Reines Gift?

Über Drogen und merkwürdige Glaubenssätze, grübelt Christa Schyboll

Bitte glauben Sie es mir: Ich bin fasziniert. Da sehe ich die alten Rockstars in ihren knackigen Lederhosen mit 75 und älter über die Bühne sausen, den dröhnenden Bass nicht nur in den Füssen und Händen, sondern der ganze ausgemergelte Körper ist purer Klang, fetzigste Musik.

Da sitze ich dann und staune: Hmm! Ein Leben lang LSD, Extasy, Kokain, Heroin, Cannabis, ungezählt oft wilden Sex, Rausch und Alk in Strömen… und sie arbeiten noch immer! Sie gehen nicht in Rente, sind voller Leben, schier unbändiger Kreativität, singen, drummen, rocken ab. Vielleicht zeugen Sie hier und da auch noch ein paar Kinder.

Klar, nicht wenige von ihnen sehen aus wie altägyptische Mumien. Aber es ist ihnen eben nicht abzusprechen, dass sie trotz dieses scheinbar mumifizierten Zustandes nicht nur bester Laune sind, sondern einen gewaltigen Bühnenzauber zu veranstalten wissen. Sie brauchen das Geld nicht, sind gewiss auch in diesem Alter nicht mehr auf Karriere aus oder zwanghaft von ständigem Beifall abhängig. Sie machen es, weil es ihr Leben ist, weil es ihnen auf den Leib geschrieben ist. Sie machen es, weil sie es können und wollen und lieben.

Nun aber kommt aber doch Staunen hoch, wenn ich sehe, dass all das Gerede von Drogen offenbar doch eine Kehrseite hat. Glaubt man all den Warnern und Mahnern, müsste gerade diese Gruppe der Altachtundsechziger, die nicht zimperlich mit Mix und Mengen war und sich großzügig über ganze Jahrzehnte dran gütlich tat, längst komplett ausgerottet sein. Oder der Rest von ihnen alternativ in Heimen dahin vegetieren.

Zugegeben, es gibt und gab ja auch Tote. Schlimm genug! Und es existieren ja auch Zombies in Heimen, die genau dieses schlimme und selbst verursachte Schicksal ereilte. Aber wenn ich sehe, wie gerade die Hardliner an der Front, die bis heute noch im Geschäft sind, es geschafft haben, musikalisch und kreativ agil zu bleiben, dann frage ich mich ernsthaft, wie sie es geschafft haben.

Nehmen wir eine andere Gruppe. Ich kenne persönlich Menschen, sie sind bald neunzig, die haben Jahrzehntelang Psychopharmaka geschluckt. Therapien wurden nicht einmal angedacht. Die Nieren müssen dem Entsorgungstank von BASF irgendwie angepasst sein… und auch sie leben noch immer. Ich könnte sogar Namen nennen. Ein gifterfülltes Leben, dass ebenso offenbar zu einer Mumifizierung beitrug, die den natürlichen Tod einfach nicht einlässt.

Erstaunlich bei all dem ist, mit welcher Zähigkeit die eine oder die andere Gruppe nicht gelegentlich etwas Gift zu sich nahm, sondern solche Mengen über Jahrzehnte und dabei bis heute nicht nur alt wurde, sondern teilweise sogar noch jung blieb, während kürzlich mein sportlicher Nachbar mit 50 starb, Herzinfarkt beim ruhigen Schwimmen ganz ohne Wettbewerb und ohne Stress.

Was, bitteschön, soll man von all den Warnungen halten, die chemisch stimmen mögen, aber über die sich die Wirklichkeit manchmal einen Affen lacht?

Sind es am Ende doch unsere Glaubenssätze über die Gifte, die uns noch mehr und nachhaltiger vergiften als das Gift selbst? Wirkt der Glaube an das Gift am Ende in dreifacher Dosis und Konzentration? Gerade die Masse der 70jährigen Altrocker, die lebenslang sich diesen Exzessen unterzogen, dürften so manchen kranken Bio-Fanatiker doch ernsthaft ins Grübeln bringen!

Bitte! Nicht falsch verstehen! Ich spreche weder für Gifte noch für Drogen, sondern sinne über eine merkwürdige Realität laut nach – und frage mich, wie all das sein kann, was tatsächlich ist!

— 18. November 2012
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