Anträge und Behörden

Nachgrübeln über Scheiterhaufenphantasien. Von Christa Schyboll

Es gibt Tage, die machen mich fix und fertig. Beruflich hatte ich schon immer mit viel Papierkram zu tun. Der Gipfel der Bürokratie sind dabei Anträge.

Obschon lebenslang im Ausfüllen derselben vielfältig trainiert, kann ich zeitweise Wutanfälle darüber nicht vermeiden. Und ich will das auch nicht. Da soll rauskommen, was raus will und dient nur meiner Gesundheit! Die Eskalationsstufen sind schleichend. Zunächst beginne ich, Papier zu hassen. Doch Papier tut mir nichts und hält still. Es verhält sich dermaßen beleidigend unterwürfig, dass es nicht einmal knistert, wenn ich mit wutentbranntem Stift darüber kratze. Papier zu hassen, ist für die Nerven völlig uneffektiv und bringt also nichts!

Im nächsten Schritt hasse ich Worte. Worte wie zum Beispiel „Identnummer“, denen eine 15stellige Zahl mit codierten Buchstaben zu folgen hat. In meinem intelligent strukturierten Aktenschrank diese zu finden, dauert. Und wieder wird mir wertvolle Lebenszeit gestohlen. Habe ich sie endlich gefunden, dann benimmt sich diese 15stellige Identnummer ähnlich duckmäuserisch wie Papier. Mich alternativ an ihr feindselig abzureagieren, befriedigt überhaupt nicht.

Ich ziehe mir nun das Kleingedruckte rein. Ah, da steigt doch endlich gesteigerte Abscheu auf! Nicht weniger als acht Seiten Miniaturbuchstaben, die völlig unleserlich sind. Bringt man sie mit Tricks auf Lesbarkeit, dann begreift man vollends, dass man sich jetzt auf der nächsten Eskalationsstufe befindet. Und die bedeutet: Das nun leserlich gewordene Schriftgut ist vollständig unverständlich. Die Bedeutung der Zusammenhänge ist nur noch als infamer Anschlag auf ein gutwilliges, wenngleich bereits aufgewühltes Nervenkostüm zu interpretieren.

Wer ist für solche Sätze verantwortlich? Wo sitzen die Täter, die sich mittels ihrer kranken Gehirne Texte ausdenken, die kein normaler Mensch verstehen kann? Formulare, die jeden braven Antragsteller in die schiere Verzweiflung auch dann drängen, wenn der IQ deutlich über 120 liegt? Geht es darum, im Vorfeld eines solchen Ansinnens bereits so entnervt zu werden, dass der Antrag möglichst unterbleibt? Die Erfolgsquote dieses Tricks dürfte enorm sein. Ich sehe die Täter vor mir: Bürokratische Unholde mit sadistischer Veranlagung, pechschwarzen Pupillen, in denen feuerrote Paragraphen glühen. An ihrer Stirn die ersten verdächtigen verhornten Ausbeulungen im Wachsen begriffen. Teufel im Werdezustand, allesamt!

Hat man es mit Gottes Hilfe und Valium dennoch geschafft, einen neuen Antrag für was auch immer auszufüllen und abzuschicken, kommt die große lange Leere. Gefühlte drei Jahrhunderte vergehen. Und dann kommt die Ablehnung. Genau einen Satz lang. Dahinter der Hinweis aufs Einspruchsrecht. Schweiß, Blut, Nerven und Tränen - das große Opfer völlig umsonst. All die Daten und Fakten, die man aus 12 angestaubten Akten und vier Generationen nun für diesen einen abgelehnten Antrag mühsam zusammengetragen hat, haben keine positive Wirkung hinterlassen. Auch die mühsam recherchierten Namen von Verstorbenen aus dem dritten Verwandtschaftsgrad oder das geheimnisvolle Kennzeichen eines Fahrradreifens, das wirklich schwierig nach einem Diebstahl zu ermitteln war… Umsonst. Umsonst… Eiskalte Herzen auf schwerfälligen Bürosesseln erdrosseln die Hoffnung auf Zusage im Keim mit einem kleinen Stempel: Abgelehnt!

Es gibt solche Tage, da suchen mich Schwindelanfälle heim bei der Vorstellung, wie hoch der Papierstoß all der vergeblich gestellten Anträge meines gesammelten Lebens sein mag. Meine Phantasie wandert dabei ins Mittelalter und entzündet sich an imaginären Scheiterhaufen, wo all die armen Kreaturen brannten, die auch schon damals Opfer der der Willkür ihrer Obrigkeit waren. Scheiterhaufen sind heute verboten, aber die stummen Schmerzensschreie all der Entnervten der Erde, die sich dem lodernden Feuer des Bürokratenwahns mit einer Antragstellung auslieferten, gellen durch meinen Verstand.

Wie brennende Fackeln rennen sie alle gegen Gebote, Verordnungen und Gesetze an, die nur eines im Sinn haben: Uns von dem Wahntraum zu befreien, dass Anträge dem Zweck der Bewilligung dienen könnten. Doch, ja, manchmal kommt das vor. Dann bekommt ein anonymer Jemand etwas bewilligt. Vermutlich ist es eine Camouflage, um uns bei der Stange zu halten und die Fortbeschäftigung von Antragsbearbeitern weiter zu garantieren.

Manchmal träume ich von einer papierlosen Welt. In diesen wundervollen Traum platziere ich dann sicherheitshalber noch einen terroristischen Anschlag aufs Stromnetz. Die Gefahr, dass Papier für Anträge durch Elektronik vollständig ersetzt werden könnte, wird von Tag zu Tag größer, ohne dass sich die Nerven dabei aber abkühlen.

Ist es unter all diesen Umständen etwa ein Wunder, dass ich im Traum öfter zündele und mir im Internet schon einmal die Bastelanleitungen für Brandbomben zu Gemüte führe?

— 20. März 2013
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