Triage – Die Quadratur des Kreises?

Fragen zu Leben und Tod beschäftigen Christa Schyboll

Die Kapazitätsgrenzen in den Krankenhäusern angesichts der weltweiten Corona-Pandemie haben ein altes Thema hochgeschwemmt, das bisher kaum im Bewusstsein der Bevölkerung vorhanden war: die Triage. Der Begriff kommt aus dem Französischen von »triage« und bedeutet so viel wie Auswahl, Sortieren, Sichten.

Im Zusammenhang mit medizinischer Hilfeleistung bedeutet dies, dass bei unzureichend vorhandenen Ressourcen, eine Priorisierung vorgenommen werden muss, wem welche Art von Hilfe zum Überleben zugesprochen wird – und wer sie nicht bekommen kann, weil zu wenig Kapazität zur Gesundheits- oder Lebensrettung vorhanden ist (z.B. Beatmungsgeräte). Dabei muss der Tod eines Patienten zugunsten eines anderen Patienten in Kauf genommen werden.

Nun haben eine Reihe von behinderten Menschen ein Urteil erfochten, dass den besonderen Schutz des Staates für Behinderte im Falle einer notwendigen Triage gesetzlich regeln soll. Das bedeutet, dass nicht die Behinderung mit ein Grund sein darf, eine Triage alleine schon deshalb bei behinderten Menschen anzuwenden, weil sie medizinisch »versehrter« sind oder sein können als ein top fitter Mensch in jungen Jahren. Hiermit werden sich nun die Gesetzgeber befassen müssen, um auch Ärzten eine noch bessere rechtliche Grundlage für ihr medizinisch-ethisches Handeln an die Hand zu geben. Das ist richtig, wichtig, unverzichtbar. Denn jedes Leben ist schützenswürdig.

So weit, so allgemein – so gut, wie problematisch zugleich. Denn denkt man den Gedanken zu Ende, wird das Dilemma für die Ärzteschaft bleiben, in solchen Extremfällen einen von beiden Patienten dem Tod anheim zu geben, wenn und weil man nicht beiden gleichzeitig helfen konnte.

Nun gibt es Menschen, die schnell in ihrem inneren Urteil bei der Sache sind und sagen: Der »Überlebensfähigere« von beiden muss gerettet werden – egal ob behindert oder nicht behindert, egal ob vorerkrankt oder vorher top fit, egal ob alt, in den besten Jahren oder noch sehr jung, egal ob es sich dabei um eine junge Mutter von drei Kindern handelt oder eine ältere Person jenseits der 70 oder 80 Jahre, die ja ebenfalls rein statistisch noch 10 Lebensjahre vor sich haben kann, falls sie gerettet wird.

Nimmt man noch zahlreiche weitere Kriterien dazu, wie beispielsweise den sozialen Status (Obdachloser, Bundestagsabgeordneter, Gefängnisinsasse, amputierter Kriegsflüchtling) wird das Dilemma für die Ärzte offensichtlich. Wer ist schützenswerter? Keiner? Alle gleich? - Aber das geht eben nicht. Zudem kann es vorkommen, dass beide Triage-Kandidaten unter Umständen sogar eine nach medizinischem Ermessen gleich gute oder schlechte Prognose haben - und dann? Dann müssen doch wieder Kriterien herangezogen werden, die man eigentlich unbedingt vermeiden will, weil man niemanden bevorzugen oder benachteiligen will, welche Religion, Ethnie, Status usw. sie auch immer mit im Schicksalsgepäck tragen. Wird in solchen Fällen bei gleicher oder ähnlicher Prognose denn das Los gezogen, damit es »gerecht« bleibt? Oder bleibt es dann dem reinen Zufall überlassen? Geht auch nicht, weil ja entschieden werden muss! Entscheidungen sind keine Zufälle.

Wie also denkt sich der Gesetzgeber, wie ein solches Dilemma allen Ernstes gesetzlich zu regeln ist. Was zu regeln ist, ist insofern meines Wissens doch schon durch das Grundgesetz abgedeckt, das beispielsweise den Behinderten einen besonderen Schutz des Staates garantieren soll und zudem ja alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Das gilt auch im Falle der Triage.

Nur: Es sind Worte! Es sind Paragraphen, es ist Papier… es ist eben nicht die Lebenswirklichkeit.

Die Lebenswirklichkeit ist komplizierter. Sie wird sich nicht nach Recht und Gesetz richten, weil sie oft viele andere Dinge mit im Gepäck trägt, die uns Menschen oft ungerecht und auch unmenschlich vorkommen. Da kommen so viele untergründige Dinge und Anschauungen in solchen schwerwiegenden Entscheidungen mit zum Tragen, die auch nach bestem Wissen und Gewissen und nach sorgfältigster Abwägung aller Prämissen von Würde, Gerechtigkeit und Recht, medizinischen Aspekten und ethischen Begriffen nicht alle auszuschließen sind. Letzten Endes muss aber entschieden werden. Und das oftmals sogar sehr schnell. In höchster Not bleiben dafür auch nur Stunden oder Minuten.

Wie löst man so ein solches Dilemma auf gerechte Weise und unter der Prämisse, dass jedes Leben gleich schützenswert ist? Man »löst« es nur insofern, als man es ertragen und auch zu verantworten lernt, dass es nicht wirklich zu lösen ist.

Die Ärzte müssen in solchen Extremfällen über den Tod des einen zugunsten des anderen entscheiden und dann hinter ihrer Entscheidung stehen. Sie werden es ertragen müssen, wenn die Angehörigen des Verstorbenen sie anschließend verklagen und sie der Tötung bezichtigen. Ein neues Gesetz kann zwar versuchen, die Kriterien der Entscheidung noch viel genauer zu fassen, aber man muss sich klarmachen, dass dies in den meisten Fällen doch eh schon alles bedacht und beachtet wird. Insofern bleibt es bei den Ärzten, dem einen das Leben zu schenken, dem anderen es zu nehmen.

Wenn es um Leben oder Tod geht, haben wir Menschen alle eine Grenze erreicht, wo auch Gesetze oft nur ein hilfloses Instrument sind, wenn es um die Entscheidung geht. Solche Gesetze sind dennoch sinnvoll und wichtig, um wenigstens auf der Ebene des Juristischen einen Handlungsspielraum so formuliert zu haben, dass die Ärzte, die vor dieser grauenvollen Entscheidung stehen, nicht am Ende noch für ihr hilfreiches Tun, das dennoch den Tod für einen von beiden bedeutet, bestraft werden.

Eine Lösung dieses Dilemmas jenseits von rechtlichen Aspekten kann nur jeder Arzt für sich selbst suchen und finden. Und die kann nur darin bestehen, dass er nach allen medizinischen, ethischen und gesetzlichen Kriterien dann auch hinter seiner Entscheidung steht und den Tod des einen Menschen zugunsten eines anderen Menschen aufgrund seiner Entscheidung innerlich zu ertragen lernt. Das ist vermutlich der schwierigste Teil des ärztlichen Berufes überhaupt.

Vielleicht ist die größte Hilfe dabei dann das Kriterium, dass in der Regel (Ausnahmen können vorkommen) kein Arzt alleine über Leben und Tod entscheidet, sondern dass es im Einvernehmen mit den Kollegen geschieht, die sich diese Entscheidung auch entsprechend schwer machen und sich diese Verantwortung teilen.

— 29. Dezember 2021
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