Fußgänger

Die Jagd ist eröffnet. Von Christa Schyboll

Ich besitze ein Auto, ein Fahrrad, ein Wildwasserkanu und … zwei Füße, die sich schrecklich gerne bewegen. Aus nahe liegenden und recht praktischen Gründen werden die letztgenannten häufig benutzt. Täglich sozusagen mehrfach.

Die anderen Dinge ein wenig seltener. Doch mittlerweile gehören meine Füße nicht mehr zu den sichersten Fortbewegungsmitteln, die ich besitze. Dabei sind es nicht die eigenen Körperteile, die mir Probleme machen, sondern die Gerätschaften der anderen. Zum Beispiel Mountainbikes.

Ich bin Freiwild. Ich bin eine Gejagte und ganz offensichtlich zum Abschuss freigegeben. Keine Schonzeit! Der Verdacht liegt nahe, dass man bereits eine Prämie auf mich ausgesetzt hat. Würde sich dieser Umstand nun allein auf meine Fortbewegung in großen Städten beziehen, die kurz vor dem Verkehrskollaps bestehen, also bitte: Jedes Verständnis! Dort gibt es aus guten Gründen eine Fahrradinflation, weil der ultimative Fight zwischen Auto- und Radkurieren in seine entscheidende letzte Phase geht. Geschwindigkeitstrümpfe sind in Zeiten, wo die Überlichtgeschwindigkeit im Cern geknackt wurde, unverzichtbar geworden. Das verstehe ich sehr wohl. Und dass die Menschen dort für rasende Kuriere ständig und überall auseinanderspritzen müssen, als sei ein Gebiss in den Suppenteller gefallen: vollkommen in Ordnung. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen. Aber ich! Ich wohne auf dem Land. Ich wohne in der Natur… und werde gejagt, als befände ich mich am Berliner Alex. Dabei wollte ich nichts als nur ruhig zwischen Obststreuwiesen spazieren gehen!

Meine Degradierung zum Wild ohne Schonzeit zwingt mich, aus reinem Überlebensinstinkt in Wald und Flur akrobatische Meisterleistungen hinzulegen. Alternativ lande ich zwischen den Speichen von Corratec X-BOW XTR Carbon und Bergamont Big Air MGN. In der Natur gibt es keine Ampeln. Auch keine Polizei. Die steckt immer dort, wo ich gerade nicht bin, wenn ich sie selten einmal tatsächlich brauche. Die Treibjagd wird eröffnet, kurz nachdem ich das Haus verlasse. Halali! Wenige Minuten und ich befinde mich mitten in der Natur. Na ja, eher eine Art Halbnatur, weil es zwischen den Wäldern, Feldern und Streuobstwiesen auch fein geteerte Wege gibt, die als Einladung verstanden werden. Vortreffliche Bedingungen, um eine Ganzjahressaison Jagd auf Schwache zu machen, die auf bloßen Füßen unterwegs und in Sachen Verfolgung chancenlos sind.

Sie kommen von allen Seiten. Auch von solchen, die sich nicht mal als Seite zu erkennen geben. Verschlungene Buschwege, gerade breit genug, um einen von diesen Mountainbike-Junkies durchzulassen. Worum es geht? Um Spaß! Der größte Spaß bin ich! Ich schreie laut auf, wenn sie mich so blitzschnell schneiden, dass mir die Luft wegbleibt. Mein tiefes Erschrecken ist der Kick. Je hysterischer, je gelungener die Action. Ich fasse mir ans Herz. Sie krachen lachend in unerreichbarer Ferne. Zu weit, um meine Flüche zu vernehmen.

Ganz auf die natürlichen, ungeteerten Nebenwege ausweichen? Abgehakt. Da ist es noch schlimmer. Einzig bei Glatteis oder in tief pechschwarzer Nacht begegnet mir keiner. Oder im echten Unterholz! Doch sollen das tatsächlich die einzig ruhige Zeit und der einzig gefahrlose Ort bleiben, wenn ich nichts als mich nur ein wenig gesund auf Füßen bewegen will?

— 25. Januar 2012
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