Einsamkeit

Ein tiefes Gefühl und seine Hintergründe, von Christa Schyboll

Schaue ich mich im erweiterten sozialen Umfeld um, so gibt es dort die gleichen Probleme wie überall. Vor allen Dingen sind es zumeist Fragen der Partnerschaft, der Kindererziehung, des Berufs, der körperlichen oder seelischen Gesundheit usw.

Schaut man genauer in die Details der Probleme, dann fällt auf, dass eine ganze Reihe von Menschen zumindest in Strecken ihres Lebens dabei ganz schön einsam sind oder sich so fühlen. Dafür braucht man kein Single zu sein oder in sozialer Isolation zu leben. Die Einsamkeit, die ich meine, ist eine ganz persönliche, fast unauslotbare, oft unaussprechbare. Sie findet in engen Partnerschaften, turbulenten Familien oder in Vereinen ebenso statt, wie bei Alleinlebenden.

Will man dem Geheimnis der Einsamkeit auf die Spur kommen, muss man sie ein wenig analysieren oder auch qualifizieren. Man versteht sie dann besser und lernt sie in ihrer Bedeutung zu unterscheiden. So ist beispielsweise die Einsamkeit des Menschen, der sich in einer intensiven Wachstumsphase seiner eigenen Persönlichkeit befindet, überhaupt nicht gleichzusetzen mit jener Einsamkeit, die aus einer Überheblichkeit anderen Menschen heraus besteht.

Im ersteren Fall des Sinnsuchers nach sich selbst und einem neuen Selbstverständnis entstehen oft tiefe Klüfte zum eigenen sozialen Umfeld, die man zumeist weder will noch anstrebt. Dennoch sind diese Entfremdungen häufig für eine Übergangsperiode unverzichtbar. Der Sinnsucher entfernt sich notwendiger Weise zunächst von sich selbst und seinem alten Sein und damit auch von allem "Alten", was bisher zu seinem Leben gehörte. Partner, Kinder, Angehörige oder Freunde können betroffen sein. Sie bemerken, dass sich etwas verändert, können darüber besorgt, ärgerlich, erzürnt sein – oder auch voller Bewunderung, dass da jemand neu einen tapferen authentischen Weg sucht, der nicht nur leicht und angenehm ist. Dieses Abspalten vom Alten ist aber in aller Regel zeitbedingt, ohne dass es eine Zeitangabe geben kann. Solche Prozesse sind allein individuellen Bedingungen unterworfen. Hat ein solcher Mensch in seinen Einsamkeitsphasen irgendwann wieder das Zentrum seiner selbst erreicht, kehrt Ruhe ein. Und damit auch wieder die Öffnung zu anderen Menschen, für die dieser Prozess in dieser Art eben jetzt nicht anstand. Begreift man, was abgelaufen ist, würde auch niemand auf die Idee einer Wertung kommen. Sieht man sich selbst aufgrund eines solchen Einsamkeitsprozesses als "höher stehend" an, ist es sicheres Kriterium dafür, dass man das Entscheidende dabei voll verpasst hat: Nämlich das Erkennen der Bedeutung eines solchen Schrittes als individuelles Wachstum, das sich mit keinem Weg eines anderen Menschen vergleichen lässt und damit auch nicht zu werten ist in Bezug auf andere. Wenn man etwas werten oder kategorisieren will, dann immer nur in Bezug zu sich selbst und seinem früheren Sein. Wachsen heißt in diesem Fall, auch u. a. das Integrieren von Bescheidenheit, Demut aufgrund eines erweiterten Überblicks über die Relativität allen Seins – und das mit gereiftem Selbstverständnis und gesundem Selbstbewusstsein, das sich nicht mehr egomanisch nach außen katapultieren muss.

Ganz anders die Einsamen, die von einer Hybris geschlagen sind. Jener Art von Anmaßung und permanenter Selbstüberschätzung, von der sich andere Menschen oft angewidert abgrenzen, weil ein solches Verhalten äußerst unsympathisch ist. Dabei ist zu unterscheiden, dass es sich bei Hybris weder um Stolz noch um Selbstbeweihräucherung auf eine erworbene Leistung handelt, die man nun einmal auch tatsächlich erbracht hat und gerne nun in die Welt posaunt. Es geht um jene Vermessenheit, die andere Menschen über Beruf, Aussehen, Status, Vermögen usw. disqualifiziert, um sich selbst allein schon mit seinem "Anspruch" (mit oder ohne eigene Leistung) als besonders "hochwertig" oder "gelungen" darzustellen. Das sind oft Menschen, die zugleich aber auch vielen Leistungen anderer keinen gebührlichen Respekt entgegenbringen können. Da haben Neid, Eifersucht oder Missgunst noch starke kalte Klammern ums Herz gelegt. Das macht verdammt einsam – und das aber dann auch voll zu Recht. Dies ist mit der Einsamkeit des sich ernsthaft entwickelnden Menschen nicht zu verwechseln. Es ist die dunkle Kehrseite der gleichen Medaille, die sich von den Menschen immer mehr entfernt und in sich selbst zu ertrinken droht.

Eine dritte grobe Übersicht gilt für jene Einsame, die aufgrund ihres sehr eingeengten Weltbildes unter eigenen Minderwertigkeitsproblemen leiden. Hier bekommt Einsamkeit Tragik, weil irgendjemand irgendwann diese Minderwertigkeitsprobleme zumeist mit verursacht hat (häufig unwissend und ohne die Folgen fürs spätere Leben abschätzen zu können). Sich dort herauszuarbeiten, braucht oft therapeutische Begleitung, um jener unsinnigen Einsamkeit zu entrinnen, die aber als Aufgabe im eigenen Leben dennoch schicksalhaft vorhanden sein kann.

Diese drei groben Einteilungen zum Grundgefühl der Einsamkeit zeigen uns, wie ein gleichermaßen empfundenes Gefühl, das traurig machen kann, nicht nur äußerst unterschiedliche Gründe hat, sondern auch eine große Kluft im Sinngehalt dieses Einsamkeitsschmerzes zeigt. Möge jeder für sich seine eigenen Lebensphasen von (meist vorübergehender) Einsamkeit durchleuchten und dabei die richtigen Schlüsse daraus ziehen.

— 31. Januar 2012
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