Ich sehe was, was du nicht siehst!

Wie blind laufen wir eigentlich durchs Leben?, fragt Christa Schyboll

Wie unschuldig spannend konnten wir als Kinder dieses schöne Spiel spielen und uns Herz zerreißend darüber freuen, wenn der Spielkamerad als blinder Tolpatsch entlarvt war. Wieder ein Punkt für uns - und bei besonders cleveren Spielkameraden wussten wir genügend Tricks, um ihnen doch noch eins auszuwischen. Umgekehrt funktionierte es dann ähnlich.

Und heute? Jahrzehnte später? Glauben wir allen Ernstes, dass wir jetzt aber den Durchblick haben? Immerhin geläutert vom Leben, der Ausbildung, Beruf, Studium - oder wie immer die einzelnen Lebenswege dann fortgeschritten sind. Es kam doch viel an Bildung, Wissen, Information zusammen, so dass man sich durchaus doch zu den aufgeklärten Bürgern zählen darf. Und: können aufgeklärte Bürger denn blind sein?

Ja. Und wie. So blind, dass sie es nicht einmal sehen! Das vor allem ist die perfekteste Tarnung von Blindheit: sich sehend zu wähnen und zu glauben, dass das, was man weiß und wie man die Welt (gern) sieht, zugleich auch die wirkliche Welt ist. Gut, ein paar Kompromisse können noch insofern gemacht werden, als man - intelligent wie man ist - durchaus gern zugibt, es unter einem gewissen Fokus zu sehen und natürlich ja auch nicht ALLES dabei im Blick haben zu können, denn das können andere ja auch nicht. Stimmt.

Was weniger stimmt ist die Anschauung, dass mit dieser Einschränkung zu den Durchblickern gehört. Wie viel oder wenig man in diesem oder jenen Bereich noch durchzublicken vermag, kann ja auch nicht einmal beantwortet werden, weil durch die Spezialisierung der Welt an sich, schon lange keiner mehr den Gesamtüberblick haben kann. Aber auch das wäre kein Problem, hätte man es bei der von mir georteten Blindheit nicht mit einem noch ganz anderen Phänomen zu tun: nämlich der dauerverdrängten Blindheit durch sehr gezieltes Wegschauen: Oder der Blindheit durch oft unbemerkte Manipulation. Oder der Blindheit durch nachlässige Intoleranz. Oder der Blindheit durch eiskalte Gefühllosigkeit - oder der lauwarmen Gleichgültigkeit.

Damit will ich sagen: Es ist keinesfalls nur ein Informationsdilemma in einer immer komplexer werdenden Zeit, dass wir alle so unendlich vieles nicht mehr wissen, und damit auch nicht beurteilen können, sondern es ist zudem weiter auch noch ein Kaft- und Zeitproblem, aber auch eine Frage der charakterlichen Ausrichtung oder der psychischen Gestimmtheit. Das macht die Sache brisanter. Dort, wo man nämlich durchaus dann noch informiert sein könnte (also was zu schaffen wäre bei gutem Willen), wird dann eben nicht mehr geschafft. Und so sieht der eine was, was ich nicht sehe oder umgekehrt.

Nun könnte das alles ja durchaus harmonisch sein, wenn wir nur genug Aufpasser in allen möglichen Bereichen haben, die dann z.B. geradezu wahnwitzige Gesetze und Vorschriften auf politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Ebene dank ihres Durchblicks und Taten verhindern können. Und hier wird dann die ganze Sache regelrecht gefährlich. Es gibt sie nämlich nicht! Es gibt zwar immer wieder Sehende, Vorausschauende, Kluge, die den Durchblick nicht nur haben, sondern ihn auch laut artikulieren, aber einfach nicht ausreichend viele Menschen finden, die dann aus ihrer Blindheit erwachen. Denn: schlafen kann schön sein, zumindest bequem, solange es noch nicht weh tut (finanziell, gesellschaftlich, gesundheitlich usw).

Blind zu sein, wie wir Kinder früher beim Spiel, ist also nur die halbe Tragik. Die andere Hälfte entscheidet darüber, wie das Spiel weitergeht. Ob es lustig und schön, ernst oder katastrophal wird. Sind die, die von anderen geweckt werden, zu träge, die Augen zu öffnen, dann kann das Spiel zum bösen Ernst werden.

So stand am Anfang die Blindheit - und dann kamen drei Affen und zeigten uns, wie man neben den Augen, auch noch die Ohren und den Mund verschließen kann.

— 04. August 2010
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