Von der Ästhetik und dem wirklichkeitsgemäßen Denken

Muss Denken schön sein? – fragt Christa Schyboll

Immer wieder neu schwappt mir der Begriff "schönes Denken" in meine Nachdenklichkeit herein. Wer ihn prägte? Ich weiß es nicht. Aber ich lese es öfter: "Dieses Denken ist schön"… und ähnliche Aussagen.

Nun frage ich mich, ob Denken lieber schön oder wahr(haftig) und wirklichkeitsgemäß sein sollte? Vielleicht liegt das Problem aber auch nur am Wort "oder"?... Warum oder? Ist wahrhaftiges und wirklichkeitsgemäßes Denken nicht immer schön? Als Denkvorgang meine ich, nicht als unbedingte Konsequenz für einen Betroffenen.

Zugleich ist zu fragen: Wissen wir denn überhaupt was a) wahr und wahrhaftig ist und b) wirklichkeitsgemäß? Sind nicht allein schon das weiche Begriffe, die schon jeder anders interpretieren muss, weil jeder sowohl eine andere Sicht der Wirklichkeit und auch der Wahrheit hat? Offensichtlich ist das, wenn man allein die Anzahl von Missverständnissen unter Menschen bedenkt, wo etwas so sonnenklar zu sein schein. Und ist es nicht so, dass letztlich diese Fragen doch jeder nur auf seinem Level von Denk-Befähigung beantworten kann und dies je nach Denkungsart und -tiefe sogar bis ins Diametrale gehen kann?

Vielleicht sollte man die Sache, ob Denken schön ist, wissenschaftlich angehen? Sollte man Ausschau nach einer fundierten Ästhetik des Denkens halten, die kluge Köpfe vermutlich schon seit Jahrtausenden bewegen? – Oder sollte der Schuster einfach nur bei seinen Leisten bleiben, weil er als Schuster eben doch dahin gehört?

Das hieße dann auf gut deutsch: Mach dir klar, wie denkfähig du (erst) selbst bist. Und von diesem Plafond aus gehe weitere Schritte. Denke "schön", indem du "wahr" denkst. Exakt, ohne Geschwurbel ungeklärter Emotionen, dennoch mit Herz und Hirn in kluger Symbiose. Schau genau hin, bevor du Urteile fällst und lege alles an Argumenten in die Waagschale, bevor du dich für dieses oder jenes festlegst. Verwechsele deine Spekulationen und Annahmen nicht mit der Wirklichkeit und bedenke immer, dass jeder Mensch auf dieser Erde dennoch in seinem eigenen Denk- und Gefühl-Universum lebt. Je sensibler er sich in diesem Nichtraum aufhält, um so einsamer dürfte ihm oft dort zumute sein. Gleichzeitig füllt sich dieser Raum mit jedem weiteren Menschen, der ernsthaft denk-bemüht ist und seine immer feineren Schritte in jenen Metaraum setzt, der trotz all unserer Denkbemühungen weiter Unendlichkeit feilhält.

Bescheidenheit ist angesagt und Kühnheit zugleich. Das Denken ist vermutlich das Schwierigste, das wir als Aufgabe im größeren Stil noch vor uns haben, wenn es um die geistige Evolution geht. Und soweit wir alle darin noch uneins sind (und derzeit gar nicht anders können), so spannend lockt uns das Unermessliche.

— 19. Juni 2022
 Top