Drängeln – ein vollendetes Eifersuchtsmodell um den besten Platz

Verbaldrängler und Wagenakrobaten beobachtet von Christa Schyboll

Jeder kennt es: Schlangestehen im Supermarkt. Mal hat der Vormann viel, mal die Vorfrau wenig im Wagen. Mal hat man selbst viel oder wenig eingekauft, viel oder wenig Zeit, Geduld und Nerven. In Toto ist es bei den meisten Menschen vielleicht so, dass es sich letztlich immer wieder ausgleicht zwischen warten müssen und andere warten lassen.

Nun ist die Tugend des Wartens in heutiger Zeit nicht jedem ins Blut geschrieben und es gibt so manche Zeitgenossen, die aus der Untugend Ungeduld ein geradezu perfektes Hobby kreiert haben: das Drängeln. Wir unterscheiden dabei vor allem zwei Hauptkategorien neben weiteren Abarten, die immer wieder unsere Nerven strapazieren. Erstens das verbale Drängeln und zweitens das physische Drängeln.

Die Verbaldrängler gehören dem Kreis der Phantasiebegabten an und haben eine ganze Flut von Ausreden im Repertoire, dass sich psychologisch geschickt an der Einschätzung des Vormannes oder der Vorfrau orientiert. Die blitzschnell gestellte Hintergrundfrage heißt dann: Mit welcher Ausrede komme ich bei wem am sichersten nach vorne? Wie schaff ich es, eventuell sogar zwei bis drei Leute zu überspringen in meinem Einkaufsschach?

Günstig sind die Menschen dran, die ein schreiendes Baby dabei haben. Warum es gerade schreit, ob aus Freude, Neugierde oder nasser Windeln, ist dabei völlig uninteressant. Einzig interessant ist das Schreivolumen, das eine möglichst einzigartige Klangkulisse erzeugt. Am besten durch Mark und Bein gehend. Da öffnet sich die Wagenschlange wie von Zauberhand. Aber letztlich ist das mehr die Ausnahme. Die meisten Verbaldrängler sind in der Regel nicht mit direkt vor Ort physischen Kindern ausgestattet, sondern haben sie gerade beim Arzt, in der Schule, am Busbahnhof usw…. in einer möglichst so prekären Situation, die aber mit einem Satz glaubhaft rüberkommen muss, dass auch hier die Zauberhand wieder zuschlägt. Eine alte behinderte Frau kann auch das Herz erweichen… Nicht aber unbedingt der Flieger, der in einer Stunde geht. Das schürt schon wieder Neid! Wer Geld hat, dienstags in Urlaub zu fliegen, soll gefälligst warten. Menschen mit freundlichen Hundeaugen, die bittend und möglichst leise ihre Sache vortragen, um schneller an die Kassiererin zu gelangen, sind auch gut im Erfolgsrennen an der Kassenschlange.

Doch verlassen wir diesen Typus und gehen kurz zum physischen Drängler. Die Frauen sind derzeit darin noch geübter, weil sie einfach mehr Trainingsgelegenheit hatten. Aber das ändert sich gerade stark, seit auch immer mehr Männer öfters einkaufen. Dieser Dränglertypus hat blitzschnelle Augen und ein gut vernetztes Gehirn. Noch während er 8 m von der Kasse an der Tiefkühlkost steht, schaut er sich bereits die „Kassenlage“ an…Wie viel Kassen sind besetzt? Wie viele Wagen schieben sich gerade dorthin? Mit was ist in ganz wenigen Minuten zu rechnen? Je nach Einschätzung der Lage rast er entweder sofort los oder verbleibt mit seinen Augen noch ein wenig beim tief gefrorenen Lachs. Verpasst er den ungünstigen Zeitpunkt, dann wird man Zeuge eines fast akrobatischen Aktes, in dem dieser Typus sein Wägelchen zwischen zwei Kassen so geschickt zu steuern vermag, dass die Hintermänner sich einfach nicht entscheiden können, welche denn nun gemeint ist, wo er stehen und warten möchte. Nirgends natürlich! Möglichst…! Denn seine Körperhaltung signalisiert keineswegs: Ich werde mich für die schnellere der beiden Kassen entscheiden!, sondern: Wenn gleich die dritte Kasse aufgemacht ist, werde ich dort der erste sein! Natürlich ist er der erste. Denn sein Gehör ist so exakt auf das Kassenklingeln nach der Kollegin ausgerichtet, dass er schon beim ersten Bimmeln alles gnadenlos niedermäht, was ihm nun in den Weg kommt.

Und da steht er nun: Glücklich und geschafft. Packt in Ruhe sein Wägelchen aus, schwätzt noch was hier und da, schäkert mit der Kassiererin und denkt an alles – nur nicht an Beeilung!

— 22. November 2009
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