Geheimnisverrat

Warum Geheimnisse so selten geheim bleiben eruiert Christa Schyboll

Wer eine Neuigkeit möglichst breit streuen will, so dass sie jedermann erfährt, hat im Wesentlichen zwei hervorragende Möglichkeiten. Die erste ist der Skandal, mit dem man die eigentliche Neuigkeit verpackt und die zweite Möglichkeit ist das Geheimnis.

Je geheimer ein Geheimnis dem Durchschnittsmenschen im allgemeinen anvertraut wird, um so hoffnungsvoller die Aussicht, dass es schnell die Runde macht. Weil die Ursprungsversion am Ende oft nicht mehr richtig erkennbar ist, muss man jedoch sehr klug vorgehen, was die Verpackung des Geheimnisses angeht. Denn der Kern soll ja letztlich so rein wie möglich ankommen. Wie zum Beispiel: Karl ist ein Schuft – oder auch: Johanna ist nicht wirklich zurechnungsfähig.

Die Geschichte um das Geheimnis darf ausufernd sein. Hauptsache spannend. Am besten sogar atemberaubend schrecklich. Je schrecklicher, um so eher prägt es sich nicht nur ein, sondern zwingt einen geradezu, dringend mit dem Nächstmöglichen darüber zu sprechen. Es gibt doch kaum etwas Schöneres, als die Vielfacherregung. Mit jedem sich anders über das Geheimnis und seine Geschichte erregen, verspricht ein Höchstmaß an Befriedigung. Es klirrt fast wie Eis, wenn man es schafft, dem Geheimnis das eine oder andere noch hinzuzufügen, damit am Ende die Sache nicht noch lapidar angesehen wird. Dazu braucht es nur ein klein wenig Phantasie, die sich am Wesen des nächsten Gesprächspartner orientieren muss.

Ist dies ein Mensch, der selbst gern jenen Erregungsfaktor über die Schandtaten, das Unglück oder Pech der anderen als Tageshighlight in sich verspürt und dazu ein durchschnittliches Maß an eigener Phantasie hat, so reicht es vollkommen aus, bei der bekannten Version zu bleiben. Hat man es mit einem schnöden Stoiker zu tun, so muss man schon ein wenig nachhelfen, weil sonst Gleichmaß und Gelassenheit die ganze Sache versauen können. Auch darf man ihm das Geheimnis nicht als Geheimnis anvertrauen, sonst behält er es egoistisch am Ende tatsächlich für sich allein.

Wer Vertrauliches weitererzählt, hat oft nur ein schwach ausgebildetes schlechtes Gewissen. Denn erstens ist das mit dem Geheimnis in aller Regel ja nicht so wörtlich zu nehmen und zweitens hätte es der oder die Vertraute ja nicht erzählen müssen. Und drittens ist der Faktor Verdrängung ebenso stark wie der Faktor der Lust, das Geheimnis sehr geheim weiter auszuplaudern.

Und wenn der andere es erfährt? Dann kann es übel werden, je nachdem wie persönlich die Angelegenheit war. Im Zweifelsfall bekommt man von diesem Menschen nichts Wichtiges mehr anvertraut. Aber echten Geheimnisbrechern macht das nichts aus: Es gibt genug andere, die wieder neues von sich erzählen, was geeignet ist, am hellen Tag Schauder um Schauder über den Rücken zu jagen und nur darauf wartet, auch andere mit solchen Schaudern zu beglücken.

— 18. Oktober 2011
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