Sucht zur Flucht

Über den fehlenden Augenblicksmoment der Nähe schreibt Christa Schyboll

3,9 Milliarden Menschen besaßen 2021 ein Mobil… auf gut schwäbisch: Handy. Wie viele vom Gebrauch längst abhängig sind, vermag ich nicht zu schätzen. Ihre Zahl dürfte sehr hoch sein. Die Nutzung des Handys kann Leben retten, Hilfe in letzter Not sein, wie auch geradewegs in die Irrenanstalt führen. Das allein bestimmt der Nutzer und der Augenblick.

Augenblick? Ja, ein feiner Wortwitz, der auf der Zunge zergehen könnte, würde man ihn nicht schon zuvor gläsern durchschauen. Denn die Augen blicken unentwegt – bei den meisten… Sie (er)starren und suchen und finden und glotzen in Permanenz auf jenes kleine Wunderkästchen, das offenbar Schätze ohne Ende in jeden Krähwinkel der Welt exportiert. Es kann in Hunderten von Sprachen zaubern, lügen, reimen, informieren, täuschen, helfen… bloß noch nicht kochen. Aber das kommt vielleicht auch noch.

Die Faszination ist ungebrochen stark. Und der Rest der Menschheit giert danach, auch solch einen Zauberkasten sein Eigen nennen zu dürfen. Kommt, noch! Wartet ab. Denn immerhin braucht man die Daten der gesamten Menschheit und nicht nur die der Hälfte. Das wird schon jemand früher oder später zu finanzieren wissen. Doch um diese merkantil interessante Sammelwut der persönlichen Spurenlage geht es mir hier nicht. Sie ist bekannt und jeder, der wissen will, weiß um seine Abdrücke, die er zu Lebzeiten und selbst noch nachtodlich hinterlässt… auch, dass er Reiche damit weiter bereichert, auf dass sie niemals verarmen oder Mächtige noch mehr ermächtigt, ohne die eigene Ohn-Macht dabei auch nur zu realisieren.

Nein, mich umtreibt etwas anderes. Eine zwischenmenschliche Beobachtung. Eine, die nicht spektakulär neu ist, aber für mich immerhin bemerkens-wert, damit auch beachtens-wert. Nämlich wie die Sucht nach dem Handygebrauch zugleich eine Flucht ist und über den Suchtaspekt hinauswächst. Eine Flucht vor dem nächsten Mitmenschen, der in seiner Nähe weilt. Eine Flucht vor dem anderen, eine Flucht in sich selbst, ohne sich dabei auch anzutreffen… und das oft absichtslos, dennoch gezielt. Eine Saat geht auf.

Ich höre schon den Protest. Blödsinn, schreien die einen. Mein Mitmensch ist mir nicht nur immer willkommen, sondern bekommt auch mein Willkommen von Herz zu Herz und unmittelbar. Quatsch, sagen die anderen. Nur weil man immer wieder neu aufs Handy schaut, ist doch der andere nicht abgeschrieben. Ja, ja… Da spricht der Verstand, der es vermutlich auch ernst meint. Aber neben dem Verstand gibt es da die leicht zu beobachtende Wirklichkeit, die eben Tatsachen entspricht. Und diese selbst oft beobachteten Tatsachen befremden mich. Oft stören sie mich auch oder schlimmer, es ärgert mich und lässt mich aus guten Gründen beunruhigt sein, was wiederum schlecht ist.

Mütter, Väter, kleine Kinder. Mal er, mal sie, ständig am Handy. Das Kind schreit. Die Mutter schaut nicht auf. Ruft ihm blicklos was zu. Das Kind schreit weiter. Sucht nach einem Blickfang für die Augen. Am liebsten die Augen der Eltern. Augenblick mal! Die Augen haben, mal wieder, keine Zeit. Die ist dem Handy und seinen (oft belämmerten) Wundernachrichten gewidmet. Mal geht es um einen Kauf-Link, mal um eine Verabredung, mal um eine Neuigkeit aus der bunten Welt alberner Dekadenz. Fast nie um etwas wirklich Wichtiges, während das wirklich Wichtige keinen Augenblick geschenkt bekommt. Was Wichtig ist, bestimmt allein der Klingelton. Nicht der Schreiton. Nur ein Beispiel von zahllosen.

Ein weiteres: Ich komme in die Arztpraxis. Ich grüße freundlich und laut. Einer von den sieben Patienten grüßt leise zurück. Das freut mich. An der Tür ein Schild mit Handyverbot. Umsonst. Vier Patienten gerade im Handy Aktivmodus. Zum Glück gucken oder tippen sie nur. Zwei andere starren vor sich hin. Der siebte greift ständig in die Tasche. Handy-Standby. Verdammt, meldet sich da kein Schwein? Wer bin ich denn! Bin ich etwa ein Niemand? Rein, raus, rein, raus. Ich beobachte die Beobachter der Mini-Bildschirme. Einen nach dem anderen. Sie sehen mich nicht. Ich beobachte auch die beiden, die in den Raum starren. Ein schönes Panoptikum. Ganz normale Kuriosenkabinetts-Patienten, wie sie in jedem Arztzimmer der Welt sitzen. Niemand spricht. Dann aber. Der Standby-Kandidat bekam ein kurzes musikalisches Zeichen. Nun wird arabisch gequatscht. Oder syrisch oder was weiß ich… ich verstehe es ja nicht. Was ich aber verstehe, ist: Er ist aufgeregt, laut und benimmt sich so, als sei er alleine hier. Taff. Das hätte genauso gut in deutsch oder englisch sein können. Aber dann wäre man auch noch genötigt, es irgendwie wider Willen verstehen zu wollen. Also Glück gehabt. Fremde Fremdsprache. Die anderen Tipper und Nutzer gucken auf. Erbost. Sie sind ebenfalls gestört. Sie machen es ja leise mit ihrer Flucht.

Flucht? Wovor? Etwa vor meinem beobachtenden Blick? Mein Gott, iwoo..wer bin ich denn. Nein, nicht vor mir, sondern vor normal-gesunder Kommunikation unter Mitmenschen. Man könnte miteinander sprechen. Nicht alle auf einmal… aber man könnte. Auf diese Idee käme heute (fast) niemand mehr. Das Handy ist der Ausweg aus der Falle des Persönlichwerdens zu Fremden. Der Ausweg für die Augen, die nicht in die Augen der anderen blicken wollen oder müssen. Es ist ein Fluchtkorridor, der – meist völlig unbewusst und sicher auch unbedacht – automatisch eingeschlagen wird, sobald man sich in einem gefährlichen Terrain befindet: Einer möglichen Zwangskommunikation mit der eigenen Spezies. Mit Menschen im gleichen Raum, denen man mit Blicken sonst begegnen könnte oder müsste. Jetzt ist man geschützt. Der Blick ist gesichert. Man hat gerade etwas sehr wichtiges zu tun. Das ist eine der Botschaften. Die andere: Lass mich bloß in Ruhe!

Ich lass sie nicht in Ruhe. Absicht. Ich fixiere so, dass so manch einer von ihnen sieht, wie ich sie der Reihe nach ansehe. Die Blicke bleiben gesenkt. Jetzt aber! Erwischt. Er schaut hoch, warum ich ihn anstarre. Und was sieht er? Meinen freundlichen Blick. Ein Lächeln. Ein unverbindliches. Aber ein nettes. Keine blöde Anmache. Lang genug, um verblüfft zu sein. Kurz genug, um auch wieder schnell wegblicken zu können. Er lächelt nicht zurück. Ich gebe nicht auf. Die Frau dahinten. Nächste Kandidatin. Fixierung. Irgendwann schaut sie auch auf. Ich lächle sie freundlich an. Sie schaut, ist irritiert, lächelt zurück. Wie schön. Aber dann schnell wieder weg mit dem Blick. Wohin? Aufs Handy. Am Ende wage ich es sogar, sie noch anzuquatschen. Wir kennen uns schließlich nicht. Ich lächele nun in mich hinein.

Die beiden, die kein Handy benutzen. Sie starren noch immer vor sich hin. Sind mit irgendetwas gedanklich beschäftigt. Oder sie fühlen etwas. Aber sie sind vermutlich mehr bei sich, als sie selbst ahnen. Sind beim Eigenen, wie banal es für andere auch sein mag. Sie lesen keine der Zeitungen (weiß der Teufel, durch welche kranken Finger die schon liefen), haben kein Buch dabei und man kann ihnen nicht wirklich ansehen, ob sie in sich zentriert sind oder eher gelangweilt auf die Aufforderung zum Arzt warten. Der alte Mann schaut mich nun an. Ich lächle schon wieder. Ob er mich heimlich beobachtet hat? Eine Verrückte, die hier einfach ungefragt herumlächelt? Jau… Wenn man es so nennen will, dann bitteschön.

Der Anrufer ist wieder still. Ein anderes Handy klingelt. Wieder ein Gequatsche. Ziemlich laut. So laut, dass ich mitbekomme, wie wütend jemand ist, dass es Probleme beim Beschaffen des Porzellans gibt. Hochzeit geplant? Oder Familienfest? Keine Ahnung. Zum Glück ist das Gespräch kurz. Dann tippt sie wie wild. Zwei andere wischen derweil. Also nicht den Boden, sondern den Kasten. Wisch, wisch. Schön leise… bitte nicht stören.

Normale Situationen. Normalität unter den Menschen, die sich immer mehr entfremden. Na gut, man braucht nicht im Wartezimmer mit Hinz und Kunz Small Talk reden oder die Welt archimedisch aus den Angeln heben. Man braucht auch nicht unbedingt grüßen. Hat früher, in der Vor-Handy-Ära ja auch nicht jeder gemacht. Aber man könnte sich einmal kurz anschauen. Vielleicht einmal lächeln? Das wäre schon schön.

Wenigstens für den suchenden Blick der Augen aller Kinder: Augenblicks-Momente der Nähe. Wie sehr nur gehen sie verloren… Wie tief verstrickt man sich in ein Schuldigwerden, ohne zu ahnen, was man da aufgibt…

— 04. Mai 2022
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