Wenn du denkst, du denkst

Wie raffiniert unser Gehirn mit Fehlern umgeht. Von Christa Schyboll

Ich schreibe viel. Dabei passieren nicht nur Fehler, sondern auch interessante Fehler. Zum Beispiel der, dass einer meiner Sätze für einen anderen Leser unklar ist. Ich werde darauf angesprochen, lese den Text erneut durch und weiß einfach nicht, was diese Ansprache sollte!

Für mich ist alles stimmig. Kein Wort ist falsch geschrieben. Kein Tippfehler ist zu finden. Ich bitte um konkrete Auskunft, was denn da nicht stimmen soll. Da fehlte ein Wort! Ein ganzes Wort, das mein Gehirn aber auch bei mehrmaligem Lesen automatisch "ergänzt" hatte. Deshalb blieb es für meine Augen unentdeckt. Für mich stand dieses Wort ganz offenbar im Text, weil es ja ohne dieses Wort tatsächlich keinen Sinn ergab. Das wiederum ist eine ganz andere Fehlerkategorie als ein Tippfehler oder eine falsche Interpunktion. Was also springt da in die Bresche und korrigiert den Fehler in Gedanken, als sei er nicht da, ohne gleichzeitig Alarm auszulösen, damit man ihn de facto berichtigt?

Vermutlich bin ich nicht das einzige menschliche Wesen, dass zu solchen „ver-rückten“ Fehlern befähigt ist. Es lässt mich Fragen nach der Funktion des Gehirns stellen, die in diesem Beitrag jedoch nur kurz angerissen werden können. Wieso kann der Verstand, der auf der einen Seite akribisch nach einem Fehler in nur einem einzigen Satz sucht, gleichzeitig mit einem anderen Teil seiner Kompetenz denn dieses fehlende Wort „ersetzen“, als stünde es da? Das ist doch eine Megaleistung auf einer Metaebene, die von mir selbst ganz offenbar nicht bewusst gesteuert wird. Hat da also „ein Etwas“ in mir gelernt, einen Fehler geradezu überperfekt zu korrigieren, ohne ihn zugleich aber auch ordentlich als Fehler zu melden? Warum nur? Eine Berichtigung ohne Berichtigung?

Man weiß heute, dass die Verarbeitungskapazität des Gehirns sich aus der genetischen Information entfaltet, die in jeder einzelnen Zelle sitzt. Diese Zellen jedoch speichern gleich eine ganze Reihe von Informationen, die unter anderem auch durch unsere Ernährung, unsere Gedanken, unsere Haltung zur Welt und all unseren kulturellen Einflüssen individuell geprägt ist. Unsere Glaubenssätze sind dabei zentral in der Gestaltung unserer eigenen Wirklichkeit, die uns oftmals aber so „aufgeprägt“ vorkommt. Die Übertragung innerhalb der Schaltkreise des Gehirns verlaufen über elektrische Impulse. Die Auffassungen, dass man nur in einem bestimmten Alter zu besonderer geistiger Leistung befähigt ist, relativiert sich sehr, wie uns immer mehr ältere Menschen zeigen, die auch im hohen Alter noch komplizierte Prüfungen ablegen, Studienfächer abschließen oder sonstige geistige Höchstleistungen vollbringen können. Die Frage im Falle meiner Fehlerleistung, die aber zugleich auch eine beeindruckende Korrekturleistung auf der anderen Seite darstellt, ist unter anderem auch abhängig von der Interaktion der Kultur und Biologie, innerhalb derer ich lebe, mich bewege und die mich prägte.

Die Wissenschaft macht nun immer schneller interessante Fortschritte. Dennoch sind solche Merkwürdigkeiten, wie sie oben geschildert sind, noch nicht so ganz geklärt. Derzeit stelle ich mir den Vorgang derzeit so vor: Per Denken formulierte ich eine Äußerung, die in sich stimmig und richtig war. Ich schrieb sie nieder. Mein Denken war aber nicht auf den parallelen Akt des Schreibens in erster Linie fokussiert, sondern nur in zweiter Linie. Während dessen vergaß ich ein Wort, das ich aber zugleich dachte. Das Gedachte war dabei „dominanter“ als meine Alltags-Realität, weshalb ich es auf dem Schriftstück nicht vermisste. Meine Aufmerksamkeit war prioritär auf den Sinn gerichtet und blieb interessanter Weise auch dort, als es später ums Korrekturlesen ging. Spätestens jetzt hätte sich aber die Priorität automatisch verschieben müssen. Das tat sie aber nicht, sondern "ergänzte" weiter das Fehlende lückenlos.

So etwas nennt man „Betriebsblindheit“ in den eigenen Arbeitsergebnissen. Aber diese Art von Fehlsteuerung, ist eben auch ein beachtliches Kunststück, das sich in uns entwickelt hat. Das Hirn dachte im Grunde schon über das Fehlende hinaus. Deshalb wiederum sah mein Auge großzügig darüber hinweg und schlug beim Korrekturlesen keinen Alarm.

Es wird gewiss die Zeit kommen, wo solche häufigen, unspektakulären und dennoch irgendwo auch fantastischen Hirnphänomene einmal ganz genau wissenschaftlich erklärt werden können und wir dann noch viel detaillierter erfahren, wieso dieses Wunderwerk Hirn in der Lage ist, Fehler im Bewusstsein selbst dann zu korrigieren, wenn sie vom Auge nicht einmal gemeldet wurden.

— 20. August 2013
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