Erinnerungen

Eingefrorene Zustände der Vergangenheit?, fragt Christa Schyboll

Man stelle sich vor, der Mensch besäße kein Erinnerungsvermögen. Täglich, nein sekündlich, wären wir wie neu geboren. Alles müssten wir uns immer wieder neu erarbeiten und kämen dennoch keinen Schritt weiter. Letztlich wären wir nicht überlebensfähig.

Sich zu erinnern gehört für den Menschen - im Gegensatz zu Tieren und Pflanzen - zur Überlebensnotwendigkeit wie Wasser oder Luft.

Wann wir aber was erinnern, ist schon eine speziellere Betrachtung. So es sich um die Überlebenswerkzeuge handelt, scheint das Erinnerungsvermögen quasi wie autonom zu funktionieren. Keiner braucht uns morgen erklären, wozu man ein Messer benutzt oder wie der Schleudergang der Waschmaschine eingestellt wird. Wir wissen es und behalten all diese tausendfachen Kleinigkeiten ganz mühelos.

Geht es jedoch um Zahlen und Fakten, die nicht zum Überleben notwendig sind, zeigen sich enorme Unterschiede bei den Menschen, von denen die Spitze wohl jene Savants oder Erinnerungskünstler darstellen, die uns in der Gegenwart zeigen, was dem menschlichen Potential in der Zukunft vielleicht einmal zuzutrauen ist. Dann, wenn wir unsere Erinnerungswerkzeuge wie z.B. die Konzentration einmal viel geschickter benutzen.

Interessant beim Erinnern ist unsere individuelle Selektion. Sie unterscheidet in aller Regel unbewusst und speichert nicht nur in Freund-Feind-Kammern ab, sondern hat eine merkwürdige Prioriätenliste, die einzigartig ist. Unser autobiographisches Gedächtnis unterscheidet stark von unserem sonstigen Wissen.

Unser Langzeitgedächtnis ist ein permanenter Wissensspeicher mit quasi unbegrenzter Kapazität, das ein Leben lang anhält, während sich Kurzzeitgedächtnis davon in Art und Weise abgrenzt. So kann ein sichtbares Bild analysiert werden, obschon es nicht mehr sichtbar vorhanden ist.

Erinnerungen können emotional aufwühlen oder beruhigen, manche werden im Nachhinein verändert, verzerrt, ohne dass man es bemerkt. Der Blick ist ein anderer, oftmals erweiterter, weil man das Leben selbst mittlerweile auf reifere Art und Weise sieht. Oftmals milder, was im Zusammenhang mit Erinnerung bedeutet, jener die schmerzlichen Spitzen zu nehmen, deren Wunden die Zeit geheilt hat. Damit aber verändert man unbewusst in gewisser Weise jenen Teil seiner eigenen Vergangenheit, in dem sie jetzt in der Gegenwart eine andere Bedeutung erhält, die einzig psychologisch für den Menschen zentral und gültig ist. Nicht das, was tatsächlich geschehen ist, ist dann noch von Relevanz, sondern das, was man im Augenblick der Gegenwart dazu tatsächlich fühlt. Hier kann das Spiel mit der Erinnerung sogar zu einem Heilungsfaktor werden, in dem es den Griff des alten Schmerzes lockert und dem Vergangenen in neuem Verstehen begegnet.

— 07. August 2010
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