Schnee

Eine Gebrauchsanweisung für leichtes Anbandeln – von Christa Schyboll

Schnee ist rein und weiß. Unschuldig und leise senkt er sich über die Welt der Menschen. Fällt ausreichend viel davon, so macht er sich zum Werkzeug und Geschenk zwischenmenschlicher Anbandelungen… und kann Beginn einer zärtlichen Romanze werden.

Seien Sie doch mal ehrlich! Wann haben Sie denn schon die Gelegenheit als Mann, eine schöne, völlig unbekannte Frau blitzschnell in Ihren Armen zu halten, sie fest an sich heranzuziehen und sogar dabei zu herzen und zu drücken. Und das alles auch noch mit tiefem Dank der Dame, die Sie unter Umständen zu einem Café einlädt, da Sie ihr gerade ihre Absätze, gar ihr Leben unter vollem Körpereinsatz retten. Ein Held der frühen Stunde. Die Dame jedenfalls weiß sich in ihrer Schuld.

Solch famose Umstände verdanken Sie dem Schnee. Nun hat er die Eigenschaft, nicht besonders rutschig zu sein, so er gerade frisch auf trockenen Untergrund gefallen ist. Die Chance auf schnellen, spontanen Körperkontakt ist dann eher nur schwer gegeben. Möchte man niveauvoll gewisse Grenzen nicht überschreiten, muss man diesem unschuldigen Weiß ein wenig nachhelfen.

Dazu habe ich eine genaue Gebrauchsanleitung entwickelt:

Man schaue sehr aufmerksam die Wettervorhersage für den nächsten Tag.
Man achte vor allem auf die Nachttemperaturen.
Sie benötigen für Ihr Vorhaben den klaren Minusbereich.
Dazu auch ausreichend feinen Schneefall.
Eine dünne Decke von 1-2 Zentimetern sollte genügen.
Dann brauchen Sie ein sorgfältig ausgewähltes kleines Terrain.
Dies könnte innerstädtisch im Zugangsbereich eines Hauptstromes liegen, der zu den Bürogebäuden führt.
Jene Zonen, in denen die Damen mit High Heels am Morgen zu ihren Arbeitsplätzen wackeln.
Sie sollten eine kleine Wegstrecke wählen, die nicht im Zentralbereich geldgieriger Händler liegt, welche bereits um acht Uhr in der Früh mit Gier auf Kundschaft Salz streuen.
Wählen Sie gern eine kleine nicht vermeidbare Nebengasse, deren Bewohner um diese Zeit lieber noch schlafen.
Dorthin begeben Sie sich am Vorabend ihres Vorhabens bis spätestens 24.00 Uhr
Bewaffnet mit ausreichend Wasser, das ihr stärkster Verbündeter wird
Sie legen eine kleine Rutschbahn an.
Ein halber Meter reicht.
Wie zu Kinderzeiten, falls Sie jemals ein richtiges Kind waren.
Dann gehen Sie zu Bett und träumen sich die Liebste für den nächsten Tag. Wissend, dass starke Gedanken die Neigung haben, sich in der Realität später auszutoben und zu materialisieren.

Am nächsten Morgen erfreuen Sie sich am frischen Weiß, das aus der sternenbeglänzten Nacht fiel. Ein Zauber legt sich auf ihre erwartungsvolle Seele und Sie bringen sich lächelnd und gezielt vor Ort in Stellung. Bald werden sie kommen. Eine nach der anderen. Gleich viele weibliche Wesen müssen diesen kleinen Weg kreuzen, um in die Innenstadt zu gelangen.

Wie ein zufälliger Passant stehen Sie in morgendlicher Dunkelheit.
Bewaffnet mit der Idee ihres pikanten Vorhabens und einer Zeitung.

Hinter der Zeitung verstecken Sie sich.
Sie geben den Gebildeten, der es nicht erwarten kann, geistigen Hunger am frühen Morgen zu stillen.
Nehmen Sie DIE ZEIT.
Denn unwägbar ist für Sie das Bildungsniveau des ersten Opfers.
Und nehmen Sie sich Zeit.
Ungeduld ist nichts für Kenner.
Die erste Dame nähert sich.
Sie stakst vorsichtig durch den Schnee.
Keine High Heels mit Riemchen, dafür aber hochhackige Stiefel.
Die tun es auch!
Es ist ja nur Schnee.
Sie wähnt sich sicher zu Fuß.
Die Rutschbahn ist unsichtbar.
Die Dame ist sichtbar.
Sichtbar attraktiv, obschon man nur ihr Gesicht sieht.
Aber der Gang! Der Gang, meine Herren.
Er verheißt doch schon alles!
Sie nähert sich.
Sie sich ebenfalls.
Plötzlich rutscht sie.
Sie sind bereit.
Sie fangen Sie auf.
Sie pressen Sie an ihre warme männliche Brust.
Sie retten ihr und ihren Absätzen das Leben.
Sie haben es geschafft!

…. Die Dame schnappt Luft.
Die Dame holt aus.
Die Dame schlägt zu.
Sie taumeln.
Sie fallen hin.
Das war’s!

Nein! Die Dame ist blitzschnell.
Die Dame fängt Sie auf.
Sie rettet Ihnen gerade das Leben.

Und nun stehen Sie in ihrer Schuld… und dürfen sie einladen.

Leise rieselt unterdessen der Schnee… tief hängen die kahlen Äste in wolligem Weiß und schmunzeln sich in den Tag.

— 25. November 2010
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