Autokorrektur

Über das Wunder der Fehlsicht, die keine ist – schreibt Christa Schyboll

Meine Augen sind besonders. Nicht weil sie grün-grau changierend glänzen; das teile ich wohl sicher mit vielen Millionen Menschen und Katzen und wer weiß mit wem sonst noch. Nein, sie sind besonders, weil sie trotz guten Sehens so vieles nicht sehen.

Manches, was man sieht oder nicht sieht, liegt natürlich auch am Verstand, am Wissen, an der Information. Denn wir wissen doch, dass wir uns alle in unserem jeweils eigenen Luftblasenuniversum befinden, was die Wirklichkeit(en) angeht. Wir wähnen uns zwar alle in einer einzigen gemeinsamen Realität, doch das ist ein Irrtum. Einzig, wo wir gemeinsam leben, ist derzeit eine physische Welt, die wir jedoch höchst unterschiedlich wahrnehmen, fühlen, sehen, riechen, schmecken… und ja, auch denken.

Eine unserer schönen Erfindungen, die uns alle zu Gute kommen, ist die Technik der Autokorrektur. Damit meine ich eine Schreibhilfefunktion in Computerprogrammen, die für Tippfehler oder Rechtschreibfehler vortrefflich brauchbar ist. Ich nutze sie gern. Dennoch laufen diese Programme meinem Schreibstil wie auch den sich immer mal wieder verändernden Rechtschreibregeln hinterher. Oft ist es kein Laufen, sondern ein Hinken auf Krücken. Nun ja, dafür hat Gott mir ja auch Augen und den Verstand zu geben, um notfalls die Autokorrektur automatisch, sorry, authentisch höchst persönlich per Sehkraft mittels eingeschaltetem Verstand zu korrigieren.

So korrigiere ich, was eigentlich mich selbst korrigieren müsste. So weit so fein. Das klappt auch vielfach, weil ich nämlich viele Tippfehler produziere, da meine Finger ständig in gefühlter Überlichtgeschwindigkeit über die Tasten gleiten. Fast schon ein Schweben. Zu schnell, um fehlerfrei zu sein. Aber jetzt kommt's. Die Falle. Diese ewige Falle, die mich aufgrund gewisser Mängel zwingt, die Autokorrektur zu kontrollieren. Damit muss ich mich selbst kontrollieren. Und nun kommen wieder diese grün-grau changierenden Augen ins Spiel, die gefälligst ihre natürliche Aufgabe zu erfüllen haben: Erstens zu schauen, was ist. Und zweitens dabei zu erkennen, was falsch ist. Letzteres können sie mit Hilfe bestimmter Hirnaktivitäten deshalb leicht vollziehen, weil sie die Regeln recht gut kennen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber hier sprechen wir ja von der Regel.

Aber was tun diese Augen? Sie lesen. Sollen sie auch. Und was lesen sie? Sie lesen, wie es richtig sein muss. Sie übergehen den entscheidenden Schritt, den Fehler zu erschauen und ans Hirn zu melden. Das Hirn stellt sich unzuständig. Keine Meldung von den Augen. Alles paletti. Die Frau arbeitet fleißig vor sich hin. Und wie steht es nun da? Falsch. Da aber meine Augen, jetzt wieder in Kombination mit dem Hirn, die Regel ja kennen, korrigieren sie das Falsche sofort in das Richtige noch während des Lesens, worauf das Falsche falsch gelesen wird, nämlich als ein Richtiges, das es aber noch nicht ist.

Meine Augen ziehen die Zukunft in die Gegenwart. Das vermögen viele Augen meiner Mitmenschen nicht. Sie sehen, was ist. Und korrigieren, was falsch ist. Meine aber verkehren die Fakten der Zeit. Sie erschauen zuverlässig die richtige Form, die noch nicht ist. Sie schauen visionär und melden mir nicht zurück, dass die Gegenwart aber ganz anders aussieht.

So werden meine Augenautokorrekturen zur Kontrolle der Autokorrektur unbrauchbar. Und wenn ich anschließend behaupte: Ich habe gründlich, langsam und sorgfältig Korrektur gelesen, lüge ich nicht, sondern bin im Stande der reinen Wahrheit. Und die Wahrheit bedeutet: Fehler übersehen!

Was ist das? Ist das Absicht? Spielen die Augen mit mir ein perfides Spiel? Immerhin bin ich ein fleißiger Mensch, der seine Aufgaben auch gerne sorgfältig erfüllt… aber ach! Was machen meine Augen: Sie träumen sich eine Wirklichkeit, die noch nicht ist.

— 17. Januar 2022
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