Jenseits der Nebelwände

Über den Zauber neuer Gedanken schreibt Christa Schyboll

Zu keiner Zeit meines Lebens erlebte ich das, was so viele Menschen offenbar kennen: Einen Grauschleier des Alltags. Etwas Diffuses, das als wohlbekanntes Unlicht zumindest doch zeitweise über dem eigenen Leben liegt, so als wäre es alternativlos. Dieses Triste, Immergleiche, diese Nebelwand ohne einen Funken inspirierendes Leben.

Heute Nacht, gegen 3 Uhr, wurde ich von diesem Gedanken wach, dachte kurz drüber nach und fand auch eine für mich rasche und einleuchtende Antwort: Ich habe die Sonne des Neuen in mir so gründlich aktiviert, dass sie auch nachts scheint.

Neu. Was ist schon neu? Sind nicht schon alle Gedanken der Welt in unendlichen Variationen von Generationen Menschen ge- und bedacht worden? Das mag sein. Aber die Gedanken der anderen, so alt oder neu, so dumpf oder raffiniert, so fantasielos oder gewitzt sie auch sie mögen, sind ja nicht meine eigenen Gedanken. Insofern gehen sie mich zunächst nicht nur nichts an, sondern ich kenne sie nicht einmal. Und was ich noch nicht kenne, ist noch nicht an die Wahrnehmung meiner Existenz gedrungen.

Was ich kennenlernen will, muss ich erschaffen. In dem ich es sehe, bemerke, wahrnehme, realisiere und schöpferisch verändere.

Doch wie entzückend ist es, wenn man, welchen Gedanken auch immer, mit diesem Zauber des Neuen in sich selbst erlebt. Da scheint nun etwas durch, das Aufmerksamkeit will. Unter Umständen gar volle Konzentration. Und natürlich Staunen. Aha, Heureka! So also kann man dies und das also auch sehen. So verändert es die Lage, die Welt, die persönliche Befindlichkeit.

Ich muss nur einige gedankliche Wendungen vollziehen und schon belichtet die neue Weise zu sehen mein komplettes Sein. Plötzlich ein Strahlen, das jede Nebelwand durchdringt, eine Erkenntnis, die nicht bloß das Hirn erreicht, sondern auch das Herz, den Bauch, den Sitz aller Gefühle.

Worum es geht? ... Genau das ist der Punkt! Es geht um die neue Sichtweise zu was auch immer. Nichts, das man nicht auch völlig anders denken kann, als wie man es bisher gedacht hat. Und mit der Veränderung des Denkens geht natürlich auch das Fühlen einher, das die Stimmung verändert, den Alltag, das Leben. Alles. Auch jede nächste Interaktion, die davon beeinflusst ist.

Entscheide ich mich fürs Dramatische, dann kann es auch dunkel werden, bedrohlich. Ich habe es selbst in der Hand. Ich kann es steuern, so lange ich meine Gedanken zu steuern weiß und nicht von ihnen korrumpiert werde. Ich kann es ins Hoffnungsvolle, ins Positive ziehen, kann neue Möglichkeiten ausloten, kann die Nebelwände der anderen mit so viel Buntheit und Licht füllen, dass sie vor Freude platzen können...

All das und mehr ist die Sonne des Lebens. Jedem Menschen frei zugänglich. Für jeden kostenlos. Für jeden nutzbar... aber man muss wissen, wie man dieses Geschenk pflegt, ehrt und genießt.

Dann allerdings wird es magnetisch, geheimnisvoll. Es zieht dich immer wieder neu an. Es sucht dich, weil es dich liebt.

— 03. Juni 2022
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