Ärger

Vergeudete Lebenszeit oder Chance zur Besinnung?, hinterterfragt Christa Schyboll

Ärger ist normal. Ärger ist alltäglich. Zwar nicht jeden Tag für jeden Menschen, aber manchmal dafür gleich knüppeldick mehrfach am Tag und an allen Ecken.

Das Maß des Ärgers, den wir im Laufe des Lebens zu ertragen haben, dürfte sich bis zum Lebensende hübsch summieren. Wie viel tolle, unbeschwerte Zeit hätte man mehr gehabt, wenn man doch all diesen Ärger vermeiden könnte!

Aber wird uns der Ärger zugefügt gar aufgedrängt oder lassen wir ihn oft nur gedankenlos zu? Sind wir am Ende sogar häufig selbst der Mit-Produzent, ohne dass wir es wollten, nur weil wir Ursache und Wirkung in ihrem folgerichtigen Ablauf nicht mehr so genau durchschauen? Oder würden wir uns schämen, wenn wir es durchschauen und zugeben müssten, wie viel Öl wir selbst unbewusst ins Feuer gegossen haben? Und das, obschon doch die Flammen bereits hochschlugen?

Ärger scheint wie schlechtes Wetter über uns zu kommen. Tatsächlich folgt Ärger in den meisten Fällen ebenfalls jedoch einer Reihe von geheimen Vorgaben, denen wir durchaus aber oft auf die Schliche kommen könnten. Dazu müssten wir jedoch wach sein… mitten am Tag und mitten im Leben. Hellwach für unsere eigenen Verhaltensweisen und antrainierten Reaktionsmuster zum Beispiel. Wie viel Automatismus steckt allein schon in dem Impuls, sich schnell zur Wehr zu setzen, wenn man sich angegriffen fühlt, es aber unter Umständen gar nicht ist. Da wirkt der alte Fluchtinstinkt, den früher der Körper erledigte, nun im mentalen Schaltzentrale: Wie es in den Wald hinein schallt, schallt es hinaus. Die Aug-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Variation, mit der wir häufig geradezu alttestamentarisch umgehen, spiegelt sich auch im psychologischen Reiz-Reaktionsmuster wieder, wenn wir problematischen Situationen spontan gegenüberstehen und nicht klar und ruhig genug denken können. Warum?

Uns fehlt es an Phantasie und Humor. Humor in einer ernsten Lage aufzubringen, ist eine Königsdisziplin. Sie braucht Souveränität. Diese jedoch haben wir zumeist nur in unseren starken, nicht jedoch in unseren schwachen Momenten des Lebens. Wir schämen uns einfach für irgendeine Belanglosigkeit oder sorgen uns, das Gesicht zu verlieren. Wir können zur Schwäche nicht stehen, weil wir uns eh schon minderwertig fühlen und man uns jetzt bei einer Kleinigkeit erwischt hat. Dabei wollen wir gerne toll sein. Zumindest sollte es nach außen so aussehen. Und dann klappt das nicht. Und dann gibt ein Wort das andere – und der nächste Ärger ist schon wieder da!

Wie aber soll man souverän sein, wenn man es eben im Moment nun einmal nicht ist? Die Antwort ist zumindest in der Theorie recht einfach: Bewusstseinsklarheit ist gefordert. Gepaart mit einem gesunden, stabilen und vor allem authentisch verankerten Selbstwertgefühl, dass nicht auf Höhenflügen hantiert, sondern darum weiß, dass Menschsein immer auch fehlbar sein heißt. Keiner, der nicht schon Dummheiten gemacht hätte, dem nicht schon Entgleisungen passiert sind. Das Problem ist nur, dass wir damit dann gleich wieder einen persönlichen Mangel verbinden, der uns in unserem Bild über uns selbst nur schwächt und uns dann im Falle notwendiger Souveränität während eines Konflikts ganz blass aussehen lässt.

Viel Ärger wäre vermeidbar, wenn wir ruhiger und bewusster wären. Wenn wir ganzheitlich zu integrieren verstünden, was wir längst wissen: Alle Menschen sind fehlbar – aber Fehlbarkeit macht uns nicht zu Schwächlingen, sondern nur allein das Versteckspiel der eigenen Schwächen vor den anderen. Stehen wir zu unseren Schwächen, werden wir stark. Sind wir auf gesunde Weise stark, haben oder bekommen wir weniger Ärger. Bekommen wir trotzdem Ärger, so können wir ihn leichter parieren oder wieder schnell ausgleichen. Es lohnt sich also, sich selbst unter die Lupe zu nehmen.

— 25. Januar 2012
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