Kalender

Zwischen Abhängigkeiten und Gelassenheit im Jetzt – von Christa Schyboll

Die Zahl der Menschen, die so ganz ohne Kalender überleben können, kennt niemand. Vermutlich ist sie in unseren Breitengraden extrem gering. Ich selbst schaffe es auch nicht. Umso bedenklicher stimmt es mich, wie hoch der Grad der Abhängigkeit ganz allgemein von diesem kleinen Etwas bereits ist.

Würden Sie mich fragen, was ich am Dienstag, dem 5. Juli gemacht habe, könnte nicht nur ich darauf keine Antwort geben. Ich weiß es einfach nicht mehr! Wozu sollte ich es mir auch merken, so gerade an diesem Tag keine schwerwiegende Todesnachricht mich ereilte oder sonst ein Ereignis von Bedeutung sich in den Vordergrund meines Bewusstseins katapultierte. Bin ich jedoch zu diesem Zeitpunkt einfach nur am falschen Platz gesehen worden, kann es sein, dass plötzlich die Polizei bei mir anklingelt. Dann verlangt sie ein Alibi – und ich stehe dumm da. So jedenfalls ist es in fast jedem Krimi. Fast alle Nebenverdächtige haben - in aller Unschuld - einfach kein Alibi.

Aber sie haben einen Kalender. Wie ich! Und diese Dinger sammle ich tatsächlich seit Jahren. Wozu ist mir nicht ganz klar, da sich die Polizei bisher nicht meldete. Vielleicht habe ich mir diese Sammelmarotte ahnend angelegt, um später irgendetwas einmal nachvollziehen zu wollen, dessen Wichtigkeit mir heute einfach noch nicht in den Sinn kommt.

Der Kalender verrät ja alles. Wen ich wann wo getroffen habe sind dabei ja nur die äußeren Merkmale. Viel bedeutsamer sind die damit verbundenen Ereignisse und Gefühle von Freude oder Wut, Streit oder Versöhnung. So zeigt mir dieser Zeitanzeiger keinesfalls nur einen Zeitpunkt, sondern zeigt mir ein Stück gelebtes Leben, das in Vergessenheit zu geraten droht, weil sich immer mehr Lebendiges lawinenartig darüber stülpt. Zuviel der Ereignisse, sie alle behalten zu können.

Nun könnte man meinen, dass das, was man eben nicht behält, letztlich auch nicht wichtig ist. Ich habe die Probe gemacht und war erstaunt, wie falsch auch diese Annahme sein kann. Denn beim Blättern in alten Kalendern tauchten plötzlich Menschen auf, die meinem Fokus komplett entgangen waren. Darunter auch sehr schöne Erlebnisse, die verdrängt ein heimliches Leben in mir führten, dass es wert ist, einmal wieder an die Oberfläche des Bewusstseins zu ziehen. Vielleicht sogar hinein mitten ins Leben. Zum Beispiel durch einen Anruf, eine Erinnerung – die zu einer Neubegegnung auf anderer Lebensstufe führen könnte.

Daneben hat mein Kalender jedoch auch die Funktion, gewisse schwache Synapsenverschaltungen gut zu unterstützen. Mein Gedächtnis in die Zukunft ist eben auch nicht das Beste. So muss ich Termine für den nächsten Monat aufschreiben, damit ich sie nicht verpasse. Und zu so etwas braucht man einen Kalender.

Die Aborigines mit ihrem anderen, vermutlich qualitativeren Verhältnis zur Zeit, mögen müde lächeln über unsere westlich-modernen Marotten. Sie leben im ewigen Jetzt, wo es all diesen Kram nicht bedarf.

Vielleicht sind sie die Glücklicheren dabei!? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass schöne Erinnerungen aus dem linearen Strom unserer Hilfskrücke Zeit auch wunderschöne Gefühle schenken können.

— 19. November 2010
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