Wutbürger

Occupy und die Halbwertzeit von Massenemotionen. Von Christa Schyboll

Es war einmal … eine Zeit, da begannen die gebeutelten Menschen aufzuatmen. Staunend vernahmen sie, dass es nun eine neue Bewegung gibt. Sie nannte sich Occupy.

Sie startete von Amerika aus, von wo ja alles Gute immer zu uns kommt. Auf gut deutsch heißt occupy: besetzen. Also heißt Occupy Germany: Besetzt Deutschland. Aber Deutschland war schon besetzt und quasi überfüllt. Mit zirka 80 Millionen Bewohnern, die eigentlich gar nicht alle in dieses Land gehörten. Aber die Grenzen waren offen und so konnten alle Länder auch einen freien Manager-Transfer bewerkstelligen. Unsere Konzerne und Banken wurden von Ausländern ebenso besetzt, wie so mancher Regierungsposten. Im letzteren Fall wurde vorher natürlich ein deutscher Pass ausgestellt, damit es kein Murren gibt. Nur mit den Besetzungen der Arbeitsstellen, die irgendwie schmutzig oder anstrengend waren, haperte es ein wenig. Und plötzlich, als Occupy endlich auch in Deutschland griff, waren wir alle Wutbürger.

Ach, was hatten wir vielleicht für eine Wut! Endlich sagte uns jemand, warum wir auf die Straße müssen. Was alles so mies läuft und von wem wir doch ständig abgezockt werden. Die Brüsselmafia, die Londoner Finanzhaie, die Mailänder Schuh-Connection oder das spanische Immobilien-Spekulantenpack. Denen würden wir es zeigen! Und wie. Unsere Wut würde dermaßen heiß gegen sie branden, dass sie sich alle mit Brandwunden in chinesische Kliniken begeben könnten, mit denen sie doch alle heimliche Deals gegen den Dollar machten. An der Wall-Street, wo alles seinen Anfang nahm, saßen natürlich die Hauptverbrecher, die bis heute noch immer nicht hinter Schloss und Riegel sind. Aber das würde sich bald ändern, wenn die Wut des braven Bürgers nur anschwillt.

Und wie sie schwoll. Es wurden Zeltlager errichtet und Wutpartys gefeiert. 99 Prozent der Betrogenen der Welt würden es jetzt endlich der 1-prozentigen Ganovenclique zeigen. Frühling zog in die Gemüter und die Herzen. Bald würde man das eiskalte Geschmeiß los sein und endlich würde eine gerechte Welt beginnen. Aber die gute Bewegung mit den Guten hatte eine falsche Rechnung aufgemacht. Sie hatte nicht die Halbwertzeit von Wutenergie berechnet. Naiv und instinktiv war sie davon ausgegangen, dass der Mensch einen langen Atem und eine noch bessere Erinnerung hat. Zum Beispiel die, warum er sich dieser Bewegung anschloss. Aber da die Menschen ja bereits in einer unerkannten Vor-Demenz lebten, fiel es niemandem so richtig auf, dass plötzlich keiner mehr wusste, warum er eigentlich auf der Straße im Regen stand. Andere erinnerten sich aber daran, dass gleich der Tatort läuft und auf dem anderen Programm die Champions League. Verzweifelt versuchten die Wutbürger sich zu erinnern, was sie da eigentlich warum gegen wen machten. Es fiel ihnen einfach nicht ein. Dann gingen sie nach Hause.

Vielleicht gibt es wieder einmal eine Zeit, wo eine schöne neue Bewegung kommt. Eine Zeit, die Hoffnung verspricht auf Gerechtigkeit… eine Zeit, wo man sagte: Es war einmal…

— 10. Februar 2013
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