Wetterkarte der Psyche

Stell Dir mal vor…! – von Christa Schyboll

Treffen sich zwei gute Freundinnen. Natürlich haben sie sich viel zu erzählen, da sie beide jener lebendigen Sorte Mensch angehören, bei denen ständig viel Aufregendes im Alltag passiert.

An Gesprächsthemen mangelt es nie. Besonders spannend jedoch wird es, wenn eine Neuigkeit eingeleitet wird mit den Worten: "Stell Dir mal vor!…"

Und dann kommt’s! Dann geht es nämlich keineswegs mehr um schnöde Information, sondern um ein echtes Bühnenstück. Eine Theatervorstellung, die jetzt vor dem inneren Auge des anderen ablaufen soll und über alle Elemente der Dramatik verfügt, die ein gutes Stück nun einmal braucht. Bestenfalls eine Tragikomödie. Die machen die meiste Laune.

In Sorge, der andere könnte aber nun in seiner Vorstellungskraft ein wenig minderbemittelt sein, muss man eventuell bildlich nachhelfen. Und so malt man die Vorstellung, die der andere jetzt bitteschön mit einem selbst teilen soll, so wundervoll schrecklich aus, dass das vergangene Szenario wieder aufersteht. Je gruseliger, je besser. Das Spiel des Homo Ludens…. Das Spiel mit dem Klatsch und dem Tratsch!

Sich etwas vorzustellen, was man nicht nur nicht erlebt hat, sondern dass einen auch überhaupt nichts angeht, wozu man nicht einmal einen persönlichen Bezug hat, ist ja ein Geschenk schlechthin. Man darf endlich fremd-gruseln. Man darf sich ängstigen oder schämen, ohne sich persönlich selbst ängstigen oder schämen zu müssen. Man kann in Stellvertretersorgen verfallen und sich beglückwünschen, dass man selbst doch ein viel besseres Leben führt und überhaupt alles viel intelligenter angeht. Wie im Kino auf der Leinwand kann man mit den Helden oder Versagern mit leiden und kann dies so unbegrenzt tun, wie es das aktuelle Bedürfnis gerade befriedigt. Man selbst bleibt außen vor. Hybris oder Arroganz kommen darin nicht vor, weil die selbstkritische Reflexionsmaschinerie sich in solchen lustvollen Momenten glatt verweigert.

Was ist das in vielen Menschen, das dem verbalen und bildhaften Voyeurismus in Sachen Klatsch und Tratsch fast willenlos, aber äußerst sinnenfreudig und genießerisch folgt? Sind es reine Kompensationen, die von den eigenen Schwächen und Nöten ableiten und doch oftmals ähnlich sind? Ist es eine uneingestandene Schadenfreude, die sich im angeblichen Mitleid oder Entsetzen versteckt? Sind es niedere Gefühle, die so normal sind wie Sonne, Regen und Wind und ebenso schnell auftauchen, sich wandeln und wieder verziehen? Also ein Tiefdruckgebiet der eigenen Seele, die das eigene psychologische Kleinklima produziert, aber auf den Nächsten gern projiziert? Allein, um sich für nur kurze Zeit orkanartig auszutoben, um dann wieder in ein freundliches Hoch zu münden, wenn die Nöte der anderen ausgiebig analysiert und bewertet wurden und man selbst dann recht gut daneben stehen kann?.

Ist der Mensch nicht einfach nur ein spielendes Klatschwesen? Wie unbewusst auch immer er es handhabt? - Dafür aber zuverlässig beständig. Dies gehört scheinbar vorübergehend zu seiner Sozialisation und ist kulturübergreifend bekannt. Klatscht er nicht, stimmt schon fast etwas nicht und man muss sich besorgt fragen, wie es denn um seine Gesundheit steht, die dieses Reglement offenbar braucht, um wieder gut gelaunt den eigenen Alltag zu meistern.

— 18. Oktober 2011
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