Nächtliches Grauen

Vom Grauen der Nacht erzählt Christa Schyboll

Nächtliches Grauen ergreift viele Menschen immer einmal wieder. Ich habe Glück. Es kommt in meinem Leben so selten vor, dass ich es wagen kann, darüber auch öffentlich zu schreiben.

Ich kenne es. Es macht Angst. Angst, die meinen Seelen-Raum bis in den hellen Tag ergreifen kann. Ich spreche nicht vom Albtraum, dem man meist hilflos ausgeliefert ist. Es sei denn, man hat die innere Aufweckfunktion in sich so stark schon aktiviert, dass ein schneller Stopp des Unerträglichen einsetzen kann. Doch darum geht es nicht.

Es geht um diese diffuse Angst, von der ich nicht weiß, ob es eigentlich Lebensangst oder Todesangst ist. Man könnte beides vermuten, was sich zunächst doch auszuschließen scheint. Aber besteht denn das Wahre, Wirkliche und Wichtige nicht immer aus den Elementen des Paradoxen? Ich denke schon. Also können sich Lebensangst und Todesangst hier getrost die Hände reichen und sich den Spielball Mensch als solchen fröhlich und unbekümmert zuwerfen, während das Flugobjekt in diesen Momenten wie außer sich selbst zu sein scheint.

Es geht also um die hellwachen Nächte, wo man gedankenvoll im Bett liegt. Schlaflos, trotz Dunkelheit. Müde und zu gleich aufgekratzt. Und die verrückteste Version all der vielen denkbaren Versionen unter Umständen sogar: das alles völlig ohne konkrete Sorgen! Das ist dann der Höhepunkt dieser verrückten, abgerückten, Situation von der von uns gewohnten Realität: Eine Art Hyperrealität, die allein im Kopfkino des Betreffenden stattfindet und weder Hand noch Fuß hat, wenn nicht einmal ein konkreter Anlass vorliegt.

Anders ist es bei Menschen, die einen oder gleich einen ganzen Sack voller konkreter Sorgen haben. Dass sie nachts im Bett oft nicht ruhig schlafen können und nicht zu ihrer gesunden Form von Erholung kommen, ist verständlich und braucht keine weitere Erklärung. Diese ergeben sich durch das faktisch vorhandene Sorgenpotenzial.

Hat man das aber nicht, sondern lebt ›normal‹ in doch ziemlich gesicherten Verhältnissen, sind diese giftigen Angsttentakeln schon eine andere Hausnummer. Da liegt man da, möchte am liebsten nicht mehr unter der Decke hervorkriechen, weiß nicht was die Zukunft alles bringt, und die Drohkulissen des Grauens auf vielen Ebenen zeigen ein breites, ja fast schon kreatives Spektrum grauenvoller Möglichkeiten, die einen ereilen können.

Können!

Das ist das Schlüsselwort. Hirn und Gemüt befinden sich mal wieder im Konjunktiv. Und je umfassender informiert ist, die unendlichen Gefahrenpotenziale von Umwelt, Weltwirtschaft, Geisteskrise der Menschheit, globale Unvernunft usw. etwas genauer kennt und dazu auch noch über Fantasie verfügt, wie all das ineinander greift, bricht dieses Konjunktiv des nächtlichen Denkens plötzlich alle Dämme und schwemmt gleich einen Tsunami an Gefahren, Sorgen, Desaster heran. Ja, es bricht über uns zusammen, obschon wir gesichert und friedlich im Bett liegen.

Der Blutdruck steigt. Die Wachheit steigert sich auch. Hat man Pech, dann rennt es in Richtung Panik, weil dieses Panoptikum an Möglichkeiten ja immer schlimmer wird, je mehr man darüber nachdenkt. Einfach nur alles nur zutiefst verstörend, grausam, höllisch, was da einem höchstpersönlich und seinen Lieben alles, vielleicht schon morgen, passieren kann.

Was hilft?

Gedankenklarheit. Realisation, dass man sich gerade in einem fatalen Film befindet, dessen Regisseur man selbst ist. Man hat auch das Drehbuch dazu geschrieben. Man besetzt alle Filmrollen mit sich selbst. Und zugleich ist man auch noch Zuschauer dieses Horrorstreifens. Ist man an dieser Realisation angekommen, kann es leichter werden. Denn nun weiß man: Es gibt einen Knopfdruck, der sich AUS nennt. Man muss ihn allerdings bewusst und gezielt drücken. Man findet ihn umso leichter, je mehr genauer man sich dieses Drehbuch anschaut und … es sofort umschreibt, alternativ den Stecker zu jener Energie zieht, die sich gerade so zerstörerisch entfaltet.

Es ist Nacht. Es ist dunkel. Man ist wach und erschöpft zugleich. Die Finger finden in diesem Nebel der Undurchdringlichkeit nicht leicht jenen Aus-Knopf der Erlösung bringt. Man muss sich rantasten. Dieses Tasten braucht mentale »Finger« – die bedeuten: Denke die Dinge sofort anders. Dann findest du jenen magischen Knopf, der dich erlöst.

Bleib in der Gegenwart. Die Gegenwart ist der Kraftpunkt. Die Gegenwart bedeutet: Du liegst im Bett und machst dir Gedanken über etwas, das nicht ist. Auch Gedanken über etwas, das vermutlich niemals im Leben eintreffen wird. Und trifft es doch ein, dann hast du Handlungsoptionen, die du im Moment noch gar nicht alle überblicken kannst, weil es ja nicht die Realität ist, sondern nur das verrückte Kopfkino, das dich kurzfristig irre macht.

Also werde wach daran, damit du endlich gut schlafen kannst!

— 09. Februar 2022
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