Die Ukraine und das hermeneutische Prinzip

Über innere Konflikte und äußere Symbolik grübelt Christa Schyboll

Wer kennt das hermeneutische Gesetz nicht: »Wie innen, so außen. Wie oben, so unten« - das Prinzip der Resonanz aus dem Kybalion. Es besagt, dass alles, was einem Menschen im Außen begegnet eine Reaktion auf das ist, was in seinem Inneren ist.

Was sagt es uns in Bezug auf die Ukraine, was auf Putin und Selenskyj? - Nehmen wir sie jetzt einmal als Stellvertreter-Figuren in der Symbolik dieses Resonanzprinzips.

Ich habe mir Gedanken dazu gemacht. Ob sie stimmig sind oder wie nah und eng an der Wahrheit liegen, weiß vermutlich nur die Wahrheit selbst. Assoziationen dazu:

Da ist ein Putin in mir.

Da ist ein Selenskyj in mir.

Der eine Träger des Todes.

Der andere Träger des Lebens.

Um überleben zu können, muss man sterbebereit sein, um es dennoch zu schaffen: Das Leben. Das Überleben. Das Weiterleben.

Nein, es ist nicht der aktuelle militärische Konflikt, den ich vor meinem inneren Auge habe. Auch spreche ich nicht von Politik oder Ideologie. Nicht einmal von Landraub.

Es ist ein geistiger Krieg.

Ausgefochten auf dem Schlachtfeld des globalen wie auch individuellen des Bewusstseins.

Eines Bewusstseins, dass die Zusammenhänge und ihre tödlichen Auswirkungen klaren Blickes sieht, aber dennoch nicht versteht.

Eines, das Tatsachen in der Welt der Materie schafft und dennoch im Immateriellen gründet.

Daraus folgt: Was mit den äußeren Augen in letzter Konsequenz zu sehen ist, ist die Folge eines konsequent Immateriellen, das sich ins Materielle fortpflanzte: Zerstörung.

So wird das Unsichtbare sichtbar. Jede Zelle erfühlt es und weiß um die Wahrheit und leidet unter der eigenen Ohnmacht.

Dahinter steht das abgrundtiefe Misstrauen.

Das abgrundtiefe Missverstehen.

Abwehr gegen das Leben hier.

Abwehr gegen den Tod dort.

Doch wer oder was bestimmt die rhythmischen Phasen von Leben und Tod?

Sind es nicht letztlich auch unsere Gedanken im Vorfeld einer jeden Tat?

Gedanken, die uns schon vor dem real erlebten Geschehen über die Trümmer jener Schlachtfelder führen, die ihre Substanz aus dem grundsätzlichen Irrtum zog, der da meinte: Was lebt muss sterben?

Doch ist das denn so? Folgt das Leben nicht einer ganz anderen Logik? Einer, die das Sterben nicht als Endpunkt, sondern nur als Zwischenstation zwischen Leben und Leben markiert? Heilt das etwa den Schmerz der Trauernden?

Sind Leichen ein Beleg dafür, dass das Leben, das ewige, nicht nur das irdische, nicht auf ganz andere Weise weitergeht, weil Bewusstsein nicht den Gesetzen der Sterblichkeit unterliegt, da es Immateriell ist?

Man hüte sich vor solchen naiven Annahmen, der Tod sei der Endzustand aller Zustände. Endzustand ist immer das Leben. Doch unter welchen Bedingungen vor und nach dem, was wir als Tod erleben, lebt sich durch und mit uns dieses Leben und warum?

Ist der Tod ein Ammenmärchen von Lebensklammerern, deren Bewusstsein die Grenze des Unbewussten einfach nicht zu durchdringen vermag? Nein, der Tod, wie wir ihn erleben, ist ein entscheidender letzter Einschnitt für alles individuell Menschliche, dem auch die stärksten Gefühle von Schmerz, Leid, Trauer und Verlust untergeordnet sind und die gemeistert werden müssen. Die vielleicht schwerwiegendste Zäsur zwischen Leben und Leben. Aber kein Endzustand.

Legitimiert dies das Töten? Nie und nimmer und unter keinen Umständen. Und doch passiert es in Kriegen, Pandemien oder anderen Großkatastrophen in unerträglich großem Maß.

Was ist das?

Ich nenne es die Wahrheit der Wirklichkeit.

Eine, die nicht schon jeder so für sich selbst erfassen kann oder mag. Und im Tod so ganz ohne jeden lebensromantischen Touch eines geigenerfüllten Himmels in einem sogenannten Jenseits. Diesseits und Jenseits sind ähnlichem Irrtum unterworfen, wie Leben und Tod. Diesseits und Jenseits sind nur die Aspekte eines Allseits, das das Leben immer wieder neu feiert. In der Schule des ewigen Lernens mit dem Willen zur... Vergöttlichung?

Bleiben wir bescheiden und nennen es: Schule zur Vermenschlichung.

Denn bevor wir uns zum Göttersein erheben wollen, sollten wir das Mensch-Werden erlernen.

Wann ist der Mensch ein Mensch, wie ihn die Schöpfung gedacht hat?

Ein jeder kann dies nur auf seinem Level von Bewusstsein für sich selbst formulieren. Ich definiere es für mich so: Der Mensch ist erst dann ein Mensch, wenn er seine Aufgabe gemeistert hat: Die Rückkehr zur Quelle, dem Göttlichen. Dafür muss er sich über die Freiheit und die Liebe qualifizieren. Muss Herr seiner selbst werden und seine Ressourcen und Möglichkeiten so nutzen, dass sie den Quell des Lebens speisen und feiern. Und das alles in einem endlos langen Prozess von Versuch und Irrtum. Von immer wieder der Erfahrung von Leben und Tod... solange, bis dem Tod die Grundlage für das Sein abhanden kommt.

Ein jeder steht an einer anderen Stelle in diesem Prozess. Putin hier, Selenskyj dort. Du hier, ich dort. Aber auch dort und hier. Jeder gemäß seinem Vermögen und Unvermögen und gemäß seiner individuellen Aufgabe.

Wir alle sind Zerstörer und Bewahrer. Dieser Prozess findet im Großen wie im Kleinen statt. In unserem Innen und auf der globalen Bühne der ganzen Welt. Die Stellvertreter im Außen haben Namen, unsere Stellvertreter im Inneren kennen wir oft noch nicht, obschon sie uns doch so viel näher sind und uns und unser eigenes Handeln bestimmen. Auch das gehört zur eigenen Blindheit im Werdeprozess unseres Seins.

Ein ewiger Kampf der Gegensätze? Nein. Nur ein vorübergehender Kampf, solange Polarität Nahrung bekommt. Kein ewiger Kampf, aber nach unseren Maßstäben ein endlos langer Kampf. Und in jeden dieser Kämpfe sind wir geheimnisvoll mit verwickelt. Ob wir es wollen oder nicht. Ein Kampf im Innern, den wir im Außen als Krieg erleben und bitter erleiden.

Befrieden können wir das Außen letztlich nur im Inneren. Ist dort der Frieden angekommen, hat er im Außen keine Chance mehr. Doch das dauert noch lange Zeiten, weil wir die Gesetze der Hermeneutik noch nicht anwenden können. Wir verstehen sie, aber wir folgen ihnen noch nicht. Das überfordert uns noch alle.

Und dennoch ist es so: Tun wir als Menschheit einmal diesen entscheidenden Schritt, dann hat kein Krieg im Außen auch nur die geringste Chance.

Doch bis dahin zieht das Unmenschliche des Menschen weiter seine blutige Spur durch die Geschichte.

Nachsatz: Helfen solche Betrachtungen den Menschen jetzt aktuell in diesem mörderischen Konflikt? Nein, für sie braucht es jetzt vor allem die tätige Hand der Menschlichkeit. Sind solche Betrachtungen deshalb verzichtbar? Nein, denn sie dienen der Vorbereitung für weiteres Nachsinnen über die geheimnisvollen Zusammenhänge unserer Eingebundenheit zwischen Leben und Tod.

— 25. März 2022
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