das, was nicht er selbst ist, erfährt, gleichviel, ob sein eigenes Tun und Sein in diese bestimmenden Mächte gemischt ist; indem hier das Innere und ein ihm Äußeres sich begegnen, enthält von jenem aus gesehen der Schicksalsbegriff ein Moment von Zufälligkeit, das seine prinzipielle Spannung gegen den von innen kommenden Sinn unseres Lebens auch dann zeigt, wenn das Schicksal einmal als der genaue Vollstrecker dieses letzteren auftritt. Wie nun auch unser Gefühl sich zu dem Schicksal stellen möge: ergeben oder rebellierend, hoffend oder verzweifelnd, fordernd oder befriedigt – es kann völlig irreligiös, aber auch völlig religiös verlaufen. Wegen jenes Momentes der Äußerlichkeit ist in allem »Schicksal« etwas, was von uns aus nicht begreiflich ist, und das ist eine Stelle, wo ihm das religiöse Cachet zuwächst. Nicht weniger dadurch, daß alles Zufällige, insoweit man es als »Schicksal« empfindet, doch einen Sinn hat. Tritt uns das Zufällige unter die Kategorie des Schicksals, so wird es, trotz alles leidvollen Inhaltes, erträglicher, denn nun scheint es auf uns eingestellt, seiner Gleichgültigkeit entkleidet. Der Zufall bekommt damit eine Würde, die zugleich die unsere ist. Es ist eine Erhöhung des Menschen, ein Schicksal zu haben, d. h. eine Summe von Zufällen nach einem wenn auch noch so problematischen, aber immerhin auf uns bezüglichen Sinn zu formen. Damit ist der Schicksalsbegriff, seiner Struktur nach, wie zur Aufnahme der religiösen Stimmung disponiert, die sich dann etwa, über ihn weg, aber ihn gewissermaßen mit sich tragend, in der Idee der Prädestination verfestigt. Es kommt hier darauf an, daß die religiöse Färbung nicht von einer geglaubten transzendenten Macht auf das Erleben ausstrahlt, sondern eine besondere Qualität des Gefühls selber ist, eine Konzentration oder ein Schwung, eine Weihe oder eine Zerknirschung, die in sich religiös ist: jenen Gegenstand der Religion erzeugt sie als ihre Objektivation oder ihr Gegenbild, wie die Sinnesempfindung ihr Objekt, das ihr doch gegenübersteht, aus sich entläßt. Auch in den Dingen des Schicksals, das seinem Begriff nach das von uns Unabhängige ist, wird das Erleben, soweit es in dem Sondergebiet der Religion verläuft, durch die produktiven, in uns zum Grunde liegenden religiösen Kräfte geformt; es stimmt mit den Kategorien der religiösen Gegenständlichkeit deshalb überein, weil diese es von sich aus gestaltet haben. So z. B., wenn »denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten gereichen müssen«. Nicht gerade so, daß die Dinge da wären und die Hand Gottes dann aus den Wolken griffe und sie für seine lieben Kinder so einrichtete, wie es für sie gut ist. Sondern der religiöse Mensch erlebt die Dinge von vornherein so, daß sie gar nicht anders können, als ihm die Güter gewähren, nach denen er als religiöser begehrt. Wie auch die Schicksale innerhalb der Ebenen irdischen Glückes, äußeren Erfolges, intellektueller Begreifbarkeit verlaufen mögen: innerhalb der religiösen werden sie sogleich von solchen Gefühlsspannungen begleitet, in solchen Wertskalen angeordnet, von solchen Deutungen verklärt, daß sie eben in den Sinn der Religion, die Fürsorge Gottes für das Beste seiner Kinder, hineinpassen müssen; – wie die Welt für die Erkenntnis kausal verlaufen muß, weil sie, in die Ebene des Erkennens gefaßt, a priori durch die in dieser wirksamen Kategorie der Kausalität geformt wird. Nicht weniger macht die formale Weite, die unter all unseren Lebenskategorien gerade die des Schicksals besitzt, sie geeignet, die Schwingung des religiösen Lebens aus dem virtuellen in den aktuellen Zustand über- und zum Begriff des Göttlich-Absoluten aufzuführen. Ein Moment der deutschen Mystik mag dies erläutern. Für Eckhart ist Gott schlechthin einfach und unterschiedslos, aber er schließt doch alle unterschiedlichen Wesen in sich; sie sind Gott selbst und doch zugleich »als ein Nicht« in ihm; er hat die Welt geschaffen und doch auch eigentlich nicht, da die Schöpfung eine ewige ist; Gott »fließt in alle Kreatur und bleibt doch von allem unberührt«; er ist in den Dingen, aber eben »so viel« auch über ihnen; die Seele ist durch Gott und ohne ihn nichts, aber doch auch Gott nichts ohne die Seele; Gott sehen ist dasselbe, wie von Gott gesehen werden. Alles dieses und vieles ähnliche hat man als Widersprüche und unvereinbare Gedankenströmungen bezeichnet – und sieht nicht, welches ungeheure Gedankenmotiv all dem zugrunde liegt: daß es kein ausdenkbares Verhältnis zwischen Gott und Welt gibt, das nicht wirklich wäre! Diese Form nimmt das Ens realissimum für die Mystik an, die an die Stelle des objektiven Gottes das Verhältnis zu Gott setzt – gewissermaßen dasjenige religiöse Faktum, das sich als die nächste, die unmittelbarste Objektivierung des subjektiven religiösen Lebensprozesses an diesen ansetzt. So mag es oft genug gerade die Spannweite unserer Schicksale sein, die, von der innerlich religiösen Lebensfunktion aufgenommen, ihr den Weg zu der unbegrenzten Weite des Göttlichen zeigt. Wie nicht die Erkenntnis die Kausalität schafft, sondern die Kausalität die Erkenntnis, so nicht die Religion die Religiosität, sondern die Religiosität die Religion. In dem Schicksal, wie es der Mensch bei einer gewissen inneren Stimmung erlebt, weben Beziehungen, Bedeutungen, Gefühle, die für sich noch nicht Religion sind, deren Tatsachengehalt auch für anders gestimmte Seelen nie etwas mit ihr zu tun bekommt; die aber, von diesen Tatsächlichkeiten gelöst und gewissermaßen von der sie durchströmenden Religiosität zusammengekittet, damit ein Reich des Objektiven für sich bilden, so »die Religion«, das heißt hier: die Gegenstandswelt des Glaubens, zustande bringend.

Und nun komme ich endlich auf die Beziehungen des Menschen zur Menschenwelt und die Quellen der Religion, die in ihnen fließen; auch in ihnen wirken Kräfte und Bedeutsamkeiten, die nicht von schon bestehender Religion eine religiöse Färbung zu Lehen tragen, sondern diese als die Lebensstimmung ihrer Träger in sich haben und nun, umgekehrt, die Religion als geistig-objektives Gebilde aus sich entwickeln. Die Religion in ihrem Vollendungsstadium, der ganze seelische Komplex, der sich an das transzendente Sein knüpft, erscheint als die absolute, zur Einheit zusammengeschlossene Form von Gefühlen und Impulsen, die schon das soziale Leben, soweit es – als Stimmung oder Funktion – religiös orientiert ist, in Ansätzen und gleichsam versuchsweise entwickelt. Um dies einzusehen, bedarf es eines Blickes auf das Prinzip der soziologischen Struktur, wie vorher auf das der religiösen. Das Leben der Gesellschaft besteht in den Wechselbeziehungen ihrer Elemente, – Wechselbeziehungen, die teils in momentanen Aktionen und Reaktionen verfließen, teils sich in festen Gebilden verkörpern: in Ämtern und Gesetzen, Ordnungen und Besitzstücken, Sprache und Kommunikationsmitteln. Alle diese sozialen Wechselwirkungen nun erheben sich auf Grund bestimmter Interessen, Zwecke, Triebe. Solche bilden gleichsam die Materie, die sich in dem Nebeneinander und Miteinander, in dem Füreinander und Gegeneinander der Individuen gesellschaftlich realisiert. Jener Stoff des Lebens kann beharren, während eine Mannigfaltigkeit dieser Formen ihn abwechselnd aufnimmt; und umgekehrt, in die ungewandelte Form der Wechselwirkungen können die allerverschiedensten Inhalte eingehen. So können manche Normen und Resultate des öffentlichen Lebens gleichmäßig von dem freien Spiel konkurrierender Kräfte wie von der reglementierenden Bevormundung niederer Elemente durch höhere getragen werden; so werden vielerlei soziale Interessen zuzeiten von der Familienorganisation gewahrt, um später oder anderswo von den rein beruflichen Vereinigungen oder der staatlichen Verwaltung übernommen zu werden. Eine der typischsten Formen des gesellschaftlichen Lebens, eine jener festen Lebensnormen, durch die sich die Gesellschaft das für sie zweckmäßige Verhalten ihrer Mitglieder sichert, ist die Sitte, – in niederen Kulturverhältnissen die typische Form des sozial erforderlichen Tuns und Lassens überhaupt. Eben dieselben Lebensbedingungen der Gesellschaft, die später einerseits als Recht kodifiziert und von der Staatsgewalt erzwungen werden, andrerseits der Freiheit des kultivierten und gezüchteten Menschen überlassen sind, – werden in engeren und primitiven Kreisen durch jene eigentümliche unmittelbare Aufsicht der Umgebung über den Einzelnen garantiert, die man Sitte nennt. Sitte, Recht, freie Sittlichkeit des Einzelnen sind verschiedene Verbindungsarten der sozialen Elemente, die alle ganz dieselben Gebote zum Inhalt haben können und bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten auch haben. Zu diesen Formen, mit denen die Gesamtheit sich eine Sicherheit für das richtige Verhalten des Individuums verschafft, gehören auch die Religionen. Das Religiöswerden von Verhältnissen charakterisiert vielfach eines ihrer Entwicklungsstadien. Ebenderselbe Inhalt, der vorher und nachher von anderen Formen der Beziehung zwischen Menschen getragen wird, nimmt in einer Periode die Form der religiösen Beziehung an. Am deutlichsten wird dies bei Gesetzgebungen, die zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten theokratischen Charakter zeigen, völlig unter religiöser Sanktion stehen, um anderwärts von der Staatsgewalt oder von der Sitte garantiert zu werden. Ja, es scheint, daß die notwendige Ordnung der Gesellschaft vielfach von einer ganz undifferenzierten Form ausgegangen wäre, in der die moralische, die religiöse, die juristische Sanktion noch in ungeschiedener Einheit geruht hätten, – so das Dharma der Inder, die Themis der Griechen, das Fas der Lateiner – und daß dann je nach den verschiedenen historischen Umständen bald die eine, bald die andere Bildungsform sich zum Träger solcher Ordnungen entwickelt habe. Hier und da kann man wohl auch noch etwas von den Stadien dieser Entwicklung zu finden meinen. Wenn von den Ägyptern in und vor der Römerzeit erzählt wird, sie hätten die Fremdherrschaft willig ertragen, vielleicht kaum empfunden, wenn nur die religiösen Ideen und Bräuche nicht angetastet wurden, diese aber wären freilich auch mit der ganzen Lebensform des Landes fast solidarisch gewesen – so ist hier wohl jener allumfassende Normierungsbegriff noch wirksam gewesen, der nur für Bewußtsein und Praxis durch eines der aus ihm entfaltbaren Elemente, das religiöse, vertreten oder vorzugsweise auf dieses konzentriert wurde. Das Umfassende und Mächtige, zugleich aber eigentümlich Dumpfe und Ungeklärte des ägyptischen religiösen Wesens erklärt sich vielleicht so, daß aus dem früher undifferenzierten Kollektivbegriff dessen, was überhaupt wertvoll oder »in der Ordnung« ist, der religiöse Faktor sich äußerlich wohl herausgearbeitet hatte, innerlich aber doch mit ihm verwachsen geblieben war. Diese kulturelle Bewegung der Inhalte in der vielfachen Rückläufigkeit ihrer normierenden Formen – von der Sitte zum Recht, aber auch vom Recht zur Sitte, von der Humanitätspflicht zur religiösen Sanktion, aber auch von dieser zu jener – hängt irgendwie auch mit der anderen zusammen: daß praktische wie theoretische Lebensinhalte im Laufe der Geschichte aus dem hellen Bewußtsein zu unbewußten, selbstverständlichen Voraussetzungen und Geübtheiten werden, während andere und oft ebendieselben aus einem unbewußt instinktiven Stadium in das der klaren Durchschauung und Rechenschaft eintreten. Wenn das Recht unser Tun bestimmt, liegt in ihm ein viel größeres Bewußtseinsquantum, als wenn die Sitte dies leistet; die freie, nur gewissensmäßige Sittlichkeit verteilt Bewußtsein und Unbewußtheit ganz anders auf die Impulse unseres Handelns, als die soziale Regulierung es tut; in der religiösen Sanktion ist die Spannung zwischen den dunklen mitschwebenden Gefühlen und der Klarheit über den Zweck des Handelns eine viel größere als in der durch die Sitte usw. Es ist für diese Entwicklung bezeichnend, daß der bloße Wechsel der Intensitätsstärke einer Beziehung sie durch eine Mehrheit von Sanktionen kursieren läßt: in Zeiten eines erregten Patriotismus nimmt das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Gruppe eine Weihe, Innigkeit, Hingebung an, die nicht nur an und für sich religiösen Wesens, ein Akt der Religiosität ist; sondern es drängt dann auch viel stärker zu einem Appell an die göttliche Macht, viel entschiedener ordnen sich seine Impulse unmittelbar religiösen Erregungen ein als in den alltäglichen Zeiten, in denen eben diese Beziehungen von der Konvention oder vom Staatsgesetz geleitet sind. Dies aber ist zugleich eine Steigerung des Bewußtseins der patriotischen Beziehungen. Jene Situationen von Gefahr, leidenschaftlicher Bewegtheit, Triumph des politischen Ganzen, die das darauf bezügliche Fühlen des Individuums in die religiöse Färbung und Ordnung einstellen, betonen überhaupt das Verhältnis zu ihm für das Bewußtsein in viel stärkerer Weise als die Perioden ausschließlicher Geltung der andern Normen, aus denen jene umfassendere und wärmere sich erhebt und zu denen sie wieder herabsinkt. Auch private Beziehungen, die religiösen Sanktionen zugängig sind, rufen diese gewöhnlich in denjenigen Momenten herbei, in denen das Bewußtsein am stärksten auf sie konzentriert ist: so die Ehe in dem Augenblick, wo sie eingegangen wird, so im Mittelalter vielerlei Verträge in dem entsprechenden Punkt. Das Leben der Puritaner zeichnete sich durch eine bis ins Krankhafte gesteigerte Bewußtheit jedes Lebensmomentes aus, durch die bewußteste Rechenschaft über jegliches Tun und Denken, – und zwar weil die religiöse Norm alle Einzelheiten des Lebens sich vorbehaltlos untertan gemacht hatte und keiner anderen Sanktionierung ein wirkliches Recht zuerkannte. Aber auch umgekehrt: die ungeheure Bedeutung der im wesentlichen prähistorischen Sippenorganisation blaßt mit dem Überhandnehmen der Staatsgewalt vielfach zu einer bloß religiösen ab. Gewiß war sie von Anfang an auch immer eine Kultgemeinschaft. Allein offenbar mußte sie, außerdem noch eine Gemeinsamkeit des Wohnsitzes, des Eigentums, des Rechts- und Waffenschutzes einschließend, eine viel stärkere Betonung im Interessenbewußtsein haben als in den Epochen, wo sie nur Gemeinsamkeit von Festen und Opfern bedeutete, wie es in der späteren Antike und im heutigen China der Fall ist. Hier mußte die ausschließlich religiöse Sanktionierung der Vereinigung mit einem verminderten Akzent der Gruppeneinheit und ihrer Bedeutung Hand in Hand gehen. Die umgekehrte Wegerichtung herrschte zwischen römischem Sakralrecht und Kriminalrecht. Die durchaus einreihige, irdisch-logische Sinnesart der Römer scheint das bis in idem zu verwerfen, das in der zugleich irdischen und göttlichen Heimsuchung desselben Vergehens liegt. Hat es der Strafrichter in die Hand genommen, so muß der Priester zurücktreten, weil die Idee, daß die Gesamtheit des Irdischen noch einmal einer höheren Verantwortung unterstehe, diesem Volk ganz fernliegt. Daher wird bemerkt, daß die moralische Bedeutung der Religion bei ihm in demselben Maße zurückgeht, in dem die ursprünglich durch Sakralrecht gesühnten Übeltaten dem Kriminalrecht anheimfallen. So wenig hiermit das Wesen der Normierungsarten erschöpft ist, so kann es doch plausibel machen, wie sie alle nur sozusagen verschiedene seelische Aggregatzustände und ihre Wechsel nur formale Umlagerungen der gleichen praktischen Lebensinhalte sind. Wo diese nun unter die Ägide der Religion gestellt werden, muß eine solche freilich schon zuvor bestehen. Allein das Entscheidende sind hier doch nicht die dogmatischen Vorstellungen über die transzendenten Wesenheiten, welche vielmehr nur das Sanktionierungsmittel bilden, sondern daß das sozial Erforderte ein Festigkeitsmaß, eine Gefühlsbegleitung, eine Weihe erhält, die in einer sonst nicht erzielbaren Tonart seinen Notwendigkeitsgrad ausdrücken, und mit denen sich ein neuer Aggregatzustand der sozialen Norm entwickelt.

Mögen es sanitätspolizeiliche Vorschriften sein, die als göttliche Gebote eingeschärft werden, wie in der altjüdischen Gesetzgebung; mag, wie im 7. und 8. Jahrhundert in den Gebieten des germanischen Christentums, Mord und Meineid in die kirchliche Jurisdiktion übergehen und als Verletzungen der göttlichen Ordnung vom Bischof durch kirchliche Buße gesühnt werden; mag der Gehorsam gegen den Fürsten als Konsequenz seines Gottesgnadentums auftreten, – überall entfalten sich hier Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft, die ohne ihre soziale Bedeutung niemals zur religiösen aufgestiegen wären – freilich auch nicht, ohne daß der sie tragende Lebensprozeß, sozusagen noch bevor er die sozialen oder überhaupt irgendwelche Inhalte gefunden hat, mit funktionell religiösem Charakter verliefe. Aber es liegen in gewissen soziologischen Relationen Gefühlsspannungen und Bedeutungen, die sie zur Aufnahme in die religiöse Form prädestinieren. So kann das religiöse Gebilde oder einzelne seiner Züge am Sozialen groß werden und sich ihm dann als selbständiges gegenüberstellen, weil dies Soziale gewissermaßen einen Kanal bildet, durch den jene Lebensstimmung fließen kann, ihre Richtung bewahrend und doch von dem durchströmten Gebiet eine Form oder eine Substanz, gleichsam eine Möglichkeit, zum Gebilde zu werden, mitnehmend. Die sozialen Verhältnisse würden dies Transzendente niemals zu sich herangerufen haben – wie unzählige andere ihnen vielfach koordinierte Normen es auch wirklich nicht getan haben –, wenn nicht gerade ihr Gemütswert, ihre vereinigende Kraft, ihre Enge sie von sich aus zu der Projizierung auf die religiöse Ebene disponierte.

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