Der schwache Verstand

Ist er unser stärkstes Pfand, fragt Christa Schyboll

Ich sitze gemütlich beim Frühstück und fühle mich mal wieder wohlig von der Neurowissenschaft bestätigt, die uns gerade erzählt, dass der Verstand die schwächste Kraft im Menschen ist. Doch Halt! So würde ich das - obschon nur Laie - dennoch nicht stehenlassen wollen, weil: Der Verstand kann ungeheuer stark sein oder werden.

Was problematisch ist, ist tatsächlich unsere Willenskraft, die nicht angesprochen wird. Denn der Verstand kann die Hürde zum Willen nicht überschreiten, wenn die Willenskraft in uns zur Veränderung zu schwach ist. Das wird leider nicht so differenziert, dürfte aber noch eher der Wirklichkeit entsprechen.

Worum geht es?

Es geht um die generelle Einsichtsfähigkeit in eine Problematik zum einen und die daraus ziehenden Konsequenzen zum anderen. Man kann durchaus etwas einsehen und dennoch tatenlos bleiben. Also wirkungslos. Oder schlimmer: Das Schlimme noch weiter verschlimmern, obschon man es weiß, aber nichts tut, weil es ungemütlich oder beschwerlich ist. Weil es den Alltag und sein Gefüge stört. Weil wir aber nicht ständig gestört werden wollen!

Das rationale Verstehen reicht nicht aus, sagen die Wissenschaftler. Wohlan! Recht so! Das sage ich als Nichtwissenschaftlerin schon immer. Es nützt unter Umständen nicht einmal eine emotionale Betroffenheit, um so in die Gänge zu kommen, das unselige Zustände beendet werden.

Um Änderungen, sei es politisch, klimatechnisch, gesellschaftlich, kulturell, in eine neue, gesunde Richtung zu lenken, braucht es schon ein großes Maß an tiefer Betroffenheit, um aus dem Gewohnten (das unser heimliches Geliebtes ist) tatsächlich dauerhaft auszusteigen. Es braucht Vorbilder, starke Motive, klare Visionen und auch ein gutes Stück moralische Verantwortung, die viele noch gar nicht in sich entwickelt haben. Dann ist der Verstand ein starkes Instrumentarium - oder kann dazu werden.

Herzkraft und Hirnkraft müssen mit tätiger Hand (Kraft) eine Koalition des Fühlens, Wollens, Denkens und Tuns bilden, wenn wir die Dilemmata unserer Zeit in den Griff bekommen wollen. Denken wir lediglich nur darüber nach, philosophieren ein wenig vor uns hin, versinken wir im selbsterschaffenen Chaos ... für mich zumindest dann so ganz ohne Erstaunen!

— 14. Juni 2022
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