Trotzphase und Würde des Kindes

Wo ist die Grenze der Gewalt in der Kleinkinderziehung, fragt Christa Schyboll

Gewalt in der Kleinkinderziehung ist ein heikles Thema. Niemand möchte sein Kind schlagen - und trotzdem kommt es immer wieder vor wenn Eltern nicht mehr weiter wissen. Darf der "kleine Klaps" das letzte Mittel zur Durchsetzung von Grenzen sein - oder lieber eine Erziehung, die keine Grenzen setzt, sondern auf eine irgendwann kommende Einsicht vertraut?

Man stelle sich vor: Ein dreijähriger Knirps ist gerade in seiner Trotzphase. Er ist gut entwickelt, verfügt über ein intaktes Gehör und hat ein liebevolles Elternhaus. Die Welt will aber nun von ihm ausgetestet werden. Das macht er zwar nicht bewusst, dafür aber umso heftiger. Wo sind die Grenzen, die man ihm zieht? … Grenzen? Paaahh!

Die Familie möchte verreisen. Es gibt eine klare Ansage für alle, wann es los geht. Der Knirps mauert, trotzt. Er will partout nicht von zuhause weg. Er muss aber! Die Ansage wird nochmals freundlich, aber klar wiederholt. Der Knirps trotzt weiter. Jetzt erst recht. Nein! Er bleibt! Vater oder Mutter sind konsequent. Einer von beiden schnappt ihn sich. Körperlich ist das in diesem Alter noch gut möglich. Der Trotzkopf wird nun hysterisch laut, brüllt wie am Spieß. Die Nachbarn schließen bereits die Fenster. Eine durchaus übliche Situation für viele Kinder dieses Alters. Weitere Ansagen gibt es nun keine mehr, denn das Auto ist fahrbereit. Der Trotzkopf will’s aber nun erst recht wissen! Er brüllt jetzt nicht nur aus Leibeskräften, sondern tritt und schlägt wie wild um sich. Er will zuhause bleiben. Basta!

Wer das Kind kennt, weiß: Es ist ein kerngesundes Kind, das ausgerechnet in diesem äußerst ungünstigen Augenblick die Kräfte seiner familiären Mitwelt testen muss. Er ist halt in der Trotzphase, die zur natürlichen Entwicklung des Menschen gehört. Manche Kinder erleben sie heftig, andere kaum, wieder andere holen sie erst später im Leben nach, was nicht unbedingt leichter ist.

Verständigung über Worte ist nicht mehr möglich. Ein gutes Zureden kommt nicht an. Der Knirps ist vorübergehend sozusagen "außer sich". Vater oder Mutter versuchen sich in Löwenbändigung. Der Löwe schlägt zu. Der Bändiger auch. Kurz einen spürbaren Klaps auf den Po. Der Löwe wacht auf!

Was war das!? Er ist kurz still – und dann brüllt er erneut. Wer genau hinhört, merkt vielleicht eine feine Änderung. Denn jetzt ist der Löwenknirps nicht mehr nur trotzig, sondern er ist empört, geschockt, in seine natürlichen Grenzen gewiesen. Dann wird er liebevoll getröstet. Er lässt sich nach einer gewissen Zeit gern trösten, genießt die Tröstung. Die Reise kann beginnen. - Eine Alltagssituation, wie sie so oder ähnlich millionenfach vorkommen kann.

Der Idealfall ist nicht immer auch der Normalfall

Die gleiche Situation wie oben, aber Mutter oder Vater schaffen die Beruhigung des Kleinen mit guten Worten. Das gelingt in der Realität auch oft, aber eben nicht immer. Kein Kind und keine Situation sind vergleichbar. Es gibt eben Kinder, wo es mit guten, beruhigenden Worten geht und bei anderen eben manchmal nicht. Wer diese vielen feinen Unterschiede zwischen den kindlichen Individualitäten und den scheinbar äußerlich gleichen und dennoch atmosphärisch oft so unvergleichbaren Situationen niemals hat kennen lernen können, weil er solche Situationen niemals erleben musste, dem fehlt in einem solchen speziellen Fall auch eine reale Erfahrung und damit auch eine Urteilskompetenz. Vom Grünen Tisch des Idealen her sind immer leichtfertig Vorgaben zu formulieren, wie etwas zu sein hat. Aber die Wirklichkeit sieht eben oft anders aus. Alle Eltern, die klaren Geistes sind und auch selbstkritisch reflektiert, freuen sich darüber, wenn sie niemals zu einem kleinen Klaps als letzten Ausweg in einer solchen vorübergehend hysterisch anmutenden Situation greifen müssen.

Nun stellt sich die Frage: Ist ein solcher Klaps nun auch schon vergleichbar mit dem "Schlagen" von Kindern? Hier gehen die Meinungen auseinander – und die Grenze kann je nach Situation tatsächlich auch fließend sein… Genauer gefragt: Darf man Kinder schlagen? Nein! Auf keinen Fall!

Wo aber ist denn genau der Unterschied zwischen konsequenter Handlung in Ausnahmesituationen durch einen "Aufwach-Klaps", damit das Kind wieder zur Besinnung kommt – oder eben dem "Kinder schlagen"?

Wer selbst die Erfahrung der Erziehung mehrerer Kinderindividualitäten hat, weiß von all den unglaublich vielen Unterschieden zwischen den verschiedenen Kindern und verschiedenen Situationen und weiß vor allem dann auch zwischen Notwendigkeiten und Idealvorstellungen zu unterscheiden. Zugleich sollte er dabei auch die Würde des Kindes und die des Erziehers im Blick haben.

Der Papst und seine Äußerung zum Schlagen

Papst Franziskus, das Oberhaupt der Katholischen Kirche, die die Friedensbotschaft in der Welt verkündet, hat vor einiger Zeit dazu eine die öffentliche Aufmerksamkeit erregende Äußerung getan. Er sagte zur Erziehung der Kinder, dass es aus seiner Sicht in Ordnung sei, Kinder zu schlagen, solange dabei deren Würde geachtet werde. Diese Äußerung brachte ihm viel Empörung ein. Vertragen sich Würde und Schlagen? Aber was genau ist Schlagen, was ist ein Klaps auf den Po? Ist das schon Schlagen, ist das schon eine Verletzung der Würde? Oder ist das eine Art Rückführung aus einer hysterischen Situation in eine Normalsituation?

Dem Papst brachte diese Äußerung einen großen Shitstorm ein, der die Gemüter der verschiedenen Lager auch gegeneinander aufbrachte. Je nach kultureller Gepflogenheit gehen Menschen oder auch Völker mit Kindererziehung in der Tat verschieden um, sind es ganz verschieden gewohnt und beurteilen es dem gemäß auch so, wie es ihnen selbst nahe ist. In unserer westlichen Welt ist das Schlagen von Kindern Tabu – zumal in der offiziellen Lesart. Hinter die Türen der Menschen und deren tatsächliche Wirklichkeit schaut man dabei aber nicht.

Kinder brauchen Grenzen, da ist auch die Erziehungspsychologie eindeutig. Was aber, wenn diese Grenze – beispielsweise bei heftigen Trotzphasen - kurzfristig außer Kraft gesetzt wird? Was, wenn die Umstände im Außen dazu zwingen, jetzt nicht noch eine weitere Stunde abwarten zu können, bis sich eine Trotzphase aus lauter Erschöpfung von ganz alleine wieder gelegt hat? Solche Situationen gibt es häufiger, als sie in all den wohlfeilen Erziehungsbüchern stehen. Klar ist: Gewalt ist niemals (!) ein Mittel der Wahl. Schlagen, das Schmerzen usw. verursacht, verbietet sich.

Doch gibt es, solange das Kind noch klein genug ist, das Mittel der festen Umarmung in solchen Wutattacken. Ein innerliches und äußerlich starkes Halten und Festhalten des Kindes, nah am eigenen Herzen, mit Klammergriff und möglichst so geschickt, dass sein Strampeln und Toben gebändigt wird… dann kann nach einer gewissen Zeit Ruhe eintreten. Das Kind wird sich nach seiner Verausgabung nur noch nach Trost und Liebe sehnen… Aber zuvor müssen die Eltern selbst Nerven- und Herzkraft aufbringen, um die Kontrolle des Kontrolllosen wieder in Harmonie zu bringen. Eltern, die sich selbst gut unter Kontrolle haben, werden diese wirklich oft schwierigen Situationen auch meistern. Leicht ist es nicht. Es lohnt sich, den Kindern zuliebe seine eigene Harmonie in sich selbst immer wieder anzustreben, um im Falle natürlicher Disharmonien dann die rechten Kräfte zur Verfügung zu haben.

— 27. März 2016
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