Ostern – und die Ohnmacht der Kirchen

Vom Dilemma des Glaubens, der nicht mehr wirkt, schreibt Christa Schyboll

Der Himmel ist oben. Sagen die einen und meinen damit einen Raum, der irgendwie über den Wolken schwebt. Der Himmel ist in uns. Sagen die anderen, die diese Örtlichkeit zwar nicht in den Körper eines Menschen verlegen, sondern mehr in seinen Geist, seine Seele. Also in das materiell nicht Auffindbare in uns.

Der Himmel ist überall. Sagen die nächsten und meinen es ziemlich konkret. Weil Gott eben alles geschaffen hat. Also auch da, wo gerade die Hölle stattfindet. In den Zonen des Bösen, des Unmenschlichen.

Der Papst der Katholiken gilt ihnen als der Stellvertreter Gottes auf Erden. Dieser göttliche Vize macht gerade eine dunkle Zeit durch. Denn immer mehr Gläubige glauben nicht mehr. Sie können es nicht mehr. Ja mehr noch, sie sind wütend, enttäuscht und entsetzt. Manch einer fragt sich, wie Gott diesen menschlichen Murks in eigener Sache durchgehen lassen kann.

Gott schweigt.

Eigentlich tut er das immer. Doch diesmal schweigt er besonders eisern.

Was ist also los in der Herde des HERRN? Zu viele schwarze Schafe unter immer weniger weißen? Ist die Menschheit nun böser als früher geworden oder eher aufgeklärter? Oder beides nicht? Ist sie gleichgültiger gegenüber dem Nächsten, der Politik, den Kriegen, der Unmenschlichkeit, die längst (oder schon immer?) auch die heiligen Hallen der Kirchen erreicht hat? Niemand kann mehr die Anzahl der sexuellen Übergriffe, Vergewaltigungen, seelischen Schädigungen jemals benennen, die ausgerechnet dort stattfanden, wo das Heil und Heilige zum Maßstab erhoben wurde. Dort, wo Unschuldige und Machtlose zu immer wieder neuen Opfern wurden. Zu hohe Dunkelziffern gegenüber den entsetzlich vielen bekannten Taten. Priester sind auch nur Menschen. Sagen die einen. Priester darf nur sein, wer über eine besondere Qualifikation verfügt. Sagen die anderen. Eine, die weniger mit theologischem Wissen, dafür umso mehr aber mit der Reinheit der Seele zu tun hat, die sich vor allem in Worten und Taten zeigt. Das mit der Reinheit ist in zu vielen Fällen leider allzu schief gegangen. Das Böse – im Menschen – hat auch vor den Toren unserer Heiligtümer nicht Halt gemacht.

Was also nun? Ein Leben ohne Religion? Wie halten es die Muslime und die anderen Religionen? Sind sie in einem ähnlichen Dilemma einer Desorientierung? Sind auch sie auf einem Weg einer Neuorientierung, die sich an was orientiert?

Die Antworten können nur individuell ausfallen, weil ein jeder aufgrund seiner Prägungen eine andere Sichtweise auf die Dinge des Göttlichen oder Heiligen hat. Immer mehr und mehr haben auch gar keine Sichtweise dazu, weil sie keine Lust mehr haben, sich mit solchen Themen zu beschäftigen, wenn da immer mehr Lug und Trug hinter steht. Und auch das ist nur eine sehr verkürzte Sicht.

Die Gesellschaft, die Weltgemeinschaft, wird sich nach und nach auch in Sachen "Religion" wohl neu er/-finden müssen. Früher oder später wird die Verweltlichung auch andere als nur die christliche Religion erreichen und für Tumulte und schwerwiegende Zäsuren sorgen, die alles Bekannte mit auf den Kopf stellen. Und dann braucht es eine Alternative… für jeden Einzelnen, der Sinnsucher bleibt oder auch zum Sinnfinder wird oder wurde.

Wie wäre es mit einer zunächst einmal bescheidenen Haltung? Nicht gleich zum Heiligen werden wollen, nicht gleich das Göttliche in möglichst kurzem Weg anzustreben, sondern zunächst mal menschlich werden. Das bedeutet: Das Leben in jeder Form zu achten, die Schöpfung bewahren, friedlich zu werden, das Böse in sich selbst erst einmal zu überwinden und zu meistern und all seine kreativen Kräfte zum Guten zu entfalten, die uns gegeben sind.

Halt! Stopp! Das fordern doch auch die Kirchen! Stimmt! Aber sie leben es nicht authentisch vor. Da liegt das Problem. Sie sind unglaubwürdig. Kein Wunder also, dass ihre Lehren und Forderungen nicht ziehen. Sie horten Gelder, machen teils krumme Geschäfte, haben merkwürdige Hierarchien errichtet, mit denen fast niemand mehr etwas anzufangen weiß. Sie diskriminieren unter anderem Frauen, stellen sich an den falschen Stellen blind, decken Verbrecher, lügen, missbrauchen Gelder der Kirchengläubigen und fordern unbedingten Gehorsam. Die Liste könnte fortgeführt werden. Doch auch die Liste manch einer guten Tat, würde sie ergänzen müssen. Dennoch ist das Gleichgewicht offenbar nicht gegeben. War es das je?

Sind wir also auf einem Weg einer Individualisierung und Reifung jenseits von religiösen Vorgaben? Ist es nicht das, was wir brauchen? Und geht auch das nicht ohne die Um- und Irrwege von Versuch und Irrtum? Unter anderem darum, dass ein Weg der Individuation zunächst für viele auch in der Sackgasse des Egoismus feststecken kann? So manch einer wird sich im Dschungel ohne Ge- und Verbote verirren und sich selbst dabei nicht mehr wiederfinden. Auch das gehört dann zum Risiko einer Neuorientierung, die nicht jedem direkt auf Anhieb gelingen kann. Es wird lange brauchen, bis der Mensch dahin findet, dass er sich selbst so menschlich wird, dass es dem Göttlichen immer näherkommt.

Brauchen wir also keine Kirchen mehr? Keine Religion?

Eine solche Frage kann man unmöglich mit einem Ja oder Nein beantworten. Denn das Problem sind dabei nicht nur die religiösen Vorstellungen und Lehren, die vielen Menschen erst Sinn und Stütze geben, sondern vor allem das Individuum selbst und seine seelische "Bedürftigkeit". Dort, wo es seinen Lebenssinn noch nicht selbst erarbeiten kann, kann es in vielen Fällen auch schwierig bis unmöglich werden, auf eigenen geistigen Füssen zu stehen. Es hängt entscheidend davon ab, ob ein Mensch sich selbst mit diesen "letzten Dingen" schon intensiv beschäftigt hat – oder eben nicht. Meine Osterwünsche lauten schlicht:

Setzt euch mit euch, eurem Leben, eurem Lebenssinn gründlich auseinander.

Liebt das Leben, die Schönheit des Planeten und lebt euer positives Potenzial, das in euch steckt.

Seid gut zu euch selbst (ohne egoistisch zu werden) und seid es zu euren Mitmenschen.

Dann lebt ihr so, wie es auch von den meisten Religionen einmal gedacht war.

Mit oder ohne sie, außerhalb oder innerhalb dieser Gemeinschaft.

Auf jeden Fall aber authentisch.

— 17. April 2022
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