Afrika kommt!

Menschliche Dramen und verfehlte Politik. Von Christa Schyboll

Afrika ist in dynamischer Bewegung. Einerseits soll mehr und mehr Hilfe zur Selbsthilfe auf diesem Armutskontinent mit den wertvollen Ressourcen angeregt werden, andererseits sitzen Millionen Afrikanern auf gepackten Koffern, um in Europa endlich ein menschenwürdiges Leben leben zu können. Die Lebenszeit läuft ihnen davon.

Afrika setzt sich in Richtung Europa massiver denn je in Bewegung. Auf zum Kontinent der Verheißungen! Und koste es viele Leben. Alle, die es schaffen, sind Ermunterung für andere, es zu wagen. Auf in Länder mit fließendem Trinkwasser, sozialen Absicherungen und der Chance auf einen Job. Bildung für die Kinder und geringerer Diskriminierung von Mädchen und Frauen.

Millionen Afrikaner träumen von Lebensumständen und Menschenwürde, die uns allen hier selbstverständliche Errungenschaften sind. Und nun kommen sie in Massen, ertrinken vor unseren europäischen Küsten oder werden auf stürmischem Meer wieder nach Hause zurück gejagt.

Europa kann nicht alle Afrikaner aufnehmen. Selbst wenn es wollte. Damit ist nicht nur der Kontinent flächenmäßig und finanziell überfordert, sondern auch kulturell und zeitlich. Dass sich die Menschheit mehr und mehr in Zeiten der Globalisierung durchmischen wird, ist ein Fakt. Ob man ihn willkommen heißt oder derzeit noch Probleme damit hat, ist keine Frage, sondern eine Lebenswirklichkeit, in der wir uns einrichten müssen. Sich darauf nicht vorzubereiten, hieße, einen weiteren schweren Fehler zu begehen.

Was aber, wenn zu viele zu schnell kommen? Was, wenn die eh schon explosive wirtschaftliche und politische Lage in den Mittelmeerländern noch dramatischer verschärft wird, weil einmal beschlossene Abkommen nicht geändert werden von jenen, die gern die Tür zu machen und verständlicher Weise gern unter sich bleiben wollen. Und es sind ja auch nicht nur die Afrikaner, die zu uns wollen, sondern viele Menschen aus den Armengebieten oder den Kriegsregionen der Welt, die sich hier ein menschenwürdigeres Leben versprechen.

Mit ihnen kommen aber nicht nur jene Bescheidenen und Arbeitswilligen, die zu jeder unterbezahlten Schmutzarbeit bereit sind, auch nicht nur jene, die in ihren eigenen Ländern schon eine hervorragende Ausbildung in dem einen oder anderen Beruf nachweisen können und die wir herzlich gern aufnehmen, um unsere eigenen Rentenprobleme zu meistern. Sondern es kommen aus aller Herren Länder auch immer mehr Sklavenhändler für schmutzige Sexgeschäfte, Drogenhändler, Waffenschieber und Kriminelle, die sehr wohl wissen, dass in Europa ein reich gedeckter Tisch nur darauf wartet, abgeräumt zu werden. Banden aus dem Osten, die blitzschnell und Autobahn nah die Möglichkeit unserer offenen Grenzen nutzen, und mit ihren Raubzügen Angst und Schrecken verbreiten. Auch Banden in Afrika, die in den Touristenregionen gern ihr Unwesen treiben. Sie alle verursachen Schäden, die über den reinen Materialwert oft weit hinausgehen, wenn damit auch Personenüberfälle einhergehen, die vielleicht lebenslang so manchen Geschädigten traumatisieren.

Und die Polizei? Sie ist fast machtlos. Die geringe Aufklärungsquote bei Wohnungseinbrüchen lässt Böses erahnen, was uns noch alles bevor stehen könnte. Die derzeitige liegt nach Auskunft der Polizei bei 7,9 Prozent. 2008 lag sie noch mehr als doppelt so hoch. Ist die Polizei etwa faul geworden? Gewiss nicht, aber unterbesetzt zum einen. Und zum anderen sieht sie sich einer immer stärker ansteigenden Kriminalität aus dem Ausland gegenüber, der sie personell gar nicht mehr nachkommen kann. Das sind keine Ausländer feindliche Gedanken, sondern es ist die faktische Sprache nüchterner Statistik, die den Bösewichten aus dem eigenen Land, aus dem eigenen Volk nun eben noch viele weitere an die Seite stellt. Wie viel davon verkraftet eine Demokratie? Und wann und wo bläht sich wegen verfehlter Politik die Wut der Menschen auf, denen ebenfalls die Verarmung im eigenen Lande droht?

Internationales Handeln ist gefragt

Die Masse der Menschen, die Zuflucht sucht, ist bitterarm und chancenlos. Oder es handelt sich um Kriegsflüchtlinge, die zur Armut auch noch unsägliche Ängste und Gefahren ertragen müssen. Was sollen sie denn tun? Was würden wir an ihrer Stelle tun, wenn die eigenen Kinder zu verelenden oder zu sterben drohen? Würden wir nicht auch uns einem großen Treck anschließen und ein neues Glück auf einem reicheren Kontinent suchen? Und taten das die Europäer nicht auch zu Millionen, als sie seinerzeit aus den Hungergebieten Europas nach Amerika aufbrachen? Hat man denn noch viel zu verlieren, wenn Hunger, Armut und Elend im eigenen Land alternativlos sind? Und ist das das Risiko des eigenen Todes letztlich nicht wert, wenn es doch eh nicht zum Überleben reicht? Vermutlich können sich die meisten Europäer durchaus in diese Haltung aller Flüchtlinge einfühlen und würden umgekehrt ähnlich handeln. Dennoch ist internationale Handlung schwer im Verzug, weil die bisherige und derzeitige Form von Entwicklungshilfe keine Lösung ist. Wäre sie es, wäre es niemals so gekommen, wie es jetzt ist. Denn Afrika war nicht schon zu allen Zeiten ein Kontinent von Verelendung und Hunger, wie wir wissen.

Wir, das meint vor allem das alte Europa, dann aber auch die USA mit ihren multinationalen Konzernen waren und sind Ausbeuter dieses Kontinents seit Jahrhunderten. Alles, was an Rohstoffen ausgeplündert werden kann, wird bis heute versucht. Ist die Quelle erschöpft, hinterlassen die Globalplayer verseuchte Erde, verelendete Dörfer und scheffeln ihre weiteren Milliarden an anderen, noch ungenutzten Orten. Wir alle im Kollektiv sind mit Schuld an dem menschlichen Drama, das tagtäglich Tote fordert, die auf ihrem hoffnungsvollen Weg zu uns ertrinken oder verdursten, und uns zugleich dennoch in Massen zu überrollen drohen. Und all die raffinierten Bemühungen von bezahlten Auffanglagern vor der Küste des Mittelmeers gingen bisher ebenso schief, wie die Versprechen an den einen oder anderen afrikanischen Staatslenker, der die Entwicklungsgelder oftmals für ganz andere Ziele missbrauchte. Waffen zum Beispiel, um einen der vielen heißen Konflikte in Afrika weiter zu schüren. Denn wer weiß denn schon, dass es derzeit in Afrika mindestens 15 Kriege gibt, während in den Nachrichten meist nur von zwei bis dreien berichtet wird. Afrika interessiert uns so lange nicht wirklich, so lange sie uns keine Probleme machen. Aber nun kommen sie. Und das fordert uns heraus.

Und wer weiß schon, dass Afrika – trotz der Ausbeutung - in den vergangenen 50 Jahren rund zwei Billionen Dollar im Kampf gegen Hunger und Elend bekam. Nicht wenige gebildete Afrikaner mit hoher Sachkenntnis, die ihrem Kontinent zur gesunden Eigenständigkeit verhelfen wollen, sind der Meinung, dass diese Entwicklungshilfe sogar schadet und der Westen seine Zahlungen einstellen sollte. Zumindest unter den derzeitigen Bedingungen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber einer davon ist, dass die Menschen oftmals erst gar nicht produktiv werden, wenn in der alten Form Entwicklungshilfe geleistet wird. Denn das Geld anderer Staaten zwingt sie auch in Abhängigkeiten und Gegenleistungen hinein, die am Ende kontraproduktiv für ein armes Land sein können. So war der große Geldeinsatz beispielsweise kaum an Auflagen und Bedingungen gebunden und vieles wurde von korrupten Politikern auf den Shoppingmailen europäischer Glitzerstädte verschwendet oder landete auf privaten Schweizer Bankkonten. Gut gewollt ist nicht immer auch gut getan.

Wie anders wäre es, wenn die reichen Geberländer darauf bestanden hätten, eine vernünftige Infrastruktur aufzubauen, Ausbildungsplätze zu schaffen und ein Gesundheitssystem zu installieren. Heute leben 50 Prozent aller Afrikaner in Armut. 1970 waren es nur 10 Prozent. Was alles haben wir, haben die Afrikaner nur alles falsch gemacht!? Sowohl die Geberländer wie auch Afrika muss endlich radikal umdenken und eine ganz andere Form von Verantwortung übernehmen. Doch wie, wenn die Korruption in so vielen Ländern die Normalität ist und die eigene Bevölkerung nicht in der Lage, ihre Machthaber zum Teufel zu jagen, weil es an demokratischen Möglichkeiten fehlt und stattdessen Mord und Totschlag in vielen Gebieten an der Tagesordnung ist?

Welche Art von Entwicklungshilfe braucht Afrika?

Die Chinesen mit ihrem Hunger nach Kupfer, Öl und anderen Bodenschätzen verschärfen zum Teil die alten Probleme, die wir den Afrikanern mit bescherten. Aber sie bauen, mehr als die bisherigen alten oder modernen Kolonialherren oder reichen Konzerne wenigstens wichtige Straßennetze und schaffen eine Reihe von Infrastrukturen, die die Afrikaner dringend brauchen und die sie in dieser Form vorher von keiner Besatzungsmacht bekamen. Allerdings stützen sie sich dabei auch auf korrupte Eliten und vertreten auch bei diesen sinnvollen Investitionen eigene Interessen, die auf langfristige Kooperation mit Afrika und seinen Schätzen setzt. Auch das schafft neue Abhängigkeiten. Jedoch auf einer für die Afrikaner zunächst besseren Perspektive, die sie zum Ausbau ihres Landes brauchen.

Sind die Chinesen mit ihrem Engagement also nun die Lösung für die afrikanischen Probleme? Die EU und die USA zumindest sperren mit ihren subventionierten Nahrungsmitteln doch bis heute Afrika jeden Zugang zu unseren Märkten, so dass ihre Erzeugnisse chancenlos bleiben. Sieht so moderne Entwicklungshilfe aus? Wir tragen noch immer mit unserer Politik zur weiteren Verelendung bei, weil uns unsere eigenen Märkte wichtiger als alles andere sind. Die Rechnung ist bereits unterwegs.

Aber ist es wirklich chancenlos mit diesem geschundenen Kontinent? Gewiss nicht. Aber es braucht ein Umdenken in Afrika selbst wie auch von den Geberländern. Es braucht neue Strategien, die Afrika mit seinen reichen Bodenschätzen zu einem Kontinent machen, von dem seine Bewohner nicht aus dem Dauerelend flüchten müssen. Es braucht ein Bewusstsein, warum demokratische Strukturen wichtig sind und die alten Clan-Kriege nur weiter unselige Zustände festschreiben. Es braucht einen Kampf gegen Korruption und ein gesundes afrikanisches Selbstbewusstsein, dass seine reiche Tradition mit der Moderne zu verbinden weiß. Es braucht die Fairness der reichen Länder, die Afrika nicht mehr als Selbstbedienungsladen betrachten, sondern wo Wirtschaft und Brüderlichkeit sich nicht als Feinde gegenüberstehen. Es braucht neben intelligenter technischer und ökonomischer Hilfe vor allem auch einen starken Willensimpuls, dass dieser Kontinent mit seinen Menschen und ihren Talenten, Möglichkeiten, Ressourcen, aber auch mit ihrer Phantasie, Vielfalt und Lebendigkeit einen ganz neuen gesunden Organismus erschaffen, wo sich humanes Leben neu mit modernen Möglichkeiten verbindet. Ob die Not Afrikas uns am Ende jedoch selbst überrollt, weil alle Beteiligten viel falsch machten oder ob wir gemeinsam ein neues Kunststück des wirtschaftlichen und sozialen Miteinanders auf gesunde Füße stellen wird nicht nur über die Zukunft Afrikas allein entscheiden, sondern auch über unsere eigene. So lange das die Geberländer nicht verstehen, werden ihre Bemühungen vielleicht finanziell zwar reich, aber dennoch an vielen Stellen auch falsch bleiben. Und das Falsche wird nicht zum Guten führen. Das zumindest haben wir gemeinsam mit Afrika zu lernen.

— 06. November 2013
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