Goethe – ein Durchblicker und Erschauer

Hinweise über bis heute unverstandene Seiten des Universalgenies von Christa Schyboll

Generationen von Schülern wurden zu früheren Zeiten mit Goethe regelrecht gequält. Ich wiederum wurde zu meiner Zeit regelrecht um ihn betrogen. Doch davon wusste ich zunächst nichts. Hier musste mir erst eine kleine Schrift über den Lebensweg laufen, die mir mit unerbittlicher Klarheit dies aufzeigte und ein qualitatives Entsetzen in mir nachträglich auslöste.

Dieses kleine Buch ¹) vermag zugleich zu führen und zu verführen zu einem Menschen, der vielen von uns nur als - wenngleich großer – „Dichter“ verkauft wurde. In Wirklichkeit jedoch war er viel mehr, was man uns aus unerfindlichen Gründen verschwieg. Er war eine Art Kollektivwesen, das hier das hier aber anderes meint als das Universalgenie.

Der Autor dieser kleinen Schrift „Das Schicksal heißt Goethe, Prof. Dr. Karen Swassjan, gilt als ausgewiesener Goetheexperte und wird seinem Anliegen in so ganz anderer Art seiner Aufgabe gerecht als die üblichen ungezählten Lobeshymnen oder Biographien. Goethe wird hier mit einem neuen Blick er- und angeschaut und das Wesenhafte in feiner Weise rauskristallisiert, so als handele es sich um eine gänzlich neue Durchblickung. Dieses Wesentliche zeigt sich verblüffender Weise u. a. auch an Goethes Wortallergien - trotz seiner 133 Bände Gesamtwerk. Die (verblüffenden) Beweise dafür werden durch Goethe selbst vom Autor angeführt.

Das Besondere dieses Menschen, dessen Genialität von routinierten Goethekennern tragischerweise geradezu perfekt entschärft wurde, lag neben dem dichterischen Großwerk aber wohl vor allem in der Schöpfung des urphänomenalen Erschauens. Dies aber ist Voraussetzung zum lebendigen Denken, mit dem ein Erkennen der Wirklichkeit sich über jedes spekulative Philosophieren hinaushebt. Nichts hasste wohl Goethe mehr als leeres wissenschaftliches, kulturelles, religiöses oder humanistisches Geschwätz oder esoterische Mutmaßungen - nichts forderte er ernster und tiefer, als die Augen für das zu öffnen, was vor ihnen liegt. Schauen lernen. Erkennen lernen. So schlicht, so schwer! Bis heute für die meisten von uns eine unerreichte Disziplin.

64 Seiten geballte Potenz (einer weiter zu potenzierenden Potenz! siehe Buch!), die uns Deutschen ausgerechnet von einem Ausländer mit eigener Wortartistik und geistiger Eloquenz vorgeführt wird . Das aber zeigt uns den Mangel erst recht, vielleicht auch erstmalig, durch diesen unbestechlich klaren, ja „beleidigend klaren" Blick, der an offensichtlich Augenkranke gerichtet ist. Ein Buch für alle, die den spannenden Goethe verpassten. Der Schöpfer einer ungeheuren Lyrik, der vergleichenden Anatomie, der Morphologie der Pflanzen, der physiologischen Optik, des Begriffs der Homologie, der Metamorphose usf. lehrte Dinge, die noch weit davon entfernt sind, öffentlich verstanden und gelehrt zu werden. So zum Beispiel die Wir-Kraft im einzelnen Individuum wie auch in der Initiative, die sämtliche in sich vereinigte Kräfte zu bündeln hat.

Dann Goethe auf dem Schlachtfeld des Geistes, statt im Salon des Humanismus, Goethe als Erkenner des Organisationsprinzips der Individualität, Goethe, der die gleichen Rechte für Irrtümer und Fehler ebenso forderte wie für die Tugenden, Goethe als Ästhetiker, Charmeur oder Zeremonienmeister... Schier endlos die Facetten, die Swassjan belegt und verlebendigt und ... zu Goethe neu ver-führt.

Welch Tragik, dass sich die Deutschen mit dem Besten, was sie hatten, gründlich verhinderten - in dem sie nicht erschauten, aufgriffen und fortführten, was wesenhaft in jedem veranlagt, aber von ihm als Schatz gehoben wurde. Bis heute ver-brechen sie sich an dieser verpassten und verpatzten Chance insofern, als man diesem Augenöffner schlichtweg: übersah ! und ihn vermutlich aufgrund seiner schwer fassbaren Größe auf ein lieber erträglich Fassbares als großer Dichter" reduzierte.

Goethe ist so zukünftig wie all die Echten, die ihrer Zeit weit voraus waren. Während sie physisch tot sind und wir uns lebend wähnen, weist eine höhere Wirklichkeit jedoch auf uns als Tote", die für solche ewig wirkenden Geistesgrößen erst einmal die Geburt es Erkennens bei den Erkennenwollenden voraussetzt. Um ein echtes Erkennen-Können macht sich diese spannende Goetheschrift schicksalhaft verdient …und verdient sehr viele Leser.

¹) Karen Swassjan „Das Schicksal heißt Goethe“
Taschenbuch: 64 Seiten
Verlag: Verlag am Goetheanum (1999)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3723510485
ISBN-13: 978-3723510483

— 03. August 2010
 Top