Krimis und Sucht

Immer krasser, immer mehr!, von Christa Schyboll

Zoom. Die Brennweite ist gut bemessen, die Details bestechend nah und genau. Die Leiche kommt in Großaufnahme.

Diesmal eine Wasserleiche. Das Fleisch ist weiß-milchig, dick aufgedunsen. Die Verletzungen im Gesicht sind krass. Die Nase ist weg und man darf jetzt spekulieren, ob sich ein Hecht daran labte oder es am Ende doch den Peinigern des Mordopfers zuzurechnen ist. Eine Viertel Stunde später wissen wir auch das. Vorher aber noch einige Hämatome im Detail, ein fast abgerissener Finger und der Hinweis, dass das Rückgrat zerschmettert ist. Die Kamera hält ausreichend lange drauf.

Ausreichend für was? Für unser Gruseln und Entsetzen, in dem wir doch tagtäglich geschult werden sollen. Fast kein Krimi, der darauf verzichten mag (die wenigen intelligenten ausgenommen, die sogar ohne Leiche auskommen). Aber weil keiner drauf verzichten mag, ist die Konkurrenz groß. Die Pathologen im weiß oder grün gekachelten Hauptdrehort haben zu großem Ansehen gefunden. Die Zeiten, wo der Krimi zu einer Leichenöffnungsshow mutiert, sind nah. Sehr nah. Die medizinische Nachhilfestunde wird uns per Drehbuchdialog erklären, wo der Hypothalamus sitzt und warum die Sadisten ihn von der Hypophyse bewusst abtrennten. Denn diesmal geht es nicht um ein schnödes Kapitalverbrechen, sondern um ein Verbrechen in der medizinischen Wissenschaft. Man kann dem Publikum nicht auf Dauer mit blöden Sex-Affären, Eifersucht oder Bankräubern kommen. Ausgelutscht!

Aber wie lange wird uns dabei noch schlecht? Wird es überhaupt noch jemandem schlecht? Vermutlich nicht. Denn der Prozess der Abstumpfung macht keine halben Sachen. Er gehört zu den großartigsten Leistungen der menschlichen Anpassungsfähigkeit. Zudem wissen wir im Kopf: Die Leiche ist nicht echt und die Maskenbildner sind zur Hochform aufgefahren. Darauf sind sie stolz. Kann man ja auch verstehen, wenn man einen quicklebendigen Schauspieler in solch grausige Monster verwandelt.

Und worum geht es wirklich? Die einen meinen: die Quote! Alles eine Frage der Konkurrenz, wer wann mit solch erregender Bestialität aufwarten kann, die den Konkurrenzkrimi Grauen toppt. Was vermag die Menschen noch für kurze Zeit in den Bann zu ziehen? Quote ist alles. Das mag auf den ersten Blick auch stimmen.

Aber dann gibt es noch andere, die meinen: Die Quote ist doch nur die Oberfläche. Dahinter steckt voll bewusstes Programm, das gezielt Suchtverhalten fördern will. Verdummung der Massen, Ablenkung von den wirklichen Problemen als gewolltes Tagespensum. Wer mit verstümmelten Leichen oder entarteter Pornografie, Brutalitäten oder sonstigen Nerven zerrenden Extremen "gefangen" gehalten wird, hat einfach keine Zeit mehr, sich über anderes zu erregen. Er ist bereits so im Bann, als dass politische oder finanziell problematische Tendenzen, gesellschaftliche oder geistige Entgleisungen nur noch marginal, wenn überhaupt, wahrgenommen werden. Das, so meinen manche, steht noch hinter dieser unseligen Quotendiskussion.

Aber ich frage mich: Wie wird es sein, wenn ganze Generationen in einem Klima von medialer Gewalttätigkeit groß werden, die als völlig normal nicht nur angesehen wird, sondern auch tagtäglich mit ihren Tropfen den Stein des menschlichen Gemüts höhlt. Was macht es mit unserer Empfindung auf Dauer? Ist ein Abgrenzen von Intellekt ("Ich weiß, dass ist nur ein Film!") und seelischem Empfinden (Schauer über Schauer, die nach Suchtmanier aber dann mit immer stärkerer Dosis bedient werden muss) wirklich machbar? Werden wir in ein, zwei Jahrzehnten eine Menschheit vorfinden, die, seit Kindheit an mit dem Schlimmsten als Normalität dauerkonfrontiert, überhaupt noch ein Empfinden für Grenzen hat? Die in der Lage ist, ethische Beschlüsse zu fassen, die sehr häufig gegen die Egointeressen verstoßen? Werden solche Persönlichkeiten dann überhaupt noch die Kraft haben, "Nein, Stopp!" zu sagen, weil das Gespür für Tabus längst ab erzogen ist?

Die Antwort liegt in der Zukunft. Ob und wie diese Zukunft dann von menschlicher Seite her gestaltet sein wird, dürfte zu einer spannenden Überlebensfrage der noch nicht Geborenen werden.

— 20. Oktober 2011
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