November-Blues und Ewigkeit

Über Leben und Tod sinniert Christa Schyboll

Der November-Blues ist mir fremd. Warum so viele davon reden, ist mir schleierhaft. Nun ja, ich bin weder wetter- noch jahreszeiten-fühlig. Und Launen gehören auch nicht in mein Repertoire.

Doch ich kenne etwas anderes. Es ist eine merkwürdige, fast schon denkwürdige Neutralität, die mich manchmal überfällt... und mich kurz staunen lässt. Dann sind plötzlich alle Gefühle fort. Wusch, weg… wohin auch immer. Dann bin ich nur sachlich bei meinen Gedanken. Ich bewerte nichts, beurteile nicht, sondern schaue mir mit Abstand an, was ich da sehe, lese, höre oder sonst wie vernehme.

Tote beispielsweise. Tote, die ich nicht kenne. Tote in aller Welt.

Ich realisiere dann beispielsweise gerade einmal wieder durch die Medien, wo ein Amoklauf stattfand, Mordserien die Menschen aufscheuchen, tote Soldaten zu beklagen waren, Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken, wie hoch die Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern ist oder wie viel Frauen als Opfer häuslicher Exzesse zu Tode kamen. Es sind nur Beispiele. Themen gibt es viele. Die Liste von allem ist jeden Tag ellenlang. Man muss nur genug Nachrichten hören oder lesen. Man wird immer fündig.

Etwas in mir sagt: Die armen Menschen. Aber ich fühle es nicht. Es ist zu weit weg. Unbekannt. Fremd. Es sind Zahlen, geht mich emotional nichts an. Das Gefühl ist kurz eine Theorie. Keine erlebte Wirklichkeit. Merkwürdig...

Natürlich stehen diesen mir unbekannten Toten auch entsprechend viele Geburten gegenüber. Kleine Menschlein, die ein neues Leben beginnen. Und niemand weiß, wann und wie es enden wird. Da die Menschheit derzeit noch wächst, sind die Geburten immer noch auf der Habenseite, einschließlich der natürlich verstorbenen Toten, sei es an Alter oder Krankheit.

Leben-Tod. Tod-Leben – geht es mir dann ganz ohne Gefühl durch den Kopf. Ich bilanziere es kurz und denke daran, wie schnell man auch selbst in diese namenlose Statistik eines Tages eingereiht wird. Und irgendwo in der Welt steht dann vielleicht jemand, der auch kurz an die Statistik der Toten denkt. Ein Fremder. Denkt das Gleiche. Aber nicht an mich. Denn von mir weiß er nichts.

So ist es für jeden. Man lebt, man stirbt. Und dazwischen ist oft viel Aufgeregtheit, die so völlig unnütz war. So verzichtbar, dennoch belastend. Würde man das doch schon früher realisieren und sich nicht immer so verrückt machen! Und dann ist man plötzlich auch tot.

Es ist, als würde eine Meereswelle an den Sandstrand schwappen und man selbst sei nur eines der Milliarden Sandkörnchen, das Spielball der Wellen ist. Spielball des Schicksals, das auch die Wellen befiehlt. Eine Zeitlang an Land, dann wieder vom Meer auf lange Zeit verschluckt. Wer weiß, vielleicht auch für immer.

Aber wer weiß, vielleicht auch wiederkommend, auf irgendeine Weise. Irgendwann, nur ganz anders, weil das Individuelle eben seiner Natur nach so einzigartig ist und bleibt, weil es eben das Individuelle ist.

— 14. November 2022
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