Freischwimmer

Über das notwendige Verschließen offener Wunden – von Christa Schyboll

Früher gab es das Freischwimmerabzeichen.15 Minuten Schwimmen in tiefem Wasser plus ein Sprung aus 1 m Höhe mussten bewältigt werden, um mit dieser Auszeichnung nach Hause gehen zu können. Heute haben sich die Namen der Sportabzeichen verändert – aber „freischwimmen“ in einem erweiterten Sinne muss sich heute dennoch jeder Mensch.

Hat er es als Kind – nicht nur wassertechnisch auf der sportlichen Ebene – früh geübt, wird es ihm leichter fallen, seinen Lebensfreischwimmerschein nach und nach in vielen Bereichen zu erwerben. „Freischwimmen“ meint hier als Metapher einen Zustand von Entwicklung, der förderlich ist, sich von alten Abhängigkeiten frei zu machen. Sozusagen frei zu schwimmen, hinein ins offene Meer des Lebens und seiner Erfahrungen, ohne große Behinderungen mitzuschleppen.

Aber diesen Freischwimmerschein erwirbt leider nicht jeder automatisch per Alter an sich. Obschon erwachsen und im Grunde selbst bestimmend über sein Geschick schleppen dennoch viele Menschen psychische oder auch finanzielle Altlasten mit. Das Gefühl des Sinkens mitten im Leben und einer tiefen Traurigkeit beschleicht sie häufig und lässt sie nicht ihre individuelle Präsenz so leben, wie jemand, der es gelernt hat, sich eben freizuschwimmen.

Woran liegt es nur, dass die einen es schaffen, die anderen nicht? Warum hat ein Teil der Menschen den Mut, sich von den psychischen Lasten der Kindheit und Jugend zu befreien, irgendwann die notwendigen offenen Worte zu finden, die in Gespräche münden – selbst wenn sie zunächst harte Auseinandersetzungen fordern? Warum drückt sich der andere Teil und bleibt dabei in einer Lebensschwere, die wie Blei im Wasser wiegt?

Der persönliche Mut ist das eine, der aufzubringen ist. Aber dazu braucht es auch die Sehnsucht, wirklich frei von der alten Belastung werden zu wollen. Diese Sehnsucht wird nicht selten behindert durch die Angst, die der Weg einer solchen Offenheit fordert. Nicht jeder Mensch ist geübt darin, das Schmerzliche klar und deutlich an der richtigen Adresse zu benennen. Diejenigen, die zur perfekten Verdrängung neigen, spüren zwar Last, aber wissen sie vielleicht nicht einmal einzuordnen. Wissen nicht, warum und bei wem sie ansetzen müssten, um der eigenen Drangsal die Bürde zu nehmen. Verdrängung kann bis ins scheinbare Vergessen gehen, ohne aber dass ein Verarbeiten und Verzeihen je stattgefunden hätte.

Ob es sich dabei um Vater, Mutter oder Geschwister handelt, um Anverwandte, Nachbarn oder Freunde, um Vorgesetzte oder den eigenen Partner: seelische Wunden wollen erlöst werden, damit man sich wieder frei im Wasser des Lebens bewegen kann.

Darüber sprechen ist wichtig. Nicht immer wird ein Konsens gefunden werden können, wenn sehr verschiedene Anschauungen in Konfrontation mit einander stehen. Aber der Weg dorthin ist das Ziel. Den Weg des Versuches einer inneren Befriedung zu gehen, genügt oft schon, damit eine Heilung geschehen kann. Freischwimmen durch aufarbeiten, durch das miteinander sprechen, wo und warum es so weh getan hat. Manchmal blieb sogar eine tiefe, offene Wunde zurück, die nicht einmal vernarben konnte. Mit Narben kann man leben, die tragen sichtbar oder unsichtbar die meisten Menschen. Aber die Wunde sollte geschlossen werden.

Freischwimmerabzeichnen müssen immer wieder neu verdient werden. Lebenslang. Und es lohnt sich, sich dafür auf allen Ebenen anzustrengen und Mut aufzubringen, um selbst leicht zu werden… selbst zum Preis einiger kleiner Narben.

— 14. Oktober 2010
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