Hunger

Ist der Bauch leer, füttere man vorübergehend den Kopf, meint Christa Schyboll

Hungerattacken versuche ich zu vermeiden. Sie bekommen mir nicht. Ich esse dann mehr, als ich will. Also sorge ich vor. Dennoch gibt es Situationen, wo man hin und wieder nicht zu regelmäßigen Mahlzeiten kommt. Dann wird man schon mal attackiert.

Der Hunger meldet sich. Er ist mächtiger als so ein bisschen Appetit und liebt es, sich gern auch mal mit Geräuschen bemerkbar zu machen, wenn man ihn gern überhören möchte. Lange Zugfahrt ohne Speisewagen. Da kann das durchaus mal passieren. Oder so manche Warteschlange im Leben, die man nicht wirklich eingeplant hatte und natürlich zur Unzeit kommt, die eigentlich Essenszeit ist und nun ausfällt.

Kann ich meinen Magen nicht füllen, versuche ich, wenigstens den Geist zu füttern. Das lenkt ab. Kurzum, in solchen Momenten denke ich am liebsten an die großen Entdecker und meine Bewunderung für sie. Mögen sie die Sahara durchquert haben, die Wüste Gobi oder die Antarktis. Als Kind schon liebte ich ihre Abenteuer und war voller Bewunderung und Staunen, welche körperlichen Qualen, Gefahren und Nöte sie für ihre Ziele in Kauf nahmen. Auch Hunger und Durst gehörten dazu. Jetzt in der Warteschlange, die zu nerven droht, ist der Augenblick, diese alten Geschichten bildhaft in mir auferstehen zu lassen.

All diese ausgemergelten Männer. Oft saßen sie in windumtosten Zelten, in Sand- oder Eiswüsten. Sie hungerten, froren in unwirtlichen Gegenden oder verdursteten auf einem endlosen Meer. Manche von ihnen halluzinierten raffinierte Köstlichkeiten. Sie stellten sich die Einzelheiten üppiger Büffets mit frischem Wild und feinem Gemüse vor. Sie kauten in Gedanken imaginäre leckere Bissen und genossen in ihrer Phantasie den Duft von Gesottenem und Gebratenen, während ihre realen Zähne auf das Leder der Schuhsohlen oder auf Bucheinbände bissen. Manche mögen saftige, zuckersüße Früchte in ihrer Phantasie vorgezogen haben, deren Saft aus ihren Mundwinkeln quoll und warm über Kinn und Brust rann. Oder honigsüße Nachspeisen des Orients, die den Gaumen verzückten. Andere Hungernde gruben die alten Geschichten aus der Heimat aus. Erinnerten sich der heimischen Künste der Mutter. Und was die Großmutter kulinarisch vermochte.

Auch stelle ich mir vor, dass so manch ein Alptraum die Männer heimgesucht haben könnte. Momente absurder Ereignisse im Traum zwischen Wachen und Schlaf. Männer am Rande des Wahnsinns. Eine fein gedeckte Tafel vor dem inneren Auge, von der man durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt ist. Oder vielleicht bewachte sie ein Ungeheuer. Erst müssen Mutproben bestanden werden, bevor die Köstlichkeiten Glück und tiefe Befriedigung verheißen.

Ich lasse eine endlose Bilderserie an meinem geistigen Auge vorüberziehen. So lange, bis ich den eigenen kleinen, ja geradezu lächerlich kleinen Hunger vergessen habe… Oder so lange, bis die nächste Möglichkeit einer kleinen Sättigung gekommen ist, die mich mit tiefem Dank darüber erfüllt, wie leicht und schnell sie doch für mich erreichbar war.

— 03. Juli 2013
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