Von der Schwierigkeit einer Eindeutigkeit

Über das Dilemma des Spiels zwischen Leben und Tod, schreibt Christa Schyboll

In meinen Beiträgen habe ich öfter vom Dilemma gesprochen. Jenem, sich für Frieden und Überleben zu entscheiden und zugleich lebendig und friedlich zu bleiben, wenn man zugleich auf Waffen verzichten möchten.

Ich habe nicht geschrieben, wie das geht. Denn ich weiß es nicht. Mich stimmt dieses Nichtwissen traurig. Es bedrückt, weil Ohnmacht zurückbleibt, die ansonsten nicht so dominant im Leben hervorbricht, wie gerade in dieser Frage. Wie würde ich selbst handeln? Würde ich, mit Leib und Leben bedroht, ebenfalls nach Waffen schreien. Sie nicht erbitten, sondern ultimativ fordern, wenn andere sie haben und mir geben könnten? Oder würde ich meinen Verstand gegen meine Angst setzen können und sagen: Es kann mit der Erfüllung meines ganz persönlichen und auch berechtigten Wunsches dazu kommen, dass es noch viel mehr Tote gibt, um mich selbst eventuell zu retten. Eventuell. Denn sicher ist gar nichts. Aber das ist es ja nie. Weder so noch so. Egal, ob wir uns weiter bewaffnen und kämpfen, uns ergeben oder gar töten lassen.

Niemand kann sagen, wie die nächste Stufe der Eskalation dann wieder sein wird. Es kann zum Frieden kommen und es kann auch der Startschuss für noch mehr Unfrieden und Krieg sein, wenn man sieht, dass damit ein Aggressor erfolgreich wird.

Himmelherrgott nochmal, was ist das für eine Alternative!

Keine.

Und dennoch braucht es Entscheidungen. Gesegnet sind die Menschen, die für sich selbst genau wissen, was da richtig und falsch ist – und auch warum es so ist. Bewundernswert, wer sich darüber keine tieferen Gedanken machen muss, weil sie ihm erst gar nicht hochkommen. Man nimmt sein Gewehr, seine Keule, sein Molotow-Cocktail und kämpft… Oder man lässt sich erschießen und ist damit aller Probleme entledigt. Oder man flieht (sofern man kann) und lebt weiter in Angst und Schmerz. Oder, oder, oder…

Vielleicht sind es am Ende auch nicht Gedanken oder Gefühle, die uns im Augenblick der Not leiten, sondern Instinkte, Urinstinkte. Automatismen, die uns mit ins Überlebenskonzept gegeben sind. Welche, die weder Vorsicht noch Rücksicht noch Nachsicht im Gepäck tragen, sondern nur jene Art von Spontaneität, die allein dem Schock des Überleben-Wollens geschuldet ist?

Ich weiß es nicht.

Und ich wäre dankbar, wenn ich es auch nicht leibhaftig erfahren müsste.

Doch dieses Glück ist Millionen von Mitmenschen nicht vergönnt.

Es ist schwierig, eindeutig zu sein, wenn es um Leben und Tod nicht nur von uns selbst geht, sondern einer unkalkulierbaren Eskalation die durch dieses, wie aber auch durch jenes Handeln gleichermaßen und doch auf andere Art heraufbeschworen werden kann.

Eindeutig bleibt nur das Recht auf Leben und Überleben.

Schwierig bleibt es, die Wahl der Mittel so abzuwägen, dass das eventuelle Überleben der einen nicht zum Tod vieler anderen führen könnte. Wie viele Opfer darf es geben, um andere Opfer zu vermeiden.

Die Schöpfung hat uns mit der Möglichkeit des Tötens eine immense Aufgabe gestellt, die auch die Alternative des Überlebens zu bedenken hat. Doch damit nicht genug, geht es nicht nur um das nackte Überleben des Leiblichen, sondern auch darum, unter welchen Umständen man überlebt. In unmenschlicher Gefangenschaft – von wem oder was? Und wäre es dann nicht besser, tot zu sein?

Leben und Tod – ein unglaubliches Spiel der Kräfte, die wir noch nicht beherrschen, dennoch sie zu beherrschen lernen aufgefordert sind. Jeder Einzelne für sich selbst.

— 18. April 2022
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