Bewertungen

Die raus gelassene Sau in der Wonne der geistigen Gülle – von Christa Schyboll

Seit dem es unüberschaubar viele Internetforen gibt, dürfen wir alle endlich Lehrer spielen. Das wollten wir doch schon immer mal! Bewerten auf Teufel komm raus. Mit oder ohne Kommentar, sehr gut oder ungenügend.

Wir haben es jetzt beliebt oft in der Hand, Artikel, Beiträge, Kommentare, Bilder, Ansichten, Anschauungen fremder oder uns bekannter Menschen öffentlich zu bewerten und zu kommentieren, unseren eigenen Senf anzumerken, zu kritisieren, zu loben, zu schelten oder jemanden richtig krass fertig zu machen.

Der Stil, wie wir ihn noch aus Schulzeiten kannten, ist heute oftmals ein wesentlich härterer. Hatten wir es dort mit der Skala von 1-6 zu tun und ein paar meist doch halbwegs sachlichen Anmerkungen, so holen uns heute ganz andere Bewertungen ein. Unbarmherzig krass können sie ausfallen, manchmal beleidigend, unter die Gürtellinie zielend. Beschimpfend, verunglimpfend – und das alles, obschon es auch hier Regeln, Kontrollen, Aufpasser gibt, damit das Niveau nicht in die geistige Gülle kippt.

Manchmal klappt es auch dann Stunden später, dass der eine oder andere Kommentar wieder von einer Internetredaktion entfernt wird, weil er gegen die guten Sitten und Gepflogenheiten im Umgang mit freier Meinungsäußerung verstieß – aber nur kurz, um schnell an anderer Stelle in ähnlicher Weise wieder aufzutauchen. Nicht selten beschleicht einen das Gefühl, als würde sich der gesammelte Lebensfrust in der raus gelassenen Sau durch die meist anonyme Bewertung eine Art von Luft verschaffen, die Hinweise gibt, welch ein Geist da Pech und Schwefel atmet. Die Adresse ist dann der Andersdenkende, den man persönlich nicht einmal kennt – und vermutlich nie kennen lernen wird. Um so besser – denn dann ist es noch leichter, sich nicht zurücknehmen zu müssen. Würden Bewertungen jeder Art nicht anonym, sondern mit dem Echtnamen öffentlich abgegeben, würde so manches wohl anders ausfallen. So sehr der Schutz durch Nicknames in vielen Bereichen Sinn macht (denn der Missbrauch des Echtnamens lauert leider überall), so bedauerlich ist es aber eben auch, dass ein hoher Preis an Unflätigkeiten durch Anonymität zu zahlen ist. Beständig und wie es scheint: zunehmend.

Den Kopf dabei einzuschalten gelingt nicht nur vielen nicht, sondern reicht auch nicht aus. Es braucht schon auch das Herz oder Gemüt, wenn man mitempfinden will, wie ein anderer sich fühlen muss, wenn er so richtig fertig gemacht wird, nur weil er seine eigene Meinung zu einer Sache äußerte. Blieb er selbst dabei sachlich und niveauvoll und trifft ihn dann der mentale Unrat eines Dauergefrusteten, ist ein kleines persönliches Schockerlebnis der Einstieg in die öffentliche Kommunikation.

Nicht wenige, die sich dann wieder angewidert vom Stil des Stillosen abwandten, obschon sie Bereicherndes zu sagen hätten. Es braucht schon eine gewisse innere Stabilität und seelische Hornhaut, wenn man im öffentlichen Space des Internets auch seelisch gesund überleben will. Anfeindungen völlig unbekannter Menschen, denen ein einzelner Satz oder eine Aussage nicht passt, müssen mit einkalkuliert werden. Ebenso Beschimpfungen, ohne dass eine persönliche Verbindung diese emotionalen Ausbrüche kausal nachvollziehbar machen könnte.

Manchmal ist es wie eine wild gewordene Herde, die zügellos über die Pampa in diesem geistigen Disneyland trampelt. Weh dem, man hat nicht gelernt, „beiseite“ zu springen – was heißt, sich innerlich davon zu emanzipieren: Dann darf man nicht mehr öffentlich schreiben!

— 14. Oktober 2010
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