Advent in einem neuen Land

Das Jahr der Flüchtlinge und Weihnachten. Von Christa Schyboll

Noch immer kommen ungebremst Tausende von Flüchtlingen nach Deutschland. Es ist Winter, es ist Adventszeit und bald ist Weihnachten. Das Zauberwort der Integration schwebt über allem. Aber wird sie gelingen? Das ist auch zum Fest der Liebe eine drängende Frage.

Noch immer kommen ungebremst Tausende von Flüchtlingen nach Deutschland. Es ist Winter, es ist Adventszeit und bald ist Weihnachten. Viele der Menschen, die aus Not kommen, haben Unsägliches hinter sich… und derzeit das Glück, dass es bisher ein sehr milder Winter ist.

Ein anderer Teil der Menschen, die nicht kommen, sondern hier wohnen, hat Zukunftsängste. Da sind so viele, die alle Hilfe brauchen und ein Strom, der nicht abreißen will und sich längst nicht auf Kriegsgebiete beschränkt, sondern auch tief bis nach Asien und Afrika hinein erstreckt. Menschen, die man nicht einfach wegschicken kann, weil ihre Wege weit sind und ihre Not schwer ist. Dass nicht der einzelne Flüchtling, gar die private Person, welcher Nationalität auch immer, Ängste auslöst, ist doch klar. Dass aber diese unüberschaubar große Masse des weltweit geschaffenen Elendes und seiner Millionen Bedürftigen uns hiesigen als Bedrohung erscheint, ist natürlich angesichts der weiter anwachsenden Zahlen. Inwieweit bei all den vielen verschiedenen Ursachen der Westen, insbesondere auch die USA, ihre Hände mit im Spiel hat und hatte, ist allgemein bekannt und vielfach beschrieben. Eine Aufzählung erübrigt sich an dieser Stelle.

Die Tagespolitik, die uns seit Monaten darauf einschwört, die Zustände an den Orten des Geschehens verändern zu wollen, ist blauäugig wenn sie davon ausgeht, der mündige Bürger wüsste nicht allzu gut, wie unendlich lange es braucht, feste Strukturen in Diktaturen, islamischen oder sonstigen autokratischen Staaten mit völlig anderer politischer Einstellung zu ändern. Das dauert Jahrzehnte, wenn alle mitmachen. Nur machen eben nicht alle mit und sind auch keineswegs willig, das uns zu Gefallen mal eben schnell zu richten. Also wird es wohl noch länger dauern. Darum werden noch viel mehr Menschen sich und ihr nacktes Leben retten wollen. Wie sehr man in der Sache des guten Willens an einem Strang zieht, sieht man auch daran, dass ja nicht einmal die fest versprochenen Hilfsgelder des Westens für die Finanzierung des UNHCR vor Ort für die schlimmste Not bereitstehen. Und dann will man politische und gesellschaftlich gewachsene Zustände anderer Kulturen vom Westen aus grundsätzlich ändern wollen, wenn nicht einmal dies gelingt? Und dann will man Erdogan 2 Milliarden für die Flüchtlinge in die Hand drücken in der Hoffnung, dass etwas davon tatsächlich bei den Flüchtlingen ankommt? Wer kann da Vertrauen in die Politik der EU und des Westens allgemein haben?

Der Kampf der Meinungen und Lager

Spricht hier schon wieder einmal die "German-Angst" oder einfach nur Zweifel an den Beschwörungsformeln der hilflosen Politiker? Oder könnte man es auch Weitblick, Vorausschau nennen? Steht dahinter etwa mangelnder Mut aufs Ungewisse der Gesellschaft hin, wenn man den Beschwichtigern nicht nur allein das Wort redet? Die Deutschen sind gespalten in diesem Advent. Herz und Hirn rebellieren oft gegeneinander im einzelnen Menschen. Mitgefühl will sich ausleben und Ängste haben handfeste Gründe. Beides kann gleichzeitig vorkommen und hebt sich nicht ohne weiteres auf. Die Argumente für und wider strangulieren sich gegenseitig.

Bedenklich jedoch ist geworden, dass die Zweifler und Ängstlichen in zwei Lager geschieden werden: Die einen radikalisieren sich, reagieren unmenschlich, inhuman und mit verhärteten Herzen. Sie zünden Unterkünfte an, bedrohen die Helfenden und verunsichern die Gestrandeten, die doch selbst vor dem Nichts stehen. Die anderen aber, die nicht zu diesen unsäglichen Mitteln greifen und dennoch Sorgen und Probleme haben und diese äußern, werden recht schnell diskriminiert. Viele trauen sich in unserem freien demokratischen Land nicht mehr, sich offen zu äußern, weil sie allzu schnell in eine politische oder missliebige Ecke gestellt und gesellschaftspolitisch beschimpft werden. Auch hier wird nicht genug differenziert, aber von den Politikern selbst oft Öl ins Feuer gegossen. Muss das sein? Wo bleibt die Sensibilität, die beiden Seiten gerecht werden müsste, indem man viel feiner differenziert?

Es ist schön zu sehen, dass es auch die vielen Menschen gibt, die vor allem Großherzigkeit durch Mitmenschlichkeit zeigen. Doch wer sind diese Menschen bzw. wer sind sie nicht? Noch gibt es keine verlässlichen Zahlen darüber, aus welcher Bevölkerungsgruppe genau sich diese guten HelferInnen freiwillig einfinden. Sind es vielleicht vor allem die, die selbst einen festen Job haben oder selbst existenziell gut abgesichert sind? Lässt es sich dann eben auch sorgen-freier helfen? Man kann es vermuten.

Ein undemokratisches Schweigen beginnt

Der Anteil jener Menschen, die hierzulande mehr und mehr auch in soziale Schieflage oder Not gerät, keine festen Jobs mehr auf Dauer hat und sich gefühlt selbst schon lange im freien Fall befindet, mag die gleiche Sache oft auch anders sehen. Sein Blickwinkel ist eben anders, weil seine Lebenssituation eine andere ist. Zwar muss niemand mehr verhungern, aber leiden, darben, zu wenig zum Leben und dennoch zu viel zum Sterben zu haben, dürfte auch vielen Deutschen bekannt sein. Um sie hat man sich seit der Einführung der Hartz-IV-Reform recht wenig gekümmert. Dass deshalb die Gefühlslage zwischen den mehr Habenden und mehr Nichthabenden eine unterschiedliche in dieser Frage der Flüchtlingsversorgung ist, verwundert zumindest nicht. Gefährlich jedoch ist es, arme Menschen zu schnell an den rechten Rand einer unmenschlichen Politik zu drücken, an den sie nicht gehören und zu dem sie sich nie bekannten – aber sich dennoch sorgen.

Auf ihre Beweggründe und Argumente ist auch mehr Rücksicht zu nehmen durch den Sprachgebrauch der Politiker. Sie werden nicht aufgefangen, sondern "verstummen", um nicht selbst weiter diskreditiert zu werden. Das ist für eine Demokratie gefährlich.

Mit anderen Worten: Es ist eben keine homogene Masse, die leicht man säuberlich in zwei Lager pro und contra Flüchtlinge einteilen könnte, sondern in allen Denk- und Meinungs-Lagern finden sich eine Vielzahl sehr verschiedener Motivationen zum Helfen und zur Mitmenschlichkeit ebenso wie auch für Sorgen und Bedenken, die blitzschnell in Diskriminierung und Stigmatisierung führen können, wenn man sie äußert.

Ausländerfeinde sind Menschenfeinde. Dies sollte klar sein und auch unterschieden werden. Und allen Ausländer-Flüchtlingsfeinden sollte auch die Frage gestellt werden: Was würdest du tun, wenn du selbst in dieser Lage wärst? Was, wenn deine Kinder bereits verwundet, teils tot sind? Würdest nicht auch du ein rettendes Land mit dem Rest deiner Familie erreichen wollen? …. Das würden wohl sicher die meisten von uns. Insofern ist die Motivation der Flüchtlinge, zu kommen, menschlich das Natürlichste der Welt.

Das Zauberwort der Integration

Doch auch Natürliches hat seine Grenze da, wo das Machbare ins Nichtmachbare sich umkehrt. Aber wo genau ist diese Grenze? Obergrenze ist ein Un-Wort. Und keiner kennt die Zahl. Jeder ängstigt sich davor, eine zu benennen, obschon sowohl die sachliche wie auch menschliche Ressource der Hilfe natürlich nur eine endliche sein kann, angesichts von über 80 Millionen Flüchtlinge weltweit, die fast alle gerne kämen, wenn sie nur könnten. Tendenz steigend, 600 Millionen werden längst vorausgesagt.

Das Zauberwort der Integration schwebt über allem. In vielen Fällen wird sie gelingen bzw. ist sogar schon gelungen. Das steht ganz außer Zweifel und schöne Beispiele werden uns auch immer vorgeführt, die uns anrühren. Die große Frage ist aber ob sie tatsächlich in "ausreichend" vielen Fällen gelingen wird! Denn dort, wo es nicht gelingen wird, wird sich zunächst Unmut, dann Kriminalität und dann Radikalisierung breit machen… Auch das ist gesellschaftspolitisch verständlich und hat nichts mit dem einzelnen Menschen oder einer Religion, sondern mit Um- und Zuständen zu tun. Und dann könnten die Sorgen so mancher Skeptiker böse Wirklichkeit werden… Da reicht schon eine kleine Minderheit von 20 oder 30 Tausend Nichtintegrierbaren aus, die schwerste Verwerfungen bedeuten können, wenn ihre berufliche und generell existenzielle Integration in unserem Kulturraum nicht gelingt. Das ist aber jetzt nur eine kleine Zahl angesichts von über 2 Mio. Flüchtlinge und mehr die in diesem und kommenden Jahr in etwa erwartet werden. Die Endzahl in fünf oder zehn Jahren kennt eh niemand. Aber sie wird sehr hoch sein. Wo Integration gelingt, werden letztlich alle die Gewinner sein…

Vielleicht ist Weihnachten eine gute Zeit, sich der besten Ressourcen, die wir Menschen haben, ganz tief zu besinnen: Es ist die Mitmenschlichkeit, die Nächstenliebe… gepaart mit politischer Vernunft, klaren Konzepten, stringentem Handeln, das handhabbar bleiben muss und nicht wie im Berliner Lageso ein täglich grausam neues Szenario des Versagens entstehen lässt, dass die Menschen dort verzweifeln lässt… VOR und gewiss auch IN den Behörden. Die Politik hat darauf zu achten, dass wir der gewollten Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe auch entsprechend gewachsen sind. Überforderung führt in den Ruin. Unterforderung (siehe Polen und Co.) führt in die Unmenschlichkeit.

Gehen wir also voraus und suchen eine gesunde Mitte, um viele zu retten - und dennoch auch unser System nicht zu überlasten. Verwirklichen wir die Weihnachtsbotschaft des Friedens. Aber werden wir deshalb niemals blauäugig, geben falsche Versprechungen als Beruhigungspille, die keine Wirkung hat. Helfen wir also, auf dass auch uns geholfen wird. Denn Letzteres haben wir auf vielen Ebenen bitter nötig.

— 18. Dezember 2015
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