Höflichkeit

Alte Tugend contra moderne Entgrenzung? Von Christa Schyboll

Begegnet sie uns, sind wir nicht selten angenehm berührt. Vielleicht auch deshalb, weil sie gar nicht so häufig vorkommt, wie wir es gerne hätten. Die Rücksichtnahme, die damit in der Regel einhergeht, zeigt uns eine Form von Respekt, mit der wir uns persönlich gewürdigt fühlen.

So empfinden wir echte Höflichkeit als eine Tugend und können sie abgrenzen zur Schnoddrigkeit oder Grobheit, die wir alltäglich unliebsam oft erfahren.

Der Bezug des Wortes zur Lebensart des Hofes, die man als höfisch bezeichnete, drängt sich auf. Schnell sind die Gedanken bei jener spätmittelalterlichen Freundlichkeit, die sich aus der Rohheit und Gewalttätigkeit des Feudaladels transformierte zur höfischen Courtoisie des Hofadels.

Bei der Höflichkeit haben wir es aber nicht mit einer üblichen Form der Freundlichkeit zu tun, sondern mit gesellschaftlichen Normen und Umgangsformen. Respektvolle Distanz – je nach Kultur und Epoche – kennzeichnen das, was als höflich gilt. Von der freundlich-unterkühlten Distanz bis zur Herzenshöflichkeit ist alles zu finden. Die Beziehungen untereinander allein bestimmten dann letztlich die Form.

Heute begegnet uns in der Regel ein Mangel an Höflichkeit. Das dürfte einer der Gründe sein, warum wir sie so positiv empfinden, wenn sie uns in Persona gegenübertritt. Gekennzeichnet ist sie durch einige Grundnormen, die vorübergehend mehr und mehr in der Versenkung der Geschichte zu verschwinden drohen. So bringt man andere Menschen nicht in Verlegenheit oder peinliche Situationen. Das Fernsehen der Gegenwart ist ganz im Gegenteil auf genau diese Verletzung aus und erfreut sich hoher Quoten. Für sich selbst möchte man es nicht, aber erfreut sich offenbar in Massen, wenn andere stellvertretend geschlachtet werden.

Weiter vermeidet man bei echter Höflichkeit und guten Manieren Klatsch oder allzu kritische Meinungsäußerungen vor Dritten, zumal wenn sich der Betroffene nicht wehren kann. Der Dank für etwas ist bei der Höflichkeit ein Muss, während man selbst einem Dank oftmals taktvoll ausweicht. Inwieweit solche Höflichkeitszeremonien heute auch dem Anspruch ehrlicher Authentizität entsprechen, zeigen nur der Einzelfall und die eigene Sensibilisierung für die aktuelle Atmosphäre des Geschehens. Das Anklopfen an eine Tür vor eintritt ist eine Selbstverständlichkeit, die auch im eigenen Hause je nach Privatsphäre zu gelten hat.

Manches mag nicht zeitgemäß erscheinen, doch man hat sich zu fragen, ob die heute gelebten Alternativen die besseren sind. Höfliche Menschen mögen manchmal eine gewisse Steifheit haben, die einer gesunden Lockerung bedarf. Aber vielleicht ist diese letztlich humaner, gesünder und angenehmer als jene Schrankenlosigkeit der Gegenwart, die keine Regeln mehr kennt und an ihrer Entgrenzung selbst zugrunde zu gehen droht.

— 15. August 2010
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