Transparente Gesellschaft

Privatsphäre - eine überholte Marotte? Satirisches von Christa Schyboll

Es gab einmal eine Zeit, da war das Private privat. Bald wird dies eine geschichtliche Epoche sein. Denn die Überwachungsmöglichkeiten lauern auf Schritt und Tritt. Auch da, wo wir sie vermeiden wollen und uns zu schützen suchen. Unser Leben hat sich gravierend verändert.

Wir befinden uns im Jahre 2025. Die Spionagemöglichkeiten haben seit der Snowden-Affäre 2013 eine ungeahnte Entwicklung erfahren. Über 5,6 Billionen US-Dollar verwendeten weltweit die Geheimdienste, um das bis dahin Machbare des Ausspionierens zum Totalen auszubauen. Nicht nur der komplette Umbau des NSA wurde nötig. Die Privatsphäre war quasi abgeschafft. Die Abläufe der Zeit kehrten sich in manchen Fällen um. Die Zukunft lag oft schon in der Vergangenheit, währenddessen sich die Gegenwart ihre erstaunten Augen rieb.

Heute knacken die Supercomputer mittlerweile im Vorfeld ihrer eigenen Erschaffung bereits mögliche imaginäre Geheimcodes und Verschlüsselungen. Bis Mitte 2016 gab es eine Reihe von Protesten und Empörungen. Doch die Menschen liefen sich daran müde. Alle Regierungen beteten das gleiche Mantram herunter: "Wir müssen euch vor den bösen Terroristen schützen!" Das stete Wasser höhlt den Stein. Das stete Wort unserer Politiker höhlt das demokratische Bewusstsein aus! Und so fanden all die Menschen, die noch gerne ein wenig länger gelebt hätten, es akzeptabel. Sie beschlossen, den Verbal- und Fußprotest auszusetzen. Und seit dem gescheiterten arabischen Frühling zog auch keiner mehr die Schuhe aus, um sie nach wem auch immer zu werfen.

Beruhigend war für das Volk zudem die Tatsache, dass bisher auch kein Geheimdienst der Welt die privaten Dossiers über Ute und Uwe an Gazetten gab, Mary und Tom nicht wegen abartiger Triebe öffentlich an den Pranger stellte und auch Leila und Abduls krumme Geschäfte regierungsamtlich unbehelligt blieben. Und das, obschon es massenhaft Mitwisser gab. Geheimdienste tauschten sich aus. Völlig geheim, völlig legal. Jeder wusste es und vor allem wusste keiner was Genaues. Aber das wiederum wusste man vor allen Dingen besonders klar! Der Grund für das Nichtbenutzen der umfangreichen privaten Dossiers übers einfache Volk war einfach: Es war nicht kriminell, nicht wichtig genug! Mary und Tom fanden dies im Übrigen auch ein wenig beleidigend, wenn nicht gar diskriminierend. Mussten es denn immer gleich Riesenanschläge sein, um wenigstens einmal in die Nachrichten zu kommen?

Von der großen Lust zum Outing

Gleichzeitig fand seit fast zwei Jahrzehnten eine andere parallele Entwicklung in der globalen Gesellschaft statt. Eine leise Revolution, die den Geheimdiensten ihr Spiel wesentlich erleichterte. Die Weltbevölkerung war in ihrem persönlichen Bedeutungswahn mittlerweile so günstig manipuliert, dass sich fast jedermann unbedingt outen wollte. Vor der Weltöffentlichkeit, versteht sich. Nicht nur im lächerlich kleinen privaten Kreis. Das war einfach zu bedeutungslos.

Einen regelrechten Boom erlebte diese weltweite Neigung durch die Erfindung der sozialen Netze zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Milliardenfach twitterten, chatteten und posteten die Menschen nun um die Wette und gaben auch ungefragt kund, wer zu Fußpilz neigte und was dagegen zu tun war, wer keine Zwiebeln vertrug, den nächsten Rausschmiss vom Arbeitgeber zu beklagen hatte, wer wann mit wem wie und wie oft oder auch nicht mehr schlief, aß oder duschte. Wissen ist Macht. Und Macht macht nur dann Spaß, wenn man das Wissen auch benutzt. Alle wollten Spaß.

Die Menschheit "entheimnisste" sich bis zur Groteske. So flossen täglich Abermilliarden Botschaften in die bereits angelegten Dossiers und vervollständigten diese. Das besorgten die Menschen ihren Geheimdiensten doch freiwillig, gern, ausführlich und unglaublich naiv. Die Geheimdienste hatten wirklich eine nette Bevölkerung, die sie bezahlte!

Disneyland Internet war längst eine zweite Welt in der ersten Welt der Menschen geworden. Es schien die Viele-Welten-Theorie zu untermauern, auch wenn man weder mittels Quantenschaum noch mittels Wurmlöcher in die anderen Welten derzeit hineinkam. Diese Timeline stand noch nicht. Aber mittels Strom ins Internet, das ging und wirkte sich aus. Die kleinen Kinder spielten schon früh mit der Maus und der Tastatur statt mit dem Teddy und dem kleinen Traktor. Mit spätestens neun Jahren überflügelten sie ihre gute alte Mom im Hinblick auf technische Neuerungen, die sich auch in der Sprache der Kleinen wieder fand. Wurde schon sehr früh nach nach IAP, USV oder OSI verlangt. Die Sprache klang dabei oft noch sehr verwaschen. So als hätte manch einer nach Püppi gerufen.

Auf dieser Spielbühne der kollektiven Weltgemeinschaft kam Vielerlei heraus. Mal Witziges, Kreatives, Schönes. Mal Gefährliches, sehr viel Dummes und einer überaus gigantische Menge an informellem Schrott. In Zeiten der Nachhaltigkeit, ist aber auch Schrott ein interessanter Rohstoff. Er war für eine Kompostierung von Informationen durchaus interessant.

Schleichende Veränderungen und unsere Anpassung

Mit dem Erblühen der sozialen Netzwerke und ihren vernetzten Informationen gelangen nun auch komplexe Dossiers über Dörfer, Stadtteile, Außenseitergruppen und ganze Kulturen. Man musste nur genau beobachten, was alle so preisgaben. Man konnte mit Superrechnern schnell hochrechnen, mit welch starkem oder schwachen Protest man wo zu rechnen hatte. Das sparte den Regierungen viel Geld und machte den längst antiquierten Meinungsforschungsinstituten nun endgültig den Garaus. Die Leute lieferten kostenlos, ständig, und fast noch umfangreicher, als man es benötigte und kaum verarbeiten konnte.

Im Geschichtsunterricht für die neueren Epochen wurde auf die archaische Zeit um das Jahr 2013 hingewiesen. Manche hatten es ja als Kinder vor wenigen Jahren selbst noch erlebt. Ihre Mütter und Väter hatten sich beim Müsli morgens darüber empört, dass die USA alles abhorchen, lesen, ausspionieren und dann noch die Unverfrorenheit besitzen, unserem eigenen Geheimdienst die Informationen über uns auch noch zur Verfügung zu stellen. Es war eine pädagogische Meisterleistung, wenn es gelang, einigen wenigen Überfliegern in der Klasse tatsächlich zu erklären, warum Menschen damals noch mit solch einer Empörung im Herzen über die schamlose Geheimdienstspionage herumliefen und ihm Luft machten. Die Menschen waren so völlig anders gewesen als heute. Aber diese schnellen Entwicklungen in Bezug auf die rasante Veränderung von innerer Haltung, Charakter, Anschauung oder politischer Ethik waren schon seit Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem anthropologisch interessanten Problem mutiert.

Anhand dieser billionenfachen Veröffentlichungen aus dem Privatleben vergaßen die Menschen so nach und nach, dass es so etwas wie eine Privatsphäre überhaupt einmal gegeben hatte. Es war üblich, normal, erwünscht, ein totales Outen zu betreiben. Jeder tat es. Und der es nicht tat, hatte offenbar ein ganz entsetzlich langweiliges Leben, das geradezu peinlich war. Deshalb outete so mancher auch nur seine Wünsche und verkaufte sie als Realität, um mithalten und sich nicht schämen zu müssen.

Historiker und Anthropologen beschäftigen sich nun mit der Frage, warum im Fall Snowden damals, im Jahr 2013, eigentlich so viele Menschen auf der Seite dieses Verräters waren. Irgendwas muss in diesen Jahren gravierend im Menschen selbst verändert worden sein. Nur was?

— 04. August 2013
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